Christi Gleichnisse

Kapitel 15

"Dieser nimmt die Sünder an"

[AUDIO]

Auf der Grundlage von Lukas 15,1-10.

Als die "Zöllner und Sünder" sich um Christum versammelten, drückten die Rabbiner ihr Mißfallen aus. "Dieser nimmt die Sünder an", sagten sie, "und isset mit ihnen."

Durch diese Beschuldigung deuteten sie an, daß Christus gern mit den Sündhaften und Gemeinen verkehre und ihre Gottlosigkeit ihm kein Anstoß sei. Die Rabbiner waren enttäuscht. Wie kam es, daß jemand, der einen so hohen Charakter bekundete, nicht mit ihnen verkehrte und ihre Lehrmethoden nicht befolgte? Warum ging er so anspruchslos umher und wirkte unter allen Klassen? Wenn er ein wahrer Prophet wäre, sagten sie, so würde er im Einklang mit ihnen sein und die Zöllner und Sünder mit Gleichgültigkeit behandeln, wie sie es verdienten. Es ärgerte diese Hüter der menschlichen Gesellschaft, daß er, mit dem sie beständig Streitfragen hatten, dessen lauterer Lebenswandel sie aber verdammte, mit dem Auswurf der Menschheit anscheinend so teilnehmend verkehrte. Sie billigten seine Methoden durchaus nicht. Sie hielten sich für gebildet, feinfühlend und außerordentlich religiös, aber das Beispiel Christi legte ihre Selbstsucht bloß.

Es ärgerte sie auch, daß die, welche den Rabbinern nur Verachtung bezeigten und nie in den Synagogen gesehen wurden, sich um Jesum scharten und seinen Worten mit solcher Aufmerksamkeit lauschten. Die Schriftgelehrten und Pharisäer fühlten sich in der Gegenwart dieses Reinen und Edlen verdammt; wie kam es denn aber, daß die Zöllner und Sünder sich zu Jesu hingezogen fühlten?

Sie wußten es nicht, daß die Erklärung gerade in den Worten lag, die sie als Beschuldigung ausgesprochen hatten: "Dieser nimmt die Sünder an." Die Seelen, die zu Jesu kamen, empfanden in seiner Gegenwart, daß es selbst für sie noch Rettung aus dem Abgrund der Sünde gebe. Die Pharisäer hatten nur Hohn und Verachtung für sie; Christus aber begrüßte sie als Kinder Gottes, die zwar dem Vaterhause entfremdet, aber vom Vaterherzen nicht vergessen worden waren, desto ernster war sein Verlangen und desto größer seine Opferwilligkeit, sie zu retten.

Dies alles hätten die Lehrer Israels aus den heiligen Schriftenrollen lernen können, deren Bewahrer und Ausleger zu sein sie sich rühmten. Hatte nicht David -- David, der doch in eine Todsünde gefallen war -- geschrieben: "Ich bin wie ein verirret und verloren Schaf; suche deinen Knecht"? Psalm 119,176. Und hatte nicht Micha die Liebe Gottes für den Sünder offenbart, indem er sagte: "Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässet die Missetat den Übrigen seines Erbteils; der seinen Zorn nicht ewiglich behält, denn er ist barmherzig"? Micha 7,18.

Das verlorene Schaf

Christus erinnerte diesmal seine Zuhörer nicht an die Worte der Schrift. Er berief sich auf das Zeugnis ihrer eigenen Erfahrung. Das sich weithin ausdehnende Tafelland östlich vom Jordan bot reichliche Weide für die Herden dar und manches von der Herde entlaufene Schaf hatte sich in den Schluchten und auf den bewaldeten Hügeln verirrt und mußte dann vom Hirten gesucht und zurückgebracht werden. Unter der Schar, die Jesum umgab, waren Hirten und auch Männer, die ihr Geld in Schaf- und Viehherden angelegt hatten, und sie alle konnten das von ihm benutzte Bild gut verstehen. "Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat, und so er der eines verlieret, der nicht lasse die neunundneunzig in der Wüste und hingehe nach dem verlornen, bis daß er's finde?"

