------------------------Die Leiden Christi LC 1 1 Vorwort LC 3 1 Kapitel 1 -- Christus führt zum Gehorsam LC 4 2 Kapitel 2 -- Christenleben ist Gebetsleben LC 6 3 Kapitel 3 -- Die Quelle seiner Kraft LC 7 2 Kapitel 4 -- Einsamer Kampf in Gethsemane LC 9 1 Kapitel 5 -- Die Jünger aber schliefen... LC 14 2 Kapitel 6 --"Der mich verrät, ist nahe!" LC 17 1 Kapitel 7 -- Der Heiland der Welt LC 17 3 Kapitel 8 -- "Sehet, welch ein Mensch!" LC 20 2 Kapitel 9 -- Frauen zeigen ihre Treue LC 21 1 Kapitel 10 -- "Vater, vergib ihnen" LC 23 2 Kapitel 11 -- Trost für den Schächer LC 27 1 Kapitel 12 -- Grabesstille herrscht auf Golgatha LC 29 3 Kapitel 13 -- Satan hat sein Reich verloren ------------------------Vorwort LC 1 1 Gott ist Liebe, unermeßliche Liebe. Denn "also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben". Johannes 3,16 Dieser war "der Glanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens". Hebräer 1,3. Er "trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort". Hebräer 1,3. Göttliche Erhabenheit und Größe besaß er. Und es gefiel dem Vater, daß in ihm alle Fülle wäre. Christus aber "hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich sein". Philipper 2,6. Er "entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebärden als ein Mensch erfunden; er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz". Philipper 2,7.8. LC 1 2 Der Sohn Gottes war willens, an Sünders Statt zu sterben. Durch seinen Gehorsam, im Leben bewiesen, sollte der Mensch der Strafe entrinnen, die wegen der Übertretung des Gesetzes Gottes auf ihm lastete. Nicht, daß er durch seinen Tod das Gesetz auflöste, seine heiligen Forderungen einschränkte oder ihm etwas von seiner erhabenen Würde nahm. Er bewies im Gegenteil durch seinen Tod, daß seines Vaters Gebote gerecht seien, wenn sie den Übertreter verdammten. Nur, daß er an Stelle des Sünders den Fluch auf sich nahm und um des Menschen Errettung willen litt. Der Tod des Sohnes Gottes am Kreuz erweist die Unumstößlichkeit des Gesetzes Gottes. Sein Tod verherrlicht das Gesetz und macht es höchst ehrenwert; er ist der Beweis der dem Gesetz innewohnenden Unveränderlichkeit. Von den Lippen Jesu selbst kamen die Worte: "Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen" Matthäus 5,17. Der Tod des Sohnes Gottes hat die Berechtigung der Forderungen erwiesen, die das göttliche Gesetz stellt. Wenn du die Erlösung recht werten willst, mußt du vorerst überdenken, was sie gekostet hat. Wie viele ahnen nicht im entferntesten, was der Sohn Gottes auf Golgatha litt! Wie können sie da die Versöhnung schätzen? LC 2 1 Der Erlösungsplan, dessen Kern und Stern die frohe Botschaft vom Heil durch Jesus Christus ist, wurde schon Adam kundgetan. Er erkannte in Christus die einzige Tür, durch die er wieder zum Leben eingehen konnte. Daß die Sünder durch Christus allein selig werden, galt Adam, Noah, Abraham wie allen, die vor dem Advent Christi ins Leben traten, ebenso wie uns. Die Patriarchen, Propheten und alle heiligen Blutzeugen, vom gerechten Abel an, schauten sehnsuchtsvoll nach dem künftigen Erlöser aus. Ihren Glauben an ihn bezeugten sie durch Opfer und Gaben. Dieser vorbildliche Opferdienst wurde bei der Kreuzigung hinweggetan, da sie das Wesen alles Opferns war. Die Tieropfer schatteten die fleckenlose Gabe des Sohnes Gottes vor und deuteten seinen Tod am Kreuze an. Er ist das Lamm, "das erwürgt ist, von Anfang der Welt". Offenbarung 13,8. Er ist der Erlöser aller sündigen Söhne und Töchter Adams in allen Zeitaltern ihrer Bewährung. "Und ist in keinem andern -- Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden." Apostelgeschichte 4,12. Christus ist die Verkörperung, das Wesen, das die früheren Zeitalter bis zu seinem Tode überschattete. Die Übertretung des Sittengesetzes forderte