Erziehung

Kapitel 9

Jesu Art zu lehren

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"Ich habe den Menschen gezeigt, wer du bist, und zwar allen, die du aus der Welt herausgerufen und mir anvertraut hast." Johannes 17,6.

An der Art und Weise, wie Jesus seine Freunde, die zum engsten Jüngerkreis gehörten, auf ihren Dienst vorbereitete, lassen sich seine Lehrmethoden am besten erkennen.

Diese Männer sollten einmal sein Werk weiterführen, wenn er die Erde wieder verlassen mußte. Deshalb hatte er sie persönlich ausgesucht und in den Kreis der Zwölf gerufen. Ihnen wurde die Gnade des ständigen Zusammenlebens mit ihm zuteil. Das schuf eine Nähe und Vertrautheit, die alles übertraf, was andere mit Jesus je erlebten. Zweifellos war diese enge Gemeinschaft mit Christus das am stärksten prägende Element im Leben der Jünger. Jahrzehnte später schreibt der Jünger Johannes über dieses Schlüsselerlebnis: "Christus war von Anfang an da. Jetzt aber haben wir ihn selbst gehört. Wir haben ihn mit unseren eigenen Augen gesehen und mit unseren Händen berühren können, ihn, der uns die Botschaft vom Leben brachte. Ja, Christus selbst ist das Leben. Das haben wir gesehen, und das können wir bezeugen."1

Erziehung, wie Gott sie will und sein Wort sie beschreibt, soll genau so sein, wie Johannes sie hier schildert: sie soll unser irdisches Leben mit Gottes himmlischer Welt in Verbindung bringen. Nur so können uns das Leben und die Kraft zufließen, die Gott uns zugedacht hat.

Im Umgang mit seinen Jüngern bediente sich Jesus derselben Lehrmethode, die er am Anfang der Menschheitsgeschichte eingeführt hatte. Er machte den Kreis der Zwölf zu seiner Familie. Zeitweise kamen auch noch andere Personen hinzu, aber im wesentlichen bestand diese Familie aus Jesus und seinen zwölf Jüngern. Wo Jesus sich aufhielt, da waren auch sie. Sie teilten Nahrung und Unterkunft miteinander, aber auch die Unbequemlichkeit häufigen Unterwegsseins, die Mühen des täglichen Lebens -- kurz: Freud und Leid.

Manchmal unterrichtete Jesus sie während einer Rast am Berghang oder von einem Fischerboot aus, oft auch während sie von einem Ort zum anderen wanderten. Wenn er zu vielen Menschen sprach, bildeten die Zwölf stets den inneren Zuhörerkreis. Und das nicht nur, um den Meister vor Zudringlichkeiten zu schützen, sondern weil sie keins seiner Worte verpassen wollten. Sie sollten die von ihm verkündigten Wahrheiten verstehen und tief in sich aufnehmen, um sie später an andere weitergeben zu können.

Die ersten Jünger Jesu stammten aus dem einfachen Volk. Es waren Fischer aus Galiläa, schlichte und ungelehrte Leute, die sich nicht mit den Theologen und Lehrern Israels messen konnten. Aber sie verfügten über Eigenschaften, die Jesus offenbar aller Gelehrsamkeit vorzog. Sie hatten durch ihre schwere Arbeit Ausdauer und Fleiß gelernt, waren noch unverbraucht, interessiert und lernbereit. Junge Männer also, die genau das mitbrachten, was Christus für sein Werk brauchte.

Das läßt sich übrigens häufig beobachten, daß Menschen ihren gewohnten Pflichten nachgehen, ohne zu ahnen, welche Talente noch ungenutzt in ihnen schlummern. Würde sie jemand entdecken und fördern, könnten solche Leute Großes leisten und in höchste Positionen aufsteigen. Jesu Jünger hatten Glück, sie wurden "entdeckt" und von einem Lehrer ausgebildet, wie es keinen zweiten gab.