Diese Seelen, die ihr verachtet, sagte Jesus, sind das Eigentum Gottes. Sie gehören ihm durch die Schöpfung und durch die Erlösung und sind in seinen Augen von großem Wert. Wie der Hirte seine Schafe liebt und nicht ruhen kann, wenn ihm auch nur eines fehlt, so liebt Gott, in einem noch viel höheren Grade, eine jede verlorene Seele. Menschen mögen die Ansprüche seiner Liebe in Abrede stellen, mögen ihn verlassen und einen anderen Herrn gewählt haben; aber sie gehören dennoch Gott, und er sehnt sich darnach, sein Eigentum wiederzuerlangen. Er sagt: "Wie ein Hirte seine Schafe suchet, wenn sie von seiner Herde verirret sind, also will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Örtern, dahin sie zerstreut waren zur Zeit, da es trüb und finster war." Hesekiel 34,12.

Im Gleichnis geht der Hirte aus, um nach einem Schaf zu suchen -- die geringste Anzahl, die überhaupt in Betracht kommen kann. Wenn es also nur eine verlorene Seele gegeben hätte, so würde Christus für diese eine Seele gestorben sein.

Das von der Herde verirrte Schaf ist das hilfloseste aller Geschöpfe. Es muß von dem Hirten gesucht werden, denn es kann seinen Weg nicht allein zur Herde zurück finden. So ist es auch mit der Seele, die von Gott fortgegangen ist; sie ist so hilflos wie das verlorene Schaf, und wenn die göttliche Liebe ihr nicht nachginge, um sie zu retten, so könnte sie niemals ihren Weg zu Gott wieder finden.

Der Hirte, wenn er bemerkt, daß eins seiner Schafe fehlt, blickt nicht gleichgültig auf die Herde, die sicher in der Hürde ist und sagt: Ich habe neunundneunzig und es macht mir zu viel Mühe, das eine verirrte Schaf zu suchen. Wenn es zurückkommt, werde ich die Tür der Schafhürde öffnen und es hereinlassen. Nein, sobald er entdeckt, daß ein Schaf fehlt, erfüllt ihn Kummer und Besorgnis. Er zählt die Herde, zählt sie abermals, und wenn er sicher ist, daß wirklich ein Schaf verloren ist, dann ruht er nicht. Er läßt die neunundneunzig in der Hürde und geht hinaus, um das verirrte Schaf zu suchen. Je dunkler und stürmischer die Nacht und je gefährlicher der Weg ist, desto größer ist seine Besorgnis und desto ernstlicher sucht er. Er macht die äußersten Anstrengungen, um das eine verlorne Schaf zu finden.

Welche Erleichterung gewährt es ihm, wenn er in der Ferne die ersten schwachen Hilferufe desselben vernimmt! Dem Klange folgend erklettert er die steilsten Höhen, geht unter Gefahr seines eigenen Lebens bis an den Rand des Abgrunds. In dieser Weise sucht er, während das immer schwächer werdende Blöken ihm sagt, daß sein Schaf dem Tode nahe ist. Endlich werden seine Bemühungen belohnt; das verlorene Schaf ist gefunden. Nun schilt er dasselbe nicht, weil es ihm so viel Mühe verursacht hat, er treibt es nicht mit der Peitsche vor sich her, er versucht nicht einmal, es nach Hause zu leiten. In seiner Freude nimmt er das zitternde Geschöpf auf seine Schultern; wenn es zerschlagen und verwundet ist, nimmt er es in seine Arme und drückt es an seine Brust, damit die Wärme seines eigenen Herzens ihm wohltun möchte. Mit innigem Dank, daß sein Suchen nicht vergeblich gewesen ist, trägt er es zur Herde zurück.

Gott sei Dank, daß Jesus unseren Augen kein Bild vorführte von einem ohne das Schaf zurückkehrenden, kummererfüllten Hirten. Das Gleichnis spricht nicht von einem Mißlingen, sondern von Erfolg und großer Freude über die Wiedererlangung des Verlorenen. Darin liegt für uns die göttliche Versicherung, daß nicht eins der verirrten Schafe aus der Hürde Gottes übersehen, nicht eins ohne Hilfe gelassen wird. Einen jeden, der sich erlösen lassen will aus dem Abgrund der Verderbnis und von den Dornen der Sünde, wird Christus erretten.