den Schattendienst. Beim Tode Christi, den die Opfertiere seit den Zeiten Adams vorschatteten, wurden diese Opfer abgetan. Das Gesetz Gottes jedoch blieb bestehen. LC 2 2 Das Adam, Noah, Abraham und Mose offenbarte Evangelium war ihnen Frohbotschaft, denn ihr Glaube klammerte sich an den künftigen Heiland. Der Christenwelt scheint heute helleres und herrlicheres Licht, denn im jüdischen Zeitalter warf das Kreuz seinen Schatten zurück bis zu den Pforten des Paradieses, das Adam verlassen mußte. Was denen, die vor Christus lebten, Glaube war, ist uns Gewißheit; denn wir wissen, Christus ist gekommen, wie die Propheten ihn weissagten. Und wir dürfen darum keinen geringeren Glauben an den Erlöser, unser Opfer, haben als die Alten, die an einen künftigen Erlöser glauben mußten. ------------------------Kapitel 1: Christus führt zum Gehorsam LC 3 1 Indem der Sohn Gottes an des Menschen Statt trat und den Fluch auf sich nahm, der eigentlich die Erdenkinder treffen sollte, bekannte er vor der Menschheit, daß die heiligen Forderungen und die erhabene Ehre des gottväterlichen Gesetzes fortbestehen. Sein Werk und seine Sendung waren, den Menschen von der Sünde zu überzeugen, die die Übertretung jenes Gesetzes ist, und ihn durch göttliche Vermittlung unter den Gehorsam dieses vollkommenen Gesetzes zu bringen. Der Vater hat Christus die Welt übergeben, daß er durch sein Mittleramt den Fortbestand der Forderungen und die Heiligkeit des ganzen Gesetzes völlig rechtfertige. Als Johannes den Heiland im Jordan getauft hatte, kniete dieser am Ufer nieder und bat seinen himmlischen Vater inbrünstig um Kraft für den bevorstehenden Kampf mit dem Fürsten der Finsternis. Sein Gebet drang durch die Himmel, und das Licht göttlicher Herrlichkeit, heller als die Sonne am Mittag, strahlte vom Ewigen nieder, nahm die Gestalt einer Taube an, leuchtend wie glänzendes Gold, und senkte sich auf den Sohn Gottes herab, während eine vernehmliche Stimme aus der himmlischen Herrlichkeit in wunderbarer Majestät ertönte: "Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe." Matthäus 3,17. LC 3 2 Damit erhielt der Sohn Gottes die Gewißheit, daß sein Vater durch ihn die gefallene Menschheit annahm und ihr eine weitere Bewährungszeit schenkte. Die Verbindung zwischen Himmel und Erde, Gott und Mensch, durch die Sünde Adams zerrissen, wurde wiederhergestellt. Der von keiner Sünde wußte, wurde der Menschheit zur Sünde, auf daß seine Gerechtigkeit den Adamskindern zugerechnet würde. Durch die Vollkommenheit des Lebens Christi wurde der Mensch von neuem Gott lieb und wert, durch das Verdienst Jesu der vergängliche Mensch mit dem ewigen Gott eng verbunden, vom Erlöser die Kluft der Sünde überbrückt. LC 3 3 Aber wie wenige Menschen haben den richtigen Begriff von den hohen Gnadengaben, die Christus uns erwarb, indem er uns den Himmel öffnete. Da vertrat der Sohn Gottes uns Menschen, und die besondere Kraft und Herrlichkeit, die die Himmelsmajestät über ihn ausgoß, und die Worte der Bestätigung waren die sicherste Bürgschaft für Gottes Liebe und Wohlwollen mit den Menschen. Und dadurch, daß Jesu Fürbitte für uns Erhörung fand, haben wir die Gewißheit, daß Gott auch unsre aus eigener Not emporgesandten Gebete im Namen Jesu erhört. Das unaufhörliche, ernste Gebet aus Glauben verleiht uns Licht und Kraft, um den heftigsten Angriffen des Teufels widerstehen zu können. LC 4 1 Hat der Christ für einen Tag Licht und Kraft erhalten, so reichen diese doch nicht für die Versuchungen und Kämpfe des nächsten vor. Satan greift ständig an anderen Stellen an, wie er es schon bei Christus tat. Jeden Tag sehen wir uns anderen Lagen gegenüber, haben wir neue, unerwartete Versuchungen. Sich von gegenwärtiger Erleuchtung, aus gegenwärtigen Segnungen künftige Kraft zu versprechen, ist