Interessant ist, daß Jesus seine Jünger nicht nach einem allgemeingültigen Schema aussuchte, sondern bedürfnisorientiert. Zum Teil waren sie vom Wesen und ihrer Art her nicht nur unterschiedlich, sondern geradezu gegensätzlich. Das war gewiß kein Zufall, sondern ergab sich aus ihrem Auftrag. Sie sollten einmal die religiösen Lehrer einer Welt werden, in der es ebenfalls höchst unterschiedliche Menschentypen gab.

Schauen wir uns nur einmal an, was das für Charaktere waren, die Jesus zu Jüngern berufen hatte.

Da war Levi Matthäus, der Zöllner, ein geschäftstüchtiger "Beamter" im Dienste Roms, der mit Geld umgehen konnte; oder der traditionsbewußte Simon, der es mit dem Glauben sehr genau nahm, zugleich aber ein erbitterter Feind der Römer war; oder der ungestüme, selbstgefällige, andererseits aber auch warmherzige Petrus; merkwürdigerweise auch Judas Iskariot, ein sehr fähiger, gut ausgebildeter Mann von leider sehr zwiespältigem Charakter; oder Philippus und Thomas, treu und zuverlässig, aber nicht ganz leicht von einer Sache zu überzeugen; oder Nathanael, der den Jüngerkreis durch sein kindliches Vertrauen und seine Aufrichtigkeit bereicherte; nicht zu vergessen Jakobus und Johannes, die heißblütigen und ehrgeizigen Söhne des Zebedäus.

Die hier nicht erwähnten Jünger waren gewiß nicht weniger brauchbar als die anderen, nur können wir uns über ihre Wesensart und ihre Vorzüge kein Bild machen, weil die Heilige Schrift lediglich ihren Namen nennt.

So wichtig die unterschiedliche Wesensart, Begabung und Ausbildung der Jünger auch sein mochte, ihren Auftrag konnten sie nur erfüllen, wenn sie zu einer geistlichen Einheit gelangten und sich auf eine gemeinsame missionarische Zielstellung einigten.

Jesus tat alles, um das in der ihm zur Verfügung stehenden kurzen Zeit zu erreichen. Die wichtigste Voraussetzung dafür war das Einswerden der Jünger mit Christus. Jesus hatte in dieser Hinsicht präzise Vorstellungen, über die er auch immer wieder mit Gott sprach.

Eine der bewegendsten Stellen findet sich im sogenannten hohenpriesterlichen Gebet: "Sie alle sollen eins sein, genauso wie du, Vater, mit mir eins bist. So wie du in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns fest miteinander verbunden sein. Dann werden sie die Welt überzeugen, daß du mich gesandt hast [...] Sie bleiben in mir und ich in dir: So sind wir vollständig eins. Und die Welt wird erkennen, daß du es bist, der mich gesandt hat, und daß du meine Jünger liebst, wie du mich liebst."1

Die umwandelnde Kraft Christi

Vier aus der Gruppe der Zwölf sollten sich durch ihr Schicksal oder Tun aus dem Jüngerkreis herausheben -- sowohl in positiver Hinsicht als auch auf tragische Weise. Jesus wußte das im Voraus und bereitete sie und die anderen Jünger darauf vor.

Jakobus war ein früher Märtyrertod bestimmt; Johannes dagegen sollte Christus trotz schwerer Verfolgungen länger dienen als alle anderen; Petrus war dafür ausersehen, im Blick auf die Verkündigung der Christusbotschaft unter den Heidenvölkern Vorurteile zu durchbrechen; Judas Iskariot, von seinen natürlichen Anlagen her der Fähigste der Zwölf, sollte durch seinen Verrat an Jesus zur tragischen Figur des Jüngerkreises werden. Um diese vier kümmerte sich Jesus besonders intensiv und liebevoll.

