Vom Schatten Zum Licht

Kapitel 10

Fortschritt Der Reformation In Deutschland

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Ganz Deutschland war bestürzt über Luthers geheimnisvolles Verschwinden. Überall forschte man nach seinem Verbleib. Die wildesten Gerüchte wurden in Umlauf gesetzt, und viele glaubten, er sei ermordet worden. Großes Wehklagen erhob sich, nicht nur unter seinen erklärten Freunden, sondern auch unter Tausenden, die sich nicht öffentlich zur Reformation bekannt hatten. Manche legten einen feierlichen Eid ab, seinen Tod zu rächen.

Das Werk Geht Voran

Die römisch-katholischen Führer nahmen mit Schrecken wahr, wie sehr die Stimmung gegen sie umschlug. Obwohl sie zunächst über Luthers vermeintlichen Tod gejubelt hatten, wollten sie sich nun dem Zorn des Volkes entziehen. Luthers Feinde waren zu der Zeit, als er unter ihnen seine kühnsten Taten vollbrachte, weit weniger beunruhigt, als jetzt, wo er verschwunden war. Seine wütenden Gegner hatten versucht, den mutigen Reformator zu vernichten, doch obwohl dieser jetzt zu einem hilflosen Gefangenen geworden war, fürchteten sie sich weiterhin. "Der einzige Weg, uns selbst zu retten", meinte einer, "ist, dass wir Fackeln anzünden und in der Welt nach Luther suchen, um ihn dem Volke wiederzugeben, das nach ihm verlangt." (DAGR, IX, 1, 5) Der Erlass des Kaisers schien wirkungslos zu sein, und die päpstlichen Gesandten waren entrüstet, als sie sahen, dass ihnen weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Schicksal Luthers.

Die Nachricht, dass er zwar gefangen, aber in Sicherheit sei, beschwichtigte nicht nur die Ängste der Menschen, sondern entfachte ihre Begeisterung für ihn. Seine Schriften wurden eifriger gelesen als zuvor. Immer mehr Zeitgenossen schlossen sich dem mutigen Mann an, der gegen eine solch ungeheuerliche Übermacht das Wort Gottes verteidigte. Die Reformation gewann ständig an Kraft, und die Saat, die Luther ausgestreut hatte, ging überall auf. In seiner Abwesenheit konnte ein Werk vollbracht werden, das während seiner Anwesenheit unmöglich gewesen wäre. Nachdem ihr großer Wegbereiter verschwunden war, spürten andere Mitarbeiter ihre Verantwortung. Mit frischem Glauben und großem Eifer gingen sie voran und setzten alles in ihrer Macht Stehende daran, dass dieses so edelmütig begonnene Werk nicht beeinträchtigt wurde.

Fanatismus

Aber auch Satan war nicht müßig. Er plante, was er schon bei anderen Reformbewegungen versucht hatte - das Volk zu betrügen und zu vernichten, indem er den Menschen anstelle des Originals eine Fälschung anbot. So wie im ersten Jahrhundert der christlichen Gemeinde falsche Christusse aufkamen, so standen im 16. Jahrhundert falsche Propheten auf.

Einige Männer, die durch die Erregung in der religiösen Welt tief ergriffen waren, bildeten sich ein, der Himmel habe ihnen besondere Erkenntnisse offenbart. Sie erklärten, von Gott beauftragt worden zu sein, die Reformation zu Ende zu führen, und behaupteten, dass sie durch Luther zu schwach begonnen habe. In Wirklichkeit aber zerstörten sie das Werk, das Luther aufgebaut hatte. Sie verwarfen den zentralen Grundsatz, das eigentliche Fundament der Reformation, welcher festschrieb, dass Gottes Wort als Maßstab für Glauben und Handeln genügt. Sie ersetzten diese unfehlbare Richtschnur durch den wechselhaften und unsicheren Maßstab ihrer eigenen Gefühle und Empfindungen. Indem sie den großen Prüfstein für Irrtum und Betrug beseitigten, machten sie für Satan den Weg frei, die Gemüter nach seinem Gutdünken zu lenken.