dasselbe, als von heute genossener Nahrung morgen leben zu wollen. Der schwache, sündige Mensch ist nur dann vor dem Fall sicher, wenn Gott ihm täglich sein Licht leuchten und seine Kraft zuteil werden läßt. ------------------------Kapitel 2: Christenleben ist Gebetsleben LC 4 2 Es ist höchst notwendig, daß Gott uns seinen Willen in den täglichen Angelegenheiten des Lebens kundtut. Denn die wichtigen Erfolge hängen häufig von Geringfügigkeiten ab. Je mehr wir durch das Licht von oben Gott erfahren, desto mehr werden wir uns unsrer Schwächen und unsrer völligen Abhängigkeit von ihm bewußt. Wir müssen immer das Bedürfnis eines tüchtigen Führers fühlen, der unsre zagenden Schritte auf den rechten Weg lenken soll. Lebendiges Christenleben ist lebendiges Gebetsleben. Der Pfad des Gerechten wird immer heller bis zum vollen Tage. Das Christenleben ist Fortschritt. Der Christ geht voran von Kraft zu Kraft, von Gnade zu Gnade, von Klarheit zu Klarheit und erhält von oben das Licht, das Christus uns durch einen unermeßlichen Kaufpreis erreichbar machte. Der Christ kann sein Licht nicht recht scheinen lassen, wenn ihm nicht immer mehr göttliche Erleuchtung zuteil wird, die mit seinem Wachstum in der Erkenntnis biblischer Wahrheiten Schritt hält. Die Kraft und Herrlichkeit der nahegebrachten Himmel geben ihm immer aufs neue den Sieg über Versuchungen und lassen ihn nicht unter den Lasten zusammenbrechen, die sich stetig schwerer vor ihm auftürmen. Ungesehenes und Ungeschehenes harrt des Christen, neue Gefahren umgeben ihn, unerwartete Versuchungen bestürmen ihn ständig. Unser herrlicher Führer weist zu den offenen Himmeln als der einzigen Quelle des Lichtes und der Kraft. LC 5 1 Nach der Taufe begab sich der Sohn Gottes in die schaurigöde Wüste, wo er vom Teufel versucht werden sollte. Fast sechs Wochen lang hielt er Hungerqualen aus. Vierzig Tage und Nächte aß und trank er nichts. Das war größeres Leiden, als je ein Mensch getragen hat. Christus trug die Schuld des Übertreters. Er erfuhr, welche Macht die Eßlust auf den Menschen ausübt. Und um des sündigen Menschen willen nahm er in diesem Stück die größte Prüfung auf sich. Damit errang er aber einen Sieg, den nur wenige zu würdigen wissen. Wie sehr die Eßlust den Menschen versklavt, wie sehr man sündigt, wenn man ihr frönt, erkennt man recht an der Länge dieses Fastens, das unser Heiland durchmachte, um ihre Gewalt zu brechen. LC 5 2 Bei fast jeder Versuchung auf dem Gebiete der Eßlust hatte Satan den Sieg davongetragen. Der Sohn Gottes erkannte, daß der Mensch dieser furchtbaren Versuchung nicht aus eigener Kraft begegnen könnte. Drum hatte er solche unbegreifliche Liebe zur Menschheit, daß er die Himmel verließ, Göttlichkeit auszog, Menschlichkeit anzog, um mit menschlichem Empfinden in die Tiefen menschlichen Wehs hinabzudringen und von da mit göttlichem Sehnen den Unendlichen fest zu umfassen. Er kam auf die Erde nieder, um menschliches Bemühen durch Gottes Kraft zu ergänzen, damit wir durch die Kraft und sittliche Macht, die er mitteilt, zu Überwindern werden. Oh, welche unvergleichliche Herablassung, daß der König der Herrlichkeit in diese Welt kam, um Hungerqualen und starke Versuchungen des listigen Feindes zu erdulden, auf daß er dem Menschen unbegrenzt Sieg gewönne! Das ist Liebe ohnegleichen! LC 5 3 Es waren nicht allein die nagenden Hungerqualen, die dem Heiland sein Leiden so unaussprechlich schwer machten, es war das Schuldgefühl, aus der Befriedigung der Eßlust entsprungen, das, nachdem es so schreckliches Weh in die Welt gebracht, nun so schwer auf ihm lastete. "Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir würden in ihm die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt." 2.Korinther 5,21. LC 6 1 In menschlicher Gestalt, unter der schrecklichen Sündenlast