Petrus, Jakobus und Johannes nutzten jede Gelegenheit, um Jesus nahe zu sein, und der Herr ging auch oft auf dieses Bedürfnis ein. Die engste Beziehung zu Christus hatte zweifellos Johannes. Diese Entwicklung hatte sich schon ganz am Anfang abgezeichnet. Gemeinsam mit Andreas, dem Bruder des Petrus, begegnete er Jesus am Jordan. Eigentlich waren die beiden Anhänger von Johannes dem Täufer, doch als sie Jesus predigen hörten, schlossen sie sich ihm spontan an. Während Andreas sofort missionarisch tätig wurde und seinem Bruder Simon Petrus von der Begegnung erzählte, dachte Johannes in der Stille über das nach, was er gehört hatte. Das heißt allerdings nicht, daß er von sanfter, nachgiebiger Natur gewesen wäre. Er konnte sogar ziemlich unbeherrscht und aufbrausend sein, deshalb bezeichnete Jesus ihn und seinen Bruder Jakobus einmal als "Donnersöhne".

Johannes war stolz, ehrgeizig und angriffslustig, aber Jesus wußte, daß unter dieser rauhen Schale ein aufrichtiges, begeisterungsfähiges und liebendes Herz schlug. Christus rügte ihn wegen seiner Selbstsucht, enttäuschte seinen Ehrgeiz und prüfte seinen Glauben, aber er ließ ihn auch erleben, wonach er sich so sehr sehnte: die umwandelnde Liebe Gottes und die Schönheit eines geheiligten Wesens.

Johannes war ein geselliger Mensch, der sich nach Liebe und Wohlwollen sehnte. Er hielt sich immer möglichst nahe zu Jesus. Wie eine Blume Sonnenschein und Tau aufnimmt, so nahm er das göttliche Licht und Leben in sich auf. Er bewunderte und liebte den Erlöser so sehr, daß er sich nur noch eines wünschte: immer bei Christus zu sein und so zu werden wie er, damit in seinem Wesen Christus zu erkennen sei.

"Seht doch," sagte er, "wie sehr uns der Vater geliebt hat! Seine Liebe ist so groß, daß er uns seine Kinder nennt. Und wir sind es wirklich! Die Welt versteht uns nicht, weil sie Gott nicht kennt. Meine lieben Freunde, wir sind schon Kinder Gottes. Was wir einmal sein werden, ist jetzt noch nicht sichtbar. Aber wir wissen: wenn es sichtbar wird, werden wir Gott ähnlich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er wirklich ist. Jeder, der das voll Vertrauen von ihm erwartet, hält sich von allem Unrecht fern, so wie Christus es getan hat."1

Von der Schwachheit zur Kraft

Keine Lebensgeschichte aus dem Jüngerkreis veranschaulicht die Lehrmethoden Jesu so gut, wie die des Petrus.

Petrus war ein mutiger, selbstsicherer, manchmal auch streitsüchtiger junger Mann. Seine schnelle Auffassungsgabe und sein spontanes Handeln brachte ihn immer wieder in schwierige Lagen. Er machte viel falsch und wurde deshalb von Jesus mehrfach gerügt, war aber auch warmherzig genug, anderen ihre Fehler nachzusehen.

An Jesus hing er mit ganzer Hingabe. Der allerdings mußte viel Geduld mit ihm haben, denn es war nicht leicht, sein übersteigertes Selbstbewußtsein auf ein erträgliches Maß zurückzuschneiden und ihn Liebe, Demut, Gehorsam und Vertrauen zu lehren. Obwohl der Herr alles versuchte, war der Erfolg nur gering. Es schien so, als könne die Selbstüberschätzung des Jüngers durch nichts erschüttert werden.

Jesus wußte, was auf ihn und die Jünger in der Zukunft an Prüfungen und Leiden zukommen würde. Er versuchte auch immer wieder, mit seinen Jüngern darüber zu sprechen. Sie hörten ihm zwar zu, aber es gelang ihm nicht, ihnen dafür wirklich die Augen zu öffnen. Sie hatten andere Vorstellungen von der Zukunft als ihr Herr. Und weil das, was er voraussagte, nicht ihren Erwartungen entsprach, verdrängten sie es kurzerhand. Wie so oft, brachte Petrus auch hier sein Unbehagen spontan zum Ausdruck, sprach damit aber zugleich aus, was alle anderen auch dachten: "Um Himmels willen! So etwas darf dir nicht zustoßen!"1

So blieb es bis zuletzt. Anstatt sich innerlich auf die kommende Krise vorzubereiten, drängten sich die Jünger in den Vordergrund, stritten miteinander und schielten nach den Ämtern, die Jesus ihnen nach dem Tag X zweifellos antragen würde. An Leiden und Sterben wollten sie nicht denken, und für das Kreuz hatten sie keine Augen.