Einer dieser Propheten behauptete, vom Engel Gabriel unterrichtet worden zu sein. Ein Student, der sich mit ihm zusammentat, gab sein Studium auf und erklärte, von Gott selbst die Weisheit zur Auslegung der Heiligen Schrift erhalten zu haben. Andere, die von Natur aus zum Fanatismus neigten, schlossen sich ihnen an. Das Vorgehen dieser Enthusiasten rief große Aufregung hervor. Überall hatten Luthers Predigten beim Volk das Verlangen nach einer Reform geweckt, und nun wurden einige aufrichtige Seelen durch die anmaßenden Behauptungen dieser neuen Propheten in die Irre geführt.

Die Anführer dieser Bewegung gingen nach Wittenberg, wo sie ihre Ansprüche Melanchthon und seinen Mitarbeitern aufdrängten. Sie sagten: "Wir sind von Gott gesandt, das Volk zu unterweisen. Wir haben vertrauliche Gespräche mit Gott und wissen, was geschehen wird, mit einem Wort, wir sind Apostel und Propheten und berufen uns auf Dr. Luther." (DAGR, IX, 7, 42 ff.)

Die Reformatoren waren erstaunt und verwirrt. Ein solches Phänomen war ihnen bisher noch nie begegnet und sie wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Melanchthon sagte: "Diese Leute sind ungewöhnliche Geister, aber was für Geister? ... Wir wollen auf der einen Seite den Geist Gottes nicht dämpfen, auf der anderen aber auch nicht vom Teufel verführt werden." (DAGR, IX, 7, 42 ff.)

Schon bald zeigten sich die Früchte dieser neuen Lehre. Die Menschen wurden dazu verleitet, die Bibel zu vernachlässigen oder ganz zu verwerfen. Auf den Schulen herrschte Verwirrung. Es gab Studenten, die jede Einschränkung verwarfen, ihr Studium abbrachen und die Universität verließen. Die Männer, die sich für fähig hielten, die Reformation zu beleben und zu leiten, brachten sie in Wirklichkeit an den Rand des Ruins. Die Vertreter des Papsttums wurden wieder zuversichtlicher und frohlockten: "Noch ein Versuch ... und alles ist zurückgewonnen." (DAGR, IX, 7, 42 ff.)

Zurück Nach Wittenberg

Als Luther auf der Wartburg von diesen Ereignissen hörte, sagte er tief besorgt: "Ich habe immer erwartet, dass Satan uns eine solche Plage schicken würde." (DAGR, IX, 7, 42 ff.) Er erkannte den wahren Charakter dieser falschen Propheten und sah die Gefahr, die der Wahrheit drohte. Der Widerstand des Papstes und des Kaisers hatte in ihm nie solch große Verwirrung und Verzweiflung hervorgerufen wie das, was er jetzt erlebte. Aus den Reihen vorgeblicher Freunde der Reformation kamen ihre schlimmsten Feinde. Gerade die Wahrheiten, die ihm so große Freude und so viel Trost bereitet hatten, wurden nun dazu missbraucht, um in der Kirche Zwiespalt und Verwirrung zu stiften.

Der Heilige Geist hatte Luther bei seinem Erneuerungswerk vorangetrieben, sodass dieser über sich hinauswuchs. Er hatte nicht geplant, eine solche Stellung einzunehmen, wie er sie jetzt besaß, oder solch drastische Veränderungen vorzunehmen. Obwohl er nur ein Werkzeug in der Hand des Allmächtigen war, bangte er oft um den Ausgang seiner Sache. Einmal sagte er: "Wüsste ich, dass meine Lehre einem einfältigen Menschen schadete (und das kann sie nicht, denn sie ist das Evangelium selbst), so möchte ich eher zehn Tode leiden, als nicht widerrufen." (DAGR, IX, 7, 42 f.)

Nun fiel das Zentrum der Reformation, die Stadt Wittenberg, dem Fanatismus und der Gesetzlosigkeit zum Opfer. Luthers Lehren hatten diesen schrecklichen Zustand sicher nicht verursacht, aber seine Feinde im ganzen Land gaben ihm die Schuld dafür. Verbittert fragte er sich manchmal: "Dahin sollt es mit dem großen Werk der Reformation kommen?" Wenn er aber mit Gott im Gebet rang, zog Friede in sein Herz ein: "Gott hat das Werk angefangen, Gott wird es wohl vollenden", sagte er, "du wirst es nicht dulden, dass es durch Aberglauben und Fanatismus verderbt wird." (DAGR, IX, 7, 42 f.) Der Gedanke, noch länger dem Schauplatz dieser Auseinandersetzung fernzubleiben, wurde ihm unerträglich. So entschloss er sich, nach Wittenberg zurückzukehren.