widerstand unser Heiland bei dieser Hauptversuchung der Macht Satans. Wenn der Mensch immer in dieser Versuchung Sieger bliebe, könnte er in allen Stücken überwinden. LC 6 2 Allen sittlichen Übelständen unter den Menschen liegt die Unmäßigkeit zugrunde. Christus setzte mit der Erlösung dort ein, wo der Niedergang anfing. Den Fall unsrer ersten Eltern verursachte die Befriedigung der Eßlust. Beim Erlösungswerk war die Niederringung der Eßlust die erste Aufgabe Christi. Welche wunderbare Liebe hat Christus bewiesen, da er in die Welt kam, unsre Sünden und Schwächen zu tragen, den Leidensweg zu gehen und uns durch sein fleckenloses Leben zu zeigen, wie wir wandeln sollen und überwinden können. ------------------------Kapitel 3: Die Quelle seiner Kraft LC 6 3 Christus fühlte als Menschensohn das Bedürfnis, von Gott gestärkt zu werden. Er hatte stille Orte zum Gebet. Er liebte die Einsamkeit der Berge, um dort mit seinem himmlischen Vater Zwiesprache zu halten. Das gab ihm die Kraft für die Pflichten und Versuchungen des Tages. Unser Heiland nimmt unsre Nöte und Schwächen auf sich, indem er ein Bittsteller, ein nächtlich Bittender wird, bei seinem Vater frische Kraft sucht, um neu belebt und erquickt seine Pflicht zu erfüllen und den Kampf gegen die Versuchung aufzunehmen. Es ist uns zum Beispiel gesetzt, er ist unser Bruder bei unsern Schwächen, ohne aber unsre Leidenschaften zu besitzen. Als der einzige Sündlose schrak er vor allem Bösen zurück. Er ertrug Seelenkämpfe und Seelenangst in einer sündigen Welt. Als Mensch war ihm das Gebet eine Notwendigkeit, und er sah es als Gnadengabe an. Er bedurfte aller göttlichen Hilfe und alles himmlischen Trostes, die der Vater so gern seinem Sohne spendete, der den Himmel verlassen und zum Wohl des Menschen den Aufenthalt in einer unfreundlichen, undankbaren Welt gewählt hatte. Christus schöpfte aus der Verbindung mit seinem Vater Freude und Frieden. Da konnte er seine Sorgen abladen, die ihn zu erdrücken drohten, der Mann der Sorgen und Schmerzen. LC 7 1 Den ganzen Tag wirkte er mit Ernst, um Menschen aus dem Verderben zu reißen. Er heilte die Kranken, tröstete die Trauernden, flößte Verzweifelnden Freude und Hoffnung ein, rief die Toten ins Leben zurück. Wenn sein Tagewerk vollendet war, ging er beiseite, Abend für Abend, fort aus dem Gewühl der Stadt und beugte sich an einsamen Orten demütig bittend vor seinem Vater. Zuweilen leuchtete der Mond auf den Gebeugten nieder, dann schoben sich wieder Wolken vor, und Dunkel machte alles Licht ersterben. Tau und Nachtfrost setzten sich in Haupthaar und Bart des gebeugten Beters. Oft genug betete er die ganze Nacht. Wenn der Heiland der Menschheit, voll göttlicher Kraft, die Notwendigkeit des Gebetes um unsertwillen fühlte, wie not ist dann schwachen, sündigen Sterblichen das Gebet -- inbrünstiges, ständiges Gebet um ihrer selbst willen! ------------------------Kapitel 4: Einsamer Kampf in Gethsemane LC 7 2 Der Passahmond stand hell und voll am wolkenlosen Himmel. Auf der Stadt der Pilgerzelte ruhte tiefes Schweigen. Jesus hatte ernst mit seinen Jüngern gesprochen. Als Gethsemane nahe war, wurde er eigentümlich still. Oft hatte er diesen Ort besucht, um daselbst nachzudenken und zu beten, doch nie mit so sorgenvollem Herzen wie an diesem Abend seiner großen Seelenangst. Während seines ganzen Erdenlebens war er im Lichte der Gegenwart Gottes gewandelt. Selbst wenn dämonische Menschen ihn anfeindeten, konnte er sagen: "Der mich gesandt hat, ist mit mir. Der Vater läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt." Johannes 8,29. Jetzt aber schien der Heiland dem Licht der kraftverleihenden Gegenwart Gottes entrückt. Er wurde zu den Übeltätern gerechnet und mußte die Schuld der gefallenen Menschheit tragen. Auf ihn, der von keiner