Die Erfahrungen, die Petrus später machen mußte, waren für alle eine Lehre.

Für jemanden, der so auf sich und seine Kraft vertraut, enden Prüfungen häufig in verheerenden Niederlagen. Und selbst Christus konnte die Folgen nicht verhindern, die Petrus am Ende durch seine Überheblichkeit und Selbstüberschätzung heraufbeschwor. Aber er wandte sich nicht von seinem Jünger ab. Schon einmal hatte der Herr die Hand ausgestreckt, um ihn vor dem Versinken zu bewahren. Damals war Petrus kurzerhand aus dem Boot gesprungen und lief Jesus auf dem Wasser entgegen, doch dabei zeigte sich, daß sein Vertrauen letztlich doch nicht ausreichte. Als er im Wasser zu versinken drohte, griff der Herr zu und hielt ihn fest.

In ähnlicher Weise ließ er Petrus auch weiterhin seine Liebe spüren, obwohl der ihn mehrfach verleugnet hatte. Wieder griff er zu, um ihn vor dem Versinken in Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen zu bewahren. Sein großsprecherisches Reden und unbedachtes Handeln hatte Petrus schon in manche schwierige Situation gebracht, aber so nahe wie diesmal war er dem endgültigen Absturz noch nie gewesen. Dabei war er nicht ungewarnt in diese Prüfung hineingeraten. Als Jesus davon sprach, daß ihn bald alle verlassen würden, war sich Petrus sicher: "Ich bin jederzeit bereit, mit dir ins Gefängnis zu gehen und sogar für dich zu sterben."1

Zweifellos waren diese Worte nicht geheuchelt, sondern kamen aus einem liebenden und besorgten Herzen, aber wie so häufig, hatte Petrus den Mund zu voll genommen und im Überschwang der Gefühle etwas versprochen, was er am Ende nicht halten konnte. Und Christus, der das Herz des Petrus kannte, hatte schon vorgebaut und seinem Jünger eine Zusage gemacht, die der zunächst nicht verstand, die aber später wie ein Lichtstrahl in das Dunkel des Versagens und der Schuld hineinfiel: "Simon, Simon! Der Satan ist hinter euch her, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber ich habe für dich gebetet, damit du den Glauben nicht verlierst. Wenn du dann zu mir zurückkehrst, so stärke den Glauben deiner Brüder!"2

Diese Zusage und der traurige, mitfühlende Blick, den Jesus ihm zuwarf, bewahrte Petrus vor dem Sturz ins Verderben. Als er in die Nacht hinauslief und vor Scham und Schuld bitterlich weinte, wurde ihm plötzlich klar, was sein Herr gemeint hatte, als er ihm zusagte: "Aber ich habe für dich gebetet ..." Das war es, was ihn vor der Verzweiflung bewahrte, in die er unweigerlich geraten wäre, hätte ihm der Blick Jesu statt Liebe und Vergebung Verurteilung signalisiert.

Gewiß, Christus wollte und konnte ihm diese bittere Lektion nicht ersparen, aber er ließ Petrus trotz allem nicht im Stich. Das war damals so und ist heute nicht anders.