Sofort machte sich Luther auf den gefahrvollen Weg. Noch stand er unter der Reichsacht. Seine Feinde konnten ihn einfach umbringen, Freunden war es verboten, ihm zu helfen und Unterschlupf zu gewähren. Die kaiserliche Regierung hatte gegen seine Anhänger die energischsten Schritte eingeleitet. Doch er sah, dass das Evangeliumswerk in Gefahr war, und im Namen des Herrn zog er furchtlos für die Wahrheit in den Kampf.

Nachdem er seine Absicht erklärt hatte, die Wartburg zu verlassen, schrieb Luther an den Kurfürsten von Sachsen: "Eure Kurfürstliche Gnaden wisse, ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höhern Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab's auch nicht im Sinne, von Eurer Kurfürstlichen Gnaden Schutz zu begehren. Ja, ich halt, ich wolle Eure Kurfürstlichen Gnaden mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu wenn ich wüsste, dass mich Eure Kurfürstlichen Gnaden könnte und wollte schützen, so wollte ich nicht kommen. Dieser Sache soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muss hier allein schaffen, ohne alles menschliche Sorgen und Zutun. Darum, wer am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen." (DAGR, IX, 8, 53 f.)

In einem zweiten Brief, den er auf dem Weg nach Wittenberg verfasste, fügte Luther hinzu: "Ich will Eurer Kurfürstlichen Gnaden Ungunst und der ganzen Welt Zorn ertragen. Die Wittenberger sind meine Schafe. Gott hat sie mir anvertraut. Ich muss mich für sie in den Tod begeben. Ich fürchte in Deutschland einen großen Aufstand, wodurch Gott unser Volk strafen will." (DAGR, IX, 7, 42 f.)

Er handelte vorsichtig und demütig; gleichzeitig aber war er fest entschlossen. "Mit dem Worte", sagte er, "müssen wir streiten, mit dem Worte stürzen, was die Gewalt eingeführt hat. Ich will keinen Zwang gegen Aber und Ungläubige. ... Keiner soll zum Glauben und zu dem, was des Glaubens ist, gezwungen werden." (DAGR, IX, 8, 53 f.)

Das Wort Bricht Den Zauber Des Fanatismus

Bald sprach es sich in Wittenberg herum, dass Luther zurückgekehrt sei und predigen wolle. Von überall strömte das Volk herbei und die Kirche war bis zum Bersten voll. Luther stieg auf die Kanzel, lehrte, mahnte und tadelte mit großer Weisheit und Güte. Wer die Messe mit Gewalt abschaffen wollte, dem gab er Folgendes zu bedenken:

"Die Messe ist ein böses Ding, und Gott ist ihr feind; sie sollte abgetan werden, und ich wollte, dass in der ganzen Welt allein das evangelische Abendmahl gehalten würde. Doch sollte man es niemand entreißen. Wir müssen diese Sache in Gottes Händen lassen. Sein Wort muss arbeiten und nicht wir. Warum, fragst du? Weil ich die Herzen der Menschen nicht in der Hand habe wie der Töpfer den Ton. Wir haben wohl das Recht der Rede, aber nicht das Recht zum Handeln. Das Wort sollen wir predigen, aber den Rest übernimmt Gott. So ich nun Druck ausübe, was würde ich gewinnen? Ein äußerliches Wesen, ein Affenspiel, aber da ist kein gut Herz, kein Glaube, keine Liebe. Wo diese drei fehlen, ist das Werk nichts; ich wollte nicht einen Birnstiel darauf geben. ... Also wirkt Gott mit seinem Wort mehr, als wenn du und ich und die ganze Welt alle Gewalt vereinigen würden. Gott will das Herz, und wenn er es bekommt, ist alles gewonnen. ...