Verzweifelnde Seele, fasse Mut, obgleich du gottlos gehandelt hast. Denke nicht, daß Gott deine Übertretungen vielleicht vergeben und dir erlauben wird, in seine Gegenwart zu kommen. Gott hat den ersten Schritt getan. Während du in Empörung gegen ihn warst, ging er hinaus, um dich zu suchen. Mit dem liebenden Herzen des Hirten ließ er die neunundneunzig und ging in die Wüste, um zu suchen, was verloren war. Er umfaßt die zerschlagene und verwundete, dem Umkommen nahe Seele mit seinen Liebesarmen und trägt sie mit Freuden in die sichere Hürde.

Die Juden lehrten, daß ein Sünder erst Buße tun müsse, ehe ihm die Liebe Gottes angeboten werde. Nach ihrer Ansicht war die Buße ein Werk, durch welches die Menschen sich die Gunst Gottes verdienten. Dieser Gedanke war es auch, der die Pharisäer veranlaßte, erstaunt und ärgerlich auszurufen: "Dieser nimmt die Sünder an!" Nach ihren Ansichten sollte er nur denen erlauben, sich ihm zu nahen, die Buße getan hatten. Aber im Gleichnis vom verlornen Schaf lehrt Christus, daß das Heil nicht dadurch erlangt wird, daß wir Gott suchen, sondern dadurch, daß Gott uns sucht. "Da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der nach Gott frage; sie sind alle abgewichen." Römer 3,11.12. Wir tun nicht Buße, damit Gott uns lieben möge, sondern er offenbart uns seine Liebe, damit wir Buße tun möchten.

Wenn das verirrte Schaf endlich heimgebracht ist, dann findet des Hirten Dankbarkeit Ausdruck in melodischen Freudengesängen. Er ruft seine Freunde und Nachbarn und spricht zu ihnen: "Freuet euch mit mir, denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war." So vereinigen sich auch, wenn ein verlorner Sünder vom großen Hirten der Schafe gefunden wird, Himmel und Erde in Danksagungen und Freudenbezeugungen.

"Also wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, vor neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen." Ihr Pharisäer, sagte Christus, betrachtet euch als Günstlinge des Himmels. Ihr glaubt euch sicher in eurer eigenen Gerechtigkeit. Wisset aber, daß, wenn ihr der Buße nicht bedürft, meine Mission nicht für euch ist. Diese armen Seelen, die ihre Armut und Sündhaftigkeit fühlen, sind gerade die, zu deren Rettung ich gekommen bin. Die Engel des Himmels nehmen Anteil an den Verlornen, die ihr verachtet. Ihr murrt und spöttelt, wenn eine dieser Seelen zu mir kommt, wisset aber, daß die Engel sich freuen und daß in den Himmelshallen dort droben Triumphlieder erschallen.

Die Rabbiner hatten die Behauptung aufgestellt, daß Freude im Himmel sei, wenn jemand, der gegen Gott gesündigt hat, vernichtet werde; Jesus aber lehrte, daß das Zerstören ein unserem Gott fremdes Werk ist. Worüber der ganze Himmel sich freut, ist, wenn das Ebenbild Gottes in den von ihm geschaffenen Seelen wieder hergestellt wird.

Wenn jemand, der lange Zeit ein Sündenleben geführt hat, sich wieder zu Gott wenden will, dann ist er dem Mißtrauen und Kritisieren ausgesetzt. Einige bezweifeln, daß seine Buße echt ist. Andere flüstern sich zu: Der hat keine Standhaftigkeit; ich glaube nicht, daß er aushalten wird. Solche Personen tun nicht das Werk Gottes, sondern das Werk Satans, welcher der Verkläger der Brüder ist. Durch das Kritisieren hofft der Böse, jene Seele zu entmutigen, ihr alle Hoffnung zu nehmen und sie noch weiter von Gott fortzutreiben. Möchte der bußfertige Sünder doch an die Freude denken, die im Himmel ist über die Rückkehr des einen, der verloren war! Möchte er doch ruhen in der Liebe Gottes und sich nicht entmutigen lassen durch das Mißtrauen und den Argwohn der Pharisäer.