Wir Menschen gehen miteinander meist nicht so verständnisvoll um. Im Gegenteil, häufig zeigt sich, daß ausgerechnet diejenigen, die selbst in Sünde geraten und der Vergebung bedürftig sind, sehr unbarmherzig mit anderen umgehen. Weil niemand von uns einem anderen ins Herz schauen kann -- wir also weder seine Beweggründe kennen, noch seine inneren Kämpfe --, sollten wir unseren Mitmenschen begegnen, wie Jesus es mit seinen Jüngern tat. Er scheute sich nicht, die Seinen deutlich auf ihre Schwächen und Sünden hinzuweisen, aber immer geschah das in Liebe. Wenn er Wunden schlug, dann nicht, um zu verletzen, sondern um zu heilen. Und wenn er von Schuld und Versagen sprach, dann ließ er zugleich auch immer einen Strahl Hoffnung aufleuchten.

Und seltsam genug: In der ersten Botschaft, die Jesus den Jüngern nach seiner Auferstehung zukommen läßt, wird Petrus ausdrücklich beim Namen genannt. Nicht Johannes, der Jesus bis in den Gerichtssaal gefolgt war, der zugegen war, als Jesus am Kreuz starb, und der sich als Erster aus dem Kreis der Zwölf am Grab davon überzeugte, daß der Herr wirklich auferstanden war -- nicht Johannes wurde erwähnt, sondern Petrus. Ein Engel hatte zu den Frauen, die Jesu Leichnam suchten gesagt: "Und nun geht zu seinen Jüngern und zu Petrus, und sagt ihnen, daß Jesus euch nach Galiläa vorausgehen wird. Dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch versprochen hat."1

Bei der letzten Zusammenkunft vor seiner Himmelfahrt ließ Christus alle wissen, daß Petrus trotz seines Versagens weiterhin zum engsten Jüngerkreis gehören sollte. Er wandte sich dreimal mit derselben Frage an den Versager: "Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich?"2 Und jedesmal antwortete Petrus: "Ja, Herr, du weißt doch, daß ich dich liebe." Mit diesem dreifachen Bekenntnis seiner Liebe war zwar die dreifache Verleugnung nicht ungeschehen gemacht, aber Petrus wußte: Ich bin wieder angenommen! Und nicht nur das, der Herr hatte ihm nicht nur vergeben, sondern erteilte ihm zugleich einen neuen Auftrag: "Hüte meine Schafe!"

Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er verstand plötzlich Aussagen und Handlungen Jesu, deren Sinn ihm bisher verborgen geblieben war. Zum Beispiel, warum Christus eines Tages ein Kind in ihren Kreis gestellt und von ihnen verlangt hatte, auch so zu werden wie dieses Kind. Nachdem er am eigenen Leib erfahren hatte, wie unzuverlässig und schwach er war und wie treu und stark Jesus ist, vertraute und gehorchte er seinem Herrn wie nie zuvor. Und als er nach einem schweren und aufopferungsvollen Leben für Christus und seine Gemeinde selbst den Märtyrertod sterben mußte, meinte er, daß diese Ehre für einen, der seinen Herrn verleugnet hatte, viel zu groß sei.

Das, was Christus durch seine Liebe im Leben dieses Mannes erreicht hat, soll allen, die dem großen Lehrer nachfolgen, Mut machen.

Eine Lektion Nächstenliebe

Niemand läßt sich gern ermahnen und zurechtweisen -- das ging den Jüngern damals wohl nicht anders als uns heute. Aber deshalb wandten sich Johannes, Petrus oder die anderen aus dem engeren Kreis nicht von Jesus ab. Sie hatten sich freiwillig für ein Leben mit ihm entschieden und wollten bei ihm bleiben. Und Jesus andererseits zog sich trotz ihrer Fehler und Schwächen nicht von ihnen zurück.

Auch im Jüngerkreis lief nicht alles glatt, doch diese jungen Männer waren bereit, von Christus zu lernen, und er nutzte jede Gelegenheit, sie zu lehren. Wenn jemand zu ihm kommt, fragt Jesus nicht nach dem Ist-Zustand, sondern blickt auf das, was er aus ihm machen und mit ihm erreichen kann. Er nimmt die Menschen an wie sie sind, aber er läßt sie nicht so, sondern wandelt sie um und macht sie zu Mitarbeitern im Dienst an anderen. Voraussetzung ist allerdings, daß sie sich von ihm erziehen und ausbilden lassen wollen. Deshalb heißt es auch in den Evangelien, daß Jesus seine Freunde schalt, korrigierte, manchmal sogar scharf zurechtwies.1