Sünde wußte, mußte unser aller Missetat gelegt werden. Die Sünde erscheint ihm so schrecklich, die Last der Übertretungen, die er zu tragen hat, ist so groß, daß er versucht ist, zu befürchten, sie werde ihn nie wieder des Vaters Liebe schauen lassen. Und als er empfindet, wie furchtbar Gott wegen der Übertretungen zürnt, sagt er: "Meine Seele ist betrübt bis an den Tod." Matthäus 26,38. LC 8 1 Mit Ausnahme von dreien blieben die Jünger nahe am Eingang des Gartens. Jesus gebot ihnen, für sich und für ihn zu beten, und zog sich dann mit Petrus, Jakobus und Johannes still zurück. Diese drei Jünger waren seine vertrautesten Gefährten. Sie hatten seine Herrlichkeit auf dem Berge der Verklärung geschaut, hatten Mose und Elia bei ihm gesehen und mit ihm reden hören und die Stimme vom Himmel vernommen. Nun wünschte Christus in seinem großen Kampfe ihren Beistand. Oft hatten sie die Nacht in dieser Einsamkeit verbracht. Wenn sie eine Zeitlang gewacht und gebetet hatten, konnten sie in der Nähe ihres Meisters ungestört schlafen, bis er sie am Morgen weckte, um aufs neue an ihr Tagewerk zu gehen. Jetzt aber sollten sie die ganze Nacht mit ihm im Gebet zubringen. "Bleibet hier", sagte er, "und wachet mit mir!" Matthäus 26,38. LC 8 2 Dann ging er ein Stück weiter, so daß sie ihn noch sehen und hören konnten, und beugte sich tief zur Erde. Er fühlte sich durch die Sünde von seinem Vater getrennt. Die Kluft war so breit, so schwarz, so tief, daß er zitterte. Er konnte seine göttliche Kraft nicht benutzen, um diesem Kampfe zu entrinnen. Als Mensch mußte er die Folgen menschlicher Schuld tragen: den Zorn Gottes über die Sünde. LC 8 3 Was war durch dieses Opfer zu gewinnen? Wie hoffnungslos erschien die Schuld und die Undankbarkeit der Menschen! Der Kampf war schrecklich, in dem Maße der Schuld seines Volkes, seiner Ankläger, seines Verräters, der Schuld einer Welt, die im argen lag, schrecklich. Die Sünden der Menschen lasteten schwer auf Christus, und das Bewußtsein des Zornes Gottes über die Sünde schmetterte ihn nieder. LC 8 4 Siehe, wie er den Preis erwägt, der für den Menschen zu zahlen ist! In seiner Angst klammerte er sich an den kalten Erdboden, als wollte er nicht noch weiter von seinem Vater getrennt sein. Der frostige Nachttau feuchtet die hingesunkene Gestalt. Er achtet's nicht. In angstgeborenen Lauten durchhallt die schrecklich Nacht der Schrei: "Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch von mir." Matthäus 26,39. Die Sünden der verlorenen Welt lagen auf ihm. Das Gefühl gottväterlichen Zornes wegen der Sünde schlug ihn zu Boden. Dann stand er von seinem einsamen Platze auf, weil er sich nach der Teilnahme seiner Jünger sehnte, ging zu ihnen und fand sie schlafend. Er weckte Simon Petrus und frage ihn: "Simon, schläfst du? Vermochtest du [der du jüngst mit mir in den Tod gehen wolltest] nicht, eine Stunde zu wachen? Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet! Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach." Markus 14,37.38. In der wichtigsten Stunde fand Jesus die Jünger schlafend, in der Stunde, da er sie besonders gebeten hatte, mit ihm zu wachen. Er wußte, daß den Jüngern schreckliche Versuchungen bevorstanden. Er nahm sie mit sich, daß sie ihm eine Stärke sein möchten, daß die Ereignisse, deren Zeuge sie in dieser Nacht sein, und die Unterweisungen, die sie erhalten sollten, unauslöschlich ihrem Gedächtnis eingeprägt würden. Das war ihnen für die dicht bevorstehende Feuerprobe not. ------------------------Kapitel 5: Die Jünger aber schliefen... LC 9 1 Doch statt mit Jesus zu wachen, schliefen sie sorgenschwer ein. Selbst der begeisterte Petrus schlief, jener Petrus, der wenige Stunden vorher erklärt hatte, er wolle mit seinem Herrn leiden und, sollte es sein, auch sterben. Im entscheidenden