Die Rabbiner begriffen es, daß das Gleichnis Christi auf die Zöllner und Sünder Anwendung fand, aber es hatte noch eine weitere Bedeutung. Durch das verlorene Schaf stellte Christus nicht nur den einzelnen Sünder dar, sondern auch die eine Welt, die abgefallen und durch die Sünde verdorben worden ist. Diese Welt ist nur ein winziges Teilchen des großen Weltalls, über welches unser Gott herrscht; dennoch ist diese gefallene kleine Welt -- das eine verlorene Schaf -- in seinen Augen köstlicher geachtet, als die neunundneunzig, die sich nicht von der Hürde verirrt haben. Christus, der geliebte Befehlshaber in den himmlischen Höfen, stieg von seiner hohen Stellung herunter, legte die Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte, beiseite, um die eine verlorene Welt zu retten. Er verließ die sündenlosen Welten in der Höhe, die neunundneunzig, die ihn liebten, und kam auf diese Erde, um hier "um unserer Missetat willen verwundet, und um unserer Sünde willen zerschlagen" (Jesaja 53,5) zu werden. Gott gab sich selbst in seinem Sohne, damit er die Freude haben möchte, das Schaf, welches verloren war, zurück zu erhalten.

"Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir Gottes Kinder sollen heißen." Und Christus sagt: "Gleichwie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt" -- um zu erstatten, "was noch mangelt an Trübsalen in Christo, für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde." 1.Johannes 1,3. Eine jede Seele, die Christus gerettet hat, ist berufen, in seinem Namen zur Rettung der Verlorenen zu wirken. Dies Werk war in Israel vernachlässigt worden. Wird es nicht auch heute vernachlässigt von denen, die da bekennen, Christi Nachfolger zu sein?

Wie viele der Verirrten hast du, lieber Leser, gesucht und zur Hürde zurückgebracht? Erkennst du, daß du, wenn du dich von solchen abwendest, die nichts Anziehendes haben und nicht viel zu versprechen scheinen, Seelen vernachlässigst, nach welchen Christus sucht? Gerade dann, wenn du dich von ihnen abwendest, mögen sie deines Mitleids am allerbedürftigsten sein. In jeder gottesdienstlichen Versammlung sind Seelen, die nach Ruhe und Frieden verlangen. Es mag den Anschein haben, als ob sie unbekümmert dahinleben, aber sie sind abgestumpft gegen den Einfluß des Heiligen Geistes. Viele von ihnen könnten für Christum gewonnen werden.

Wenn das verlorene Schaf nicht zur Hürde zurückgebracht wird, so irrt es umher, bis es umkommt. So gehen auch viele Seelen ins Verderben, weil sich ihnen keine Hand entgegenstreckt, um sie zu retten. Diese Irrenden mögen verhärtet und gleichgültig zu sein scheinen, wenn sie aber dieselben Vorteile genossen hätten, die andere gehabt haben, so hätten sie vielleicht viel edlere Charakterzüge und größere Gaben zum Nützlichsein offenbart. Engel bemitleiden diese Irrenden. Engel weinen, während menschliche Augen trocken sind und menschliche Herzen sich dem Mitleid verschließen.

O, welch ein Mangel an tiefem, die Seele berührendem Mitleid ist da! O, daß mehr vom Geiste Christi und weniger, viel weniger vom eigenen Ich da wäre!