Nur einer aus dem Jüngerkreis scheint bis unmittelbar vor Jesu Gefangennahme von direktem Tadel verschont geblieben zu sein: Judas Iskariot. Mit ihm war ein höchst widersprüchlicher junger Mann zum Jüngerkreis hinzugestoßen. Wahrscheinlich fühlte er sich von der Persönlichkeit, der Botschaft, der wunderwirkenden Kraft und dem Lebensstil Jesu angezogen. Möglicherweise litt er selber unter seiner Widersprüchlichkeit und hoffte, die enge Gemeinschaft mit dem jungen Rabbi aus Nazareth könne da Abhilfe schaffen. Was ihm allerdings noch mehr am Herzen lag, waren Einfluß und Macht, die denen winkten, die Christus bei der Aufrichtung des neuen jüdischen Gottesstaats unterstützten. Obwohl sich Jesus immer wieder ganz anders geäußert hatte, verband Judas -- andere übrigens auch! -- Israels Zukunft mit rein irdisch-machtpolitschen Zielen. Und da er Jesus für den hielt, der die Macht hatte, diese Vorstellungen durchzusetzen, schloß er sich dem Jüngerkreis an. Allerdings fiel es ihm schwer, sich einzufügen -- von Unterordnung gar nicht zu reden.

Er war ein kluger Kopf, der sehr wohl imstande war, sich eine eigene Meinung zu bilden. Nur, wenn sein Urteil einmal feststand, war er kaum noch gewillt, sich zu korrigieren. Das machte ihn im Umgang mit anderen rechthaberisch, überkritisch und hart. Wenn er etwas tat, mußte es sich lohnen, zumindest sollte es Eindruck machen. Daß sich Jesus in seinem Handeln nicht von Nützlichkeitserwägungen bestimmen ließ, konnte er nicht begreifen. Deshalb weckte vieles von dem, was Jesus tat, was er lehrte und wie er reagierte sein Mißfallen. Er sprach das zwar nicht offen aus, aber sein Ehrgeiz, seine Unzufriedenheit und seine Zweifel teilten sich in gewissem Sinne auch dem Jüngerkreis mit. Bei manchen internen Streitigkeiten und beim Feilschen um Einfluß und zukünftige Posten führte Judas geschickt Regie.

Natürlich blieb das Jesus nicht verborgen, doch er vermied die direkte Auseinandersetzung mit Judas, weil sich dadurch die Fronten nur verhärtet hätten. Der Selbstsucht und Unredlichkeit des Judas setzte er vielmehr seine aufopfernde Liebe entgegen. Außerdem formulierte er manche seiner Lehren und Grundsätze so, daß Judas dadurch im Gewissen getroffen wurde, ohne sich jedoch bloßgestellt fühlen zu müssen. Auf diese Weise erteilte er ihm eine Lektion nach der anderen, aber Judas war nicht gewillt, sich zu ändern. Und je mehr er sich innerlich dem Einfluß Jesu entzog, desto stärker gewann das Böse in ihm die Oberhand. Er fühlte sich mehr und mehr angegriffen, obwohl Jesus ihn nie direkt getadelt hatte, sondern ihm trotz allem mit Fürsorge und Liebe begegnete.

Dieses Gemisch aus Scham, enttäuschter Erwartung, Ehrgeiz, Machtstreben und Geldgier führte schließlich dazu, daß Judas den Entschluß faßte, Jesus zu verraten. Besonders schlimm erscheint dabei der Höhepunkt dieser Entwicklung. Eben noch in der vertrauten Atmosphäre des Jüngerkreises, wo der Herr mit den Seinen das Abendmahl feierte -- und selbst da noch um den schon fast verlorenen Sohn rang --, trat Judas in die Nacht hinaus, um sein finsteres Werk zu vollenden. Und der Finsternis der Nacht entsprach auch die Finsternis in seinem Herzen. Als er Jesus und den Kreis der Jünger verließ, setzte er die Füße auf einen Weg, der kein Ziel mehr hatte, sondern nur noch ein Ende -- ein schreckliches Ende!