Predigen will ich's, sagen will ich's, schreiben will ich's; aber zwingen, dringen mit der Gewalt will ich niemand, denn der Glaube will willig und ohne Zwang angezogen werden. Nehmt ein Exempel an mir. Ich bin dem Ablass und allen Anhängern des Papsttums entgegen gewesen, aber mit keiner Gewalt. Ich hab allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe . also viel getan, dass das Papsttum also schwach geworden ist, dass ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel abgebrochen hat. Ich habe nichts getan, das Wort Gottes hat es alles gehandelt und ausgericht. Wenn ich hätte wollen mit Ungemach fahren, ich wollte Deutschland in ein groß Blutvergießen gebracht haben. Aber was wär es? Ein Verderbnis an Leib und Seele. Ich habe nichts gemacht, ich habe das Wort Gottes lassen handeln." (DAGR, IX, 8, 53 ff.)

Eine ganze Woche lang predigte Luther Tag für Tag zu einer mit Spannung zuhörenden Menge. Das Wort Gottes brach den Zauber des Fanatismus. Die Macht des Evangeliums führte das irregeleitete Volk auf den Weg der Wahrheit zurück.

Luther hatte kein Verlangen danach, mit den Schwärmern zusammenzutreffen, deren Vorgehensweise so großes Unheil angerichtet hatte. Er kannte sie als Männer ohne gesundes Urteilsvermögen und von ungezügelter Leidenschaft. Sie erhoben den Anspruch, vom Himmel besonders erleuchtet zu sein, und waren nicht bereit, den geringsten Widerspruch, ja nicht einmal einen freundlichen Rat oder Tadel anzunehmen. Sie maßten sich an, höchste Autorität zu besitzen und verlangten, dass alle ihre Ansprüche widerspruchslos anerkannten. Als sie jedoch ein Gespräch mit Luther forderten, war er bereit, ihnen zu begegnen. Dabei entlarvte er ihre Anmaßungen so gründlich, dass diese Hochstapler Wittenberg unverzüglich verließen.

Der Fanatismus war eine Zeit lang eingedämmt, doch einige Jahre später brach er mit noch größerer Heftigkeit und schrecklichen Folgen wieder aus. Über die Führer dieser Bewegung sagte Luther: "Die Heilige Schrift war für sie nichts als ein toter Buchstabe, und alle schrien: ›Geist! Geist!‹ Aber wahrlich, ich gehe nicht mit, wohin ihr Geist sie führt. Der barmherzige Gott behüte mich ja vor einer Kirche, darin lauter Heilige sind. Ich will da bleiben, wo es Schwache, Niedrige, Kranke gibt, welche ihre Sünde kennen und empfinden, welche unablässig nach Gott seufzen und schreien aus Herzensgrund, um seinen Trost und Beistand zu erlangen." (DAGR, X, 10)

Thomas Müntzer

Thomas Müntzer37 war der Eifrigste unter allen Fanatikern, ein Mann mit bemerkenswerten Fähigkeiten. Wenn sie in gute Bahnen gelenkt worden wären, hätte er damit viel Positives bewirken können. Doch er hatte die grundlegendsten Prinzipien wahrer Religion nie begriffen. "Er war von dem Wunsch besessen, die Welt zu erneuern, und vergaß wie alle Schwärmer, dass eine Reformation bei ihm selbst beginnen musste." (DAGR, IX, 8) Er wollte Rang und Einfluss gewinnen, war aber nicht bereit, sich jemandem unterzuordnen, nicht einmal Luther. Er erklärte, dass die Reformatoren die Autorität des Papsttums durch die der Schrift ersetzt hätten, was nur eine andere Form des Papsttums sei. Von sich selbst sagte Müntzer, er sei von Gott berufen, eine wahre Reformation einzuleiten. "Wer diesen Geist besitzt", sagte Müntzer, "besitzt den wahren Glauben, auch wenn er niemals in seinem Leben die Heilige Schrift zu Gesicht bekäme." (DAGR, X, 10)

Die schwärmerischen Lehrer ließen sich gänzlich von ihren Eindrücken leiten. Sie hielten jeden Gedanken und jede innere Regung für Gottes Stimme. In der Folge nahmen sie extreme Positionen ein. Einige verbrannten sogar ihre Bibeln und riefen aus: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig." Müntzers Lehren kamen dem menschlichen Verlangen nach dem Außergewöhnlichen entgegen. Sie befriedigten den Stolz, indem sie menschliche Ideen und Meinungen über das geschriebene Wort Gottes stellten. Tausende nahmen seine Lehren an. Bald prangerte er jede Art von Ordnung im öffentlichen Gottesdienst an und erklärte, den Fürsten zu gehorchen, heiße, Gott und Belial gleichzeitig dienen zu wollen.