Die Pharisäer faßten das Gleichnis Christi als eine auf sie gemünzte Strafpredigt auf. Anstatt ihre Kritik über sein Tun und Treiben anzunehmen, hatte er ihre Vernachlässigung der Zöllner und Sünder getadelt. Er hatte dies nicht öffentlich getan, damit ihre Herzen gegen ihn nicht verschlossen würden, aber er veranschaulichte ihnen gerade dadurch das Werk, welches Gott von ihnen forderte und welches sie zu tun unterlassen hatten. Wären diese Leiter in Israel wahre Hirten gewesen, dann hätten sie das Amt eines Hirten treu verrichtet. Sie hätten die Barmherzigkeit und Liebe Christi bekundet und sich mit ihm in seiner Mission vereinigt. Ihre Weigerung, dies zu tun, hatte ihre Ansprüche auf Frömmigkeit als falsch erwiesen. Viele verwarfen den von Christo ausgesprochenen Tadel, doch einige wurden durch seine Worte überzeugt. Auf diese kam nach der Himmelfahrt Christi der Heilige Geist, und sie verbanden sich mit seinen Jüngern gerade in dem Werke, welches durch das Gleichnis vom verlorenen Schaf vorgeführt wurde.

Der verlorene Groschen

Nachdem Christus das Gleichnis vom verlorenen Schaf gegeben hatte, gab er noch ein anderes. Er sagte: "Welch Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der einen verliert, die nicht ein Licht anzünde, und kehre das Haus, und suche mit Fleiß, bis daß sie ihn finde?"

Im Orient hatten die Häuser der Armen gewöhnlich nur ein Zimmer und dieses war oft ohne Fenster und daher dunkel. Das Zimmer wurde nur selten gekehrt, und ein auf den Boden fallendes Geldstück wurde leicht durch den Staub und Unrat verdeckt. Um es zu finden, mußte selbst zur Tageszeit ein Licht angezündet und das Haus gründlich gekehrt werden.

Das Heiratsgut der Frau bestand gewöhnlich aus Geldstücken, die sie sorgfältig als ihren größten Schatz bewahrte, um ihn ihren Töchtern zu vererben. Der Verlust eines dieser Geldstücke wurde als ein ernstliches Unglück betrachtet, und das Wiederfinden desselben war die Ursache großer Freude, an welcher die Nachbarsfrauen sich gern beteiligten.

"Und wenn sie ihn gefunden hat," sagte Christus, "rufet sie ihren Freundinnen und Nachbarinnen, und spricht: Freuet euch mit mir, denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren hatte. Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut."

Dieses Gleichnis gleich dem vorhergehenden, beschreibt den Verlust von etwas, das durch fleißiges Suchen wieder erlangt werden kann und dann große Freude verursacht. Aber die zwei Gleichnisse stellen zwei verschiedene Klassen dar. Das verlorene Schaf weiß, daß es verloren ist. Es hat die Herde verlassen und kann sich nicht selber retten. Es stellt diejenigen dar, welche erkennen, daß sie von Gott getrennt und von Schwierigkeiten, Demütigungen und schweren Versuchungen umgeben sind. Der verlorene Groschen dagegen stellt solche dar, die in Missetaten und Sünden tot und sich ihres Zustandes nicht bewußt sind. Sie sind von Gott entfremdet, aber sie wissen es nicht. Ihre Seelen sind in Gefahr, aber sie sind sich dessen nicht bewußt und daher ganz unbekümmert. In diesem Gleichnis lehrt Christus, daß Gott selbst solche, die sich gleichgültig gegen seine Ansprüche verhalten, bemitleidet und liebt. Man sollte sie aufsuchen, damit sie zu Gott zurückgebracht werden könnten.

Das Schaf lief von der Hürde fort, es verirrte sich in der Wüste oder auf den Bergen. Der Groschen ging im Hause verloren. Er war ganz in der Nähe, konnte aber dennoch nur durch fleißiges Suchen gefunden werden.

In dem Gleichnis liegt eine Lehre für Familien. Oft herrscht in einem Haushalt große Gleichgültigkeit mit Bezug auf das Seelenheil der verschiedenen Familienglieder. Es mag unter ihrer Zahl eins sein, das Gott entfremdet ist, und doch wie wenig Besorgnis wird in der Familie gehegt, damit nicht eins der ihr von Gott Anvertrauten verloren gehe.