"Jesus wußte nämlich von Anfang an, wer nicht an ihn glaubte, und kannte auch den, der ihn später verraten würde."1 Im Falle des Judas wurde ganz deutlich, mit welcher Liebe sich Jesus gerade um Menschen kümmerte, die seine Geduld und sein Verständnis über Gebühr beanspruchten.

"Jesus wußte von Anfang an" heißt doch nichts anderes, als daß Jesus sich von vornherein der Gefahren bewußt gewesen sein muß, die die Aufnahme des Judas in den Jüngerkreis mit sich bringen würde. Er wußte auch um den Widerspruchsgeist, den Judas unterschwellig im Jüngerkreis verbreitete, und mußte dem immer wieder entgegenwirken. Dennoch nahm er ihn in die vertraute Gemeinschaft der Zwölf auf, um ihm jede nur denkbare Gelegenheit zur Umkehr geben zu können. Selbst als er schon das eigene bittere Leid und den Tod am Kreuz vor Augen hatte, bemühte er sich noch um diesen zwiespältigen und halsstarrigen jungen Mann. Hier bewahrheitete sich, was im Hohenlied so ausgedrückt ist: "... unüberwindlich wie der Tod, so ist die Liebe [...] Mächtige Fluten können sie nicht auslöschen, gewaltige Ströme sie nicht fortreißen."2

Soweit es Judas betraf, hatten Jesu Bemühungen nicht zum Erfolg geführt, doch im Blick auf die anderen Jünger waren sie nicht ohne Auswirkungen geblieben. Jesu Umgang mit schwierigen oder irregeleiteten Menschen bestimmte später auch ihr Verhalten anderen gegenüber. Doch sie lernten noch mehr. Als es darum ging, Judas in den engsten Jüngerkreis aufzunehmen, hatten sich die anderen Jünger eindeutig dafür ausgesprochen. Sie versprachen sich viel von diesem weltgewandten, scharfsinnigen und tatkräftigen Mann.

Judas hatte Format, war eine Führernatur und konnte sich und seine Fähigkeiten gut verkaufen. Jesus ließ sich davon nicht täuschen, aber bei den Jüngern dauerte es lange, ehe sie merkten, daß dieser Mann nicht geistlich gesinnt war, sondern der Sache Jesu nach weltlichen Spielregeln dienen wollte, und daß er auch mehr oder weniger irdische Ziele verfolgte. Er wollte, daß Jesus die weltliche Herrschaft an sich riß und den Seinen Einfluß und Macht sicherte. Doch als sich die hochfliegenden Pläne des Judas in Nichts auflösten, begriffen die Jünger, daß sich Ehrgeiz und Machtstreben nicht mit den Grundsätzen des geistlichen Königreichs Jesu vertragen -- mit Demut beispielsweise und Opferbereitschaft. Am Leben und Verhalten des Judas sahen sie, wohin es führt, wenn ein Mensch nur sich selbst dient und seine eigenen Pläne und Wünsche zu verwirklichen sucht.

Was Jesus bei Judas nicht geglückt war, gelang ihm wenigstens im Blick auf die anderen Jünger. Seine Liebe und Selbstverleugnung formte mehr und mehr den Charakter dieser Männer. Und als er starb, begruben sie ihre rein weltlich orientierten Vorstellungen von der Zukunft Israels vollends. Sie begriffen auch, daß ihre Selbsteinschätzung weit von der Wirklichkeit entfernt gewesen war: Judas hatte den Herrn verraten, Petrus hatte ihn verleugnet und die anderen hatten ihn allein gelassen, als er sie am dringendsten brauchte. Mehr oder weniger hatten sie alle versagt. Angesichts der Aufgabe, Jesu Werk auf dieser Erde weiterzuführen, wurde ihnen klar, wie sehr sie auf seine Führung angewiesen waren.