Menschen, die im Begriff waren, das päpstliche Joch abzuwerfen, reagierten nun auch auf Einschränkungen der weltlichen Obrigkeit gereizt. Müntzers revolutionäre Lehren, für die er göttliche Zustimmung beanspruchte, verleiteten sie dazu, sich jeder Kontrolle zu entziehen und ihren Vorurteilen und Leidenschaften freien Lauf zu lassen. Es folgten schreckliche Aufstände und Kämpfe, die den Boden Deutschlands mit Blut tränkten.

Seelenqualen, wie sie Luther seinerzeit in Erfurt durchlitten hatte, legten sich mit doppelter Heftigkeit auf ihn, als er die Folgen des Fanatismus sah, die man nun der Reformation zur Last legte. Die römisch-katholischen Fürsten erklärten, der Aufruhr sei die natürliche Folge von Luthers Lehren, und viele waren bereit, dem zuzustimmen. Obwohl diese Behauptung jeder Grundlage entbehrte, brachte sie den Reformator in große Not. Dass über die Wahrheit Schande kam, weil sie mit grobem Fanatismus gleichgestellt wurde, war mehr, als er ertragen konnte. Doch die Rädelsführer der Rebellion hassten Luther nicht nur, weil er ihren Lehren widersprach und ihren Anspruch auf Inspiration ablehnte, sondern weil er sie des Aufruhrs gegen die weltliche Obrigkeit bezichtigte. Als Vergeltungsmaßnahme nannten sie ihn einen bösen Heuchler. Nun schien es ganz, als habe er die Feindschaft sowohl der Fürsten als auch des Volkes auf sich gezogen.

Die Anhänger des Papsttums frohlockten und erwarteten einen schnellen Niedergang der Reformation. Sie legten Luther sogar jene Irrtümer zur Last, die er mit großem Eifer richtig stellen wollte. Nun behauptete die Partei der Fanatiker, ungerecht behandelt worden zu sein. Damit gewann sie die Sympathie eines großen Teils der Bevölkerung. Wie so oft, hielt man Menschen, die einen falschen Weg eingeschlagen hatten, schließlich für Märtyrer. So kam es, dass diejenigen, die sich der Reformation mit aller Kraft widersetzt hatten, am Ende bemitleidet und als Opfer von Härte und Unterdrückung geehrt wurden. Das war Satans Werk, angeregt durch denselben Geist der Rebellion, der sich ganz am Anfang schon im Himmel bekundet hatte.

Kampf Auf Allen Seiten

Satan bemüht sich ständig, die Menschen zu täuschen und sie zu veranlassen, Sünde als Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Sünde zu bezeichnen. Welch großen Erfolg hatte doch sein Werk! Wie oft werden treue Diener Gottes mit Tadel überschüttet, weil sie furchtlos die Wahrheit verteidigen! Menschen, die nur Diener Satans sind, werden mit Lob und Schmeicheleien überhäuft und sogar als Märtyrer angesehen, während diejenigen, die wegen ihrer Treue zu Gott geachtet und bestärkt werden sollten, unter Verdächtigungen und Misstrauen allein gelassen werden.

Unechte Heiligkeit und falsche Heiligung verrichten noch immer ihr verführerisches Werk. In vielfältiger Gestalt zeigt sich heute der gleiche Geist wie zur Zeit Luthers. Er lenkt die Gedanken von der Heiligen Schrift weg und bringt Menschen dazu, sich von ihren eigenen Gefühlen und Eindrücken leiten zu lassen, anstatt Gottes Weisungen zu gehorchen. Das ist eine der erfolgreichsten Strategien Satans, um Reinheit und Wahrheit in Verruf zu bringen.

Von allen Seiten kamen die Angriffe, doch Luther verteidigte das Evangelium ohne Furcht. Gottes Wort erwies sich bei jeder Auseinandersetzung als mächtige Waffe. Mit diesem Wort kämpfte er gegen die eigenmächtige Autorität des Papstes und die rationalistische Philosophie der Gelehrten, während er fest wie ein Fels dem Fanatismus entgegentrat, der sich in die Reformation einschleichen wollte.