Der Groschen, selbst wenn er unter Staub und Unrat liegt, ist immer noch ein Stück Silber. Sein Eigentümer sucht ihn seines Wertes wegen. So ist auch eine jede Seele, gleichviel wie entartet sie durch die Sünde auch sein mag, in den Augen Gottes köstlich erachtet. Wie der Groschen das Bild und die Inschrift der regierenden Macht trägt, so trug der Mensch, als er geschaffen wurde, das Bild und die Inschrift Gottes; und obgleich die Seele jetzt durch den Einfluß der Sünde entstellt und unkenntlich geworden ist, sind dennoch die Spuren dieser Inschrift bei jeder einzelnen vorhanden. Gott wünscht diese Seele zu erretten und ihr sein eigenes Ebenbild in Gerechtigkeit und Heiligkeit neu aufzuprägen.

Das Weib im Gleichnis sucht fleißig nach dem verlorenen Groschen. Sie zündet das Licht an und kehrt das Haus. Sie entfernt alles, was ihr beim Suchen hinderlich ist. Obgleich nur ein Groschen verloren ist, will sie doch ihre Anstrengungen nicht aufgeben, bis sie denselben gefunden hat. So sollen auch in der Familie, wenn ein Glied sich von Gott abgewandt hat, alle nur möglichen Mittel angewandt werden, um es wieder zurückzubringen. Alle anderen sollten eine ernste, sorgfältige Selbstprüfung vornehmen, ihre Lebensgewohnheiten untersuchen, und forschen, ob nicht irgend ein Fehler, ein Irrtum in denselben begangen ist, wodurch jene Seele in ihrer Unbußfertigkeit gestärkt wurde.

Wenn in der Familie ein Kind ist, welches sich seines sündigen Zustandes nicht bewußt ist, so sollten die Eltern nicht ruhen. Zündet das Licht an! Durchforscht das Wort Gottes und laßt im Lichte desselbigen alles, was im Hause ist, aufs fleißigste durchsucht werden, um zu sehen, warum dies Kind verloren geht. Eltern sollten ihre eigenen Herzen erforschen und ihre Gewohnheiten und Gebräuche einer genauen Prüfung unterziehen. Kinder sind das Erbteil des Herrn, und wir müssen ihm Rechenschaft darüber ablegen, wie wir sein Eigentum verwalten.

Es gibt Väter und Mütter, die darnach verlangen, in irgend einem auswärtigen Missionsfelde zu wirken; es gibt viele die außerhalb der Familie in christlichen Werken tätig sind, während ihre eigenen Kinder den Heiland und seine Liebe nicht kennen. Viele Eltern überlassen es dem Prediger oder Sabbatschullehrer, ihre Kinder für Christum zu gewinnen; aber indem sie das tun, vernachlässigen sie das ihnen von Gott auferlegte Amt. Die Erziehung und Heranbildung der Kinder zu Christen ist der höchste Dienst, den Eltern Gott leisten können. Es ist eine Aufgabe, welche geduldiges Wirken und lebenslängliches, fleißiges und andauerndes Streben erfordert. Durch Vernachlässigung dieser uns anvertrauten Aufgabe erweisen wir uns als ungetreue Haushalter, und Gott wird keine Entschuldigung für solche Vernachlässigung annehmen.

Doch brauchen die, welche sich eine Vernachlässigung dieser Art haben zu schulden kommen lassen, nicht zu verzweifeln. Das Weib, dessen Groschen verloren war, suchte bis es ihn fand. So sollen auch die Eltern in Liebe, Glauben und Gebet für ihre Familien wirken, bis sie mit Freuden vor Gott kommen und sagen können: "Siehe, hier bin ich und die Kinder, die mir der Herr gegeben hat." Jesaja 8,18.

Dies ist wahre Missionsarbeit im Familienkreise, und sie nützt denen, die sie tun, gerade soviel, als denen, für die sie geschieht. Durch treues Wirken im Familienkreise werden wir geschickt, für die Glieder der Familie Gottes zu wirken, mit denen wir, wenn wir Christo treu bleiben, die ganze Ewigkeit hindurch zusammen leben werden. Wir sollen für unsere Brüder und Schwestern in Christo dieselbe Teilnahme zeigen, wie wir als Glieder einer Familie für einander haben.