Vieles von dem, was er sie gelehrt und was er getan hatte, erschien ihnen jetzt in einem anderen Licht. An manchen Stellen hätten sie gern nachgefragt, um sich letzte Klarheit zu verschaffen, aber das war nun, da er nicht mehr bei ihnen war, unmöglich. Glücklicherweise hatte der Herr ihnen zugesagt: "Doch glaubt mir: Es ist besser für euch, wenn ich gehe. Sonst käme der nicht, der meine Stelle einnehmen soll, um euch zu helfen und zu trösten. Wenn ich euch verlassen habe, werde ich ihn zu euch senden [...] Ihr aber seid meine Freunde, denn ich habe euch alles gesagt, was ich vom Vater gehört habe [...] Der Heilige Geist, den euch der Vater an meiner Stelle senden wird, der wird euch an all das erinnern, was ich euch gesagt habe, und ihr werdet es verstehen."1

Als die Jünger erlebten, wie Jesus vor ihren Augen vom Ölberg aus in die unsichtbare, himmlische Welt zurückkehrte, trösteten sie sich mit seiner Zusage: "Ihr dürft sicher sein: Ich bin immer und überall bei euch, bis an das Ende dieser Welt!"2

Sie wußten, daß er immer an sie denken würde und daß sie jetzt direkt am Thron Gottes einen Fürsprecher hatten. In dieser Gewißheit beteten sie hinfort zu Gott und beriefen sich dabei auf Jesu Zusage: "Ich versichere euch: Wenn ihr den Vater in meinem Namen um etwas bittet, wird er es euch geben."3

Obwohl Jesus von ihnen gegangen war, fühlten sich die Jünger nicht verlassen, sondern geborgen, denn sie wußten: "Wer könnte es wagen, die von Gott Auserwählten anzuklagen? [...] Wer wollte es wagen, sie zu verurteilen? Keiner, denn Christus ist für sie gestorben, ja noch mehr: Er ist vom Tode auferweckt worden und tritt jetzt vor Gott für sie ein. Was also könnte uns von Christus und seiner Liebe trennen? Leiden und Angst vielleicht? Verfolgung? Hunger? Armut? Gefahr oder gewaltsamer Tod? Gewiß nicht!"4

Wie versprochen, ließ der erhöhte Christus seine Nachfolger auf Erden teilhaben an seiner Gnadenfülle. Als der Heilige Geist über sie ausgegossen wurde, war das für die Jünger die Bestätigung dafür, daß Christus seinen Platz auf Gottes Thron wieder eingenommen hatte. Zugleich spürten sie, daß Gottes Geist sie auf die große Aufgabe der Evangeliumsverkündigung vorbereitete. Plötzlich spielten widerstreitende Gedanken, persönliche Gefühle und ehrgeizige Ziele keine Rolle mehr. Ihr Denken war auf Christus gerichtet, und ihre Kraft setzten die Jünger rückhaltlos für die Verkündigung seiner Botschaft und den Bau seines Reiches ein. Und ihr Zeugnis blieb nicht ohne Wirkung. Die Menschen drängten zu Tausenden in die Nachfolge Jesu. Selbst solche, die ihn kurz zuvor noch abgelehnt oder gar bekämpft hatten, wollten jetzt zu Christus gehören und seine Zeugen sein. Das führte dazu, daß die Christusbotschaft innerhalb einer einzigen Generation überall in der damals bekannten Welt bekannt wurde.

Das, was Gottes Geist an den Menschen in alter Zeit vollbrachte, kann und will er auch heute tun. Auch uns gilt seine Zusage: "Ihr dürft sicher sein: Ich bin immer und überall bei euch, bis an das Ende dieser Welt!" Voraussetzung ist freilich, daß wir uns dem Wirken des Heiligen Geistes ebenso öffnen, wie es die Jünger Jesu damals taten. Das zu erreichen, zumindest dazu beizutragen, ist Sinn und Ziel christlicher Erziehung.

Gotteserkenntnis durch die Natur "Steh still und denke über Gottes Wundertaten nach!" Hiob 37,14.