Jede dieser so gegensätzlichen Bewegungen setzte die Heilige Schrift auf ihre Weise beiseite und machte menschliche Weisheit zur Quelle für religiöse Wahrheit und Erkenntnis. Der Rationalismus vergöttert die Vernunft und erhebt sie zum Maßstab über die Religion. Der römische Katholizismus beansprucht für den Papst eine göttliche Vollmacht, die seit den Tagen der Apostel durch alle Jahrhunderte hindurch über eine ununterbrochene Linie auf ihn übertragen wurde. Das schafft, unter einem Deckmantel von Heiligkeit und apostolischem Auftrag, jeder Form von Ausschweifung und Korruption viel Spielraum. Die Eingebungen, auf die sich Müntzer und seine Gefährten beriefen, entstammten keiner besseren Quelle als den Launen der eigenen Einbildung. Ihr Einfluss untergrub jede Form von menschlicher oder göttlicher Autorität. Wahres Christentum hingegen betrachtet das Wort Gottes als das große Schatzhaus der inspirierten Wahrheit und als Prüfstein für jede Eingebung.

Die Bibel Für Das Volk

Nach seiner Rückkehr von der Wartburg stellte Luther die Übersetzung des Neuen Testaments fertig, und das Evangelium wurde dem deutschen Volk bald in seiner eigenen Sprache überreicht. Alle wahrheitsliebenden Menschen empfingen diese Übersetzung mit großer Freude, sie wurde jedoch von denen verächtlich abgelehnt, die menschliche Traditionen und Gebote bevorzugten.

Die Priester waren beunruhigt, dass das gewöhnliche Volk nun in der Lage war, mit ihnen über die Lehren der Heiligen Schrift zu diskutieren. Dabei kam ihre eigene Unwissenheit ans Tageslicht. Die Waffen ihrer fleischlichen Argumentation waren gegen das Schwert des Geistes machtlos. Rom bot seine ganze Macht auf, um die Verbreitung der Heiligen Schrift zu verhindern, aber all seine Erlasse, Bannflüche und Strafen waren wirkungslos. Je mehr Rom den Gebrauch der Bibel verdammte und verbot, desto größer wurde das Verlangen des Volkes, zu wissen, was sie wirklich lehrt. Wer lesen konnte, erforschte das Wort Gottes für sich selbst mit Hingabe. Man nahm die Schrift mit, las sie wieder und wieder und war erst zufrieden, als man ganze Teile auswendig kannte. Als Luther das Interesse sah, mit dem das Neue Testament aufgenommen wurde, begann er unverzüglich mit der Übersetzung des Alten und veröffentlichte es in Teilen, sobald sie fertiggestellt waren.

Luthers Schriften wurden in Stadt und Land positiv aufgenommen. "Was Luther und seine Freunde schrieben, wurde von andern verbreitet. Mönche, die von der Unrechtmäßigkeit ihres Klostergelübdes überzeugt wurden, wollten nach langer Untätigkeit ein arbeitsames Leben führen. Da sie aber für die Predigt des göttlichen Wortes zu geringe Kenntnisse besaßen, zogen sie durch die Provinzen und verkauften Luthers Bücher. Es gab bald sehr viele dieser mutigen Hausierer." (DAGR, XI, 88)

Die Schriften wurden von Armen und Reichen, Gelehrten wie Laien, mit großem Interesse gelesen. Abends lasen Dorfschullehrer kleinen Gruppen, die sich in Wohnungen versammelten, aus der Bibel vor. Dabei wurden stets einige Anwesende von der Wahrheit überzeugt. Man nahm das Wort mit Freuden auf und erzählte dann anderen von der guten Nachricht.

Die inspirierten Worte der Bibel bewahrheiteten sich: "Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Unverständigen." (Psalm 119,130) Das Studium der Bibel bewirkte eine große Veränderung in den Gedanken und Herzen des Volkes. Die päpstliche Herrschaft hatte ihren Untertanen ein eisernes Joch auferlegt, das sie in Unwissenheit und Erniedrigung festhielt. Peinlich genau wurden abergläubische Formen beobachtet, doch in all diesen religiösen Handlungen kamen Herz und Verstand viel zu kurz. Die Verkündigung Luthers durch die schlichten Wahrheiten der Heiligen Schrift hatte ihre Wirkung auf das einfache Volk und weckte seine ungenutzten Fähigkeiten, die nicht nur den Geist reinigten und veredelten, sondern auch dem Verstand neue Kraft und Vitalität verliehen.