Es ist der Plan Gottes, daß dies alles uns geschickt machen soll, für andere zu wirken. Indem unser Mitgefühl für andere wächst und unsere Liebe zunimmt, werden wir überall ein Werk zu tun finden. Gottes große menschliche Familie umfaßt die ganze Welt und keins ihrer Glieder soll vernachlässigt oder übergangen werden.

Wo wir auch sein mögen, überall wartet der verlorene Groschen unseres Suchens. Suchen wir nach ihm? Tag für Tag treffen wir mit Menschen zusammen, die keinen Anteil an religiösen Dingen nehmen; wir sprechen mit ihnen, wir besuchen sie, zeigen wir aber ein Interesse an ihrem geistlichen Wohlergehen? Führen wir ihnen Christum als einen sündenvergebenden Heiland vor Augen? Erzählen wir ihnen von der Liebe Christi, indem unsere eigenen Herzen von dieser Liebe brennen? Wenn wir das nicht tun, wie sollen wir dann diesen Seelen -- verloren, auf ewig verloren -- entgegentreten, wenn wir mit ihnen vor dem Throne Gottes stehen?

Wer kann den Wert einer Seele schätzen? Wenn du den Wert derselben erkennen willst, dann gehe nach Gethsemane und wache dort mit Christo in jenen Stunden des bitteren Seelenkampfes, da sein Schweiß wie große Blutstropfen floß. Blicke auf den am Kreuze erhöhten Heiland. Höre den Ruf der Verzweiflung: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Markus 15,34. Blicke auf das verwundete Haupt, die durchstochene Seite, die durchbohrten Füße. Bedenke, daß Christus alles daran setzte! Um unserer Erlösung willen wurde selbst der Himmel gefährdet. Wenn du am Fuße des Kreuzes bedenkst, daß Christus für nur einen Sünder sein Leben dahingegeben haben würde, dann kannst du den Wert einer Seele schätzen.

Wenn du mit Christo in Verbindung stehst, wirst du ein jedes menschliche Wesen so schätzen, wie er es schätzt. Du wirst dieselbe tiefe Liebe für andere empfinden, die Christus für dich fühlte. Dann wirst du imstande sein, Seelen, für die er starb, zu gewinnen und nicht zu vertreiben, sie anzuziehen und nicht abzustoßen. Niemand wäre jemals zu Gott zurückgebracht worden, wenn Christus sich nicht persönlich um ihn bemüht hätte, und es ist wiederum durch persönliche Arbeit, daß wir Seelen retten können. Wenn du Menschen siehst, die dem Tode entgegengehen, wirst du nicht in Ruhe und Gleichgültigkeit müßig zusehen. Je größer ihre Sünde und je tiefer ihr Elend, desto ernster und liebevoller werden deine Bemühungen zu ihrer Rettung sein. Du wirst die Bedürfnisse derer, die da leiden, die gegen Gott gesündigt haben und von dem Gewicht ihrer Sündenschuld niedergedrückt sind, erkennen. Du wirst herzliches Mitleid mit ihnen haben und wirst ihnen eine hilfreiche Hand entgegenstrecken. In den Armen deines Glaubens und deiner Liebe wirst du sie zu Christo bringen; dann wirst du über sie wachen und sie ermutigen und dein Mitgefühl und Vertrauen werden sie stärken, daß sie nicht wieder zurückfallen.

Alle Engel im Himmel stehen bereit, in dieser Arbeit mitzuwirken. Alle Hilfsquellen des Himmels stehen denen zu Gebote, welche die Verlorenen zu retten versuchen. Engel werden uns helfen, die Gleichgültigsten und Verhärtetsten zu erreichen und wenn eine Seele zu Gott zurückgebracht wird, dann freut sich der ganze Himmel. Seraphim und Cherubim greifen in ihre goldenen Harfen und bringen Gott und dem Lamme Loblieder dar für ihre, den Menschenkindern erwiesene Liebe und Gnade.