Leute aus allen Volksschichten sah man mit Bibeln in der Hand die Lehren der Reformation verteidigen. Die Anhänger des Papsttums, die das Studium der Heiligen Schrift den Priestern und Mönchen überlassen hatten, forderten diese nun auf, anzutreten und diese neuen Lehren zu widerlegen. Doch Priester und Mönche, die weder die Schrift noch die Kraft Gottes kannten, waren denen, die sie als ungebildete Häretiker verschrien hatten, vollkommen unterlegen. "Leider", sagte ein katholischer Schriftsteller, "hatte Luther die Seinigen überredet, man dürfe nur den Aussprüchen der heiligen Bücher Glauben schenken." (DAGR, XI, 86 ff.) Menschenmassen hörten den "ungebildeten" Männern zu, die sich sogar mit gelehrten und beredten Theologen auseinandersetzten. Die beschämende Unwissenheit dieser großen Männer wurde offenbar, als man ihren Argumenten die einfachen Lehren des Wortes Gottes gegenüberstellte. Arbeiter, Soldaten, Frauen und sogar Kinder waren mit den Lehren der Bibel besser vertraut als Priester und Gelehrte.

Der Unterschied zwischen den Jüngern des Evangeliums und den Gehilfen des päpstlichen Aberglaubens war in den Reihen der Gelehrten genauso klar erkennbar wie unter dem gewöhnlichen Volk. "Die alten Stützen der Hierarchie hatten die Kenntnis der Sprachen und das Studium der Wissenschaft vernachlässigt; ihnen trat eine studierende, in der Schrift forschende, mit den Meisterwerken des Altertums sich beschäftigende Jugend entgegen. Diese aufgeweckten Köpfe und unerschrockenen Männer erwarben sich bald solche Kenntnisse, dass sich lange Zeit keiner mit ihnen messen konnte. ... Wo die jungen Verteidiger der Reformation mit den römischen Doktoren zusammentrafen, griffen sie diese mit solcher Ruhe und Zuversicht an, dass diese unwissenden Menschen zögerten, verlegen wurden und sich allgemein gerechte Verachtung zuzogen." (DAGR, XI, 86 ff.)

Die Geistlichkeit In Bedrängnis

Als die römischen Geistlichen sahen, dass die Anzahl ihrer Gottesdienstbesucher zurückging, riefen sie die weltlichen Behörden zu Hilfe und versuchten, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, ihre Zuhörer zurückzugewinnen. Aber die Menschen hatten in den neuen Lehren das gefunden, was ihre geistlichen Bedürfnisse stillte. So kehrten sie denen, die sie so lange mit der wertlosen Spreu abergläubischer Bräuche und menschlicher Traditionen ernährt hatten, den Rücken.

Als die Lehrer der Wahrheit unter der Verfolgung litten, erinnerten sie sich an die Worte Christi: "Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere." (Matthäus 10,23) So drang das Licht überall hin. Oft wurde den Flüchtenden irgendwo eine gastfreundliche Tür geöffnet, und während sie dort waren, verkündigten sie Christus. Dies taten sie manchmal in Kirchen, doch wenn ihnen dieses Vorrecht verweigert wurde, predigten sie auch in Privathäusern oder im Freien. Wo immer sie Zuhörer fanden, war ein geweihter Tempel. Die Wahrheit wurde mit solcher Einsatzfreude und Zuversicht gepredigt, dass sie sich mit unwiderstehlicher Kraft ausbreitete.

Vergeblich versuchte sowohl die kirchliche wie auch die weltliche Obrigkeit die Ketzerei zu vernichten. Vergeblich griffen sie zu Gefangenschaft, Folter, Feuer und Schwert. Tausende besiegelten ihr Glaubenszeugnis mit ihrem Blut, doch das Werk ging voran. Die Verfolgung diente der Ausbreitung der Wahrheit. Der Fanatismus, den Satan mit ihr in Verbindung bringen wollte, machte den Unterschied zwischen seinem Wirken und dem Werk Gottes nur noch deutlicher.