Augenblick aber, als der Sohn Gottes so sehr ihres Mitgefühls und ihrer inbrünstigen Gebete bedurfte, fand er sie schlafend. Sie haben dadurch viel verschlafen. Der Heiland hatte beabsichtigt, sie für die schwierige Glaubensversuchung, die sie bald durchmachen sollten, zu stärken. Hätten sie jene traurigen Stunden mit dem Heiland unter Wachen und Gebet zu Gott zugebracht, so wäre Petrus bald darauf nicht auf seine schwache Kraft allein angewiesen gewesen und hätte seinen Herrn nicht verleugnet. LC 9 2 Wir können uns nur eine schwache Vorstellung von der unaussprechlichen Angst des teuren Sohnes Gottes in Gethsemane machen. Es mußte ihn ja unsäglich niederdrücken, als er, wegen der freiwillig übernommenen Sündenschuld der Menschheit, sich von seinem Vater getrennt sah. Der herrliche Sohn Gottes wurde ohnmächtig und kam dem Tode nahe. Der Vater sandte einen Engel herab, um den göttlichen Dulder zu stärken. Könnten Sterbliche das Erstaunen der Engel wahrnehmen und ihre Seufzer hören, als sie zu ihrer tiefsten Trauer sehen mußten, wie der Vater Licht, Liebe und Herrlichkeit nicht mehr seinem Sohne scheinen ließ, so würden sie besser verstehen, wie häßlich die Sünde in Gottes Augen ist. Als der Sohn Gottes sich im Garten Gethsemane betend niederbeugte, drängte ihm die Todesangst Blutstropfen statt Schweiß aus den Poren. Zypressen und Palmen waren stille Zeugen seiner Seelenqual. Aus ihrem reichen Blätterwerk fielen schwere Tautropfen auf den Gepeinigten, als wollte die Natur weinen über ihn, ihren Schöpfer, der mit den Mächten der Finsternis allein rang. Die Schrecken großer Finsternis umgaben ihn. Der Welt Sünde lastete auf ihm. Er litt an des Menschen Statt als Übertreter des göttlichen Gesetzes. Da wurde er stark versucht. Das Licht Gottes entschwand seinen Blicken, und er wurden den Mächten der Finsternis ausgeliefert. In Seelenangst lag er ausgestreckt auf der kalten Erde. Er war sich des Mißfallens seines Vaters bewußt. Der Kelch des Leidens war den Menschen von den Lippen gerissen und Christus selbst dargeboten worden, damit der Mensch an seiner Statt den Kelch des Segens tränke. Der Zorn, den eigentlich der sündige Mensch verdient hätte, entlud sich nun über Christus. LC 10 1 Die jäh aus dem Schlummer gerissenen Jünger blickten zu einem Meister auf, den Seelenangst und körperliches Leiden quälten, wie sie es vorher nie gesehen hatten. Sie schauten das abgehärmte, angstentstellte, bleiche Gesicht und sahen Perlen von Blutschweiß an seinen Brauen hängen. "Er hatte keine Gestalt noch Schöne." Jesaja 53,2. Die Jünger waren sehr betrübt, daß sie geschlafen und nicht mit ihrem Herrn gebetet und gefühlt hatten. Sie waren sprachlos vor Reue und Staunen. LC 10 2 Da wendet sich der leidende Sohn Gottes wieder von ihnen, denn finstere Gewalt stürmt von neuem mit unwiderstehlicher Kraft auf ihn ein und beugt ihn in den Staub. Er betet wie vorher und schüttet sein Herz unter starken Geschrei und Tränen aus. Er rang mit solchen Todesnöten, wie sie kein Mensch in seinem Leben ertragen könnte. Der Welt Sünden lagen auf ihm. Er fühlte, daß er von seines Vaters Liebe geschieden war; denn auf ihm lastete der Fluch wegen der Sünde. Christus wußte, daß es dem Menschen schwerfallen würde, die Häßlichkeit der Sünde zu erkennen, und daß die enge Berührung und der stete Umgang mit der Sünde das sittliche Empfinden des Menschen so abgestumpft hatten, daß ihm die Sünde wider den Heiligen Geist nicht so gefährlich erscheinen konnte. Er wußte, daß nur wenige Freude an der Gerechtigkeit finden und das Heil annehmen würden, dessen Erlangung er durch unermeßlichen Kaufpreis möglich machte. Während diese Sündenlast auf Christus lag, weder bemerkt noch bereut von Menschen, suchten Zweifel in seinem Herzen Fuß zu fassen, ob der Vater noch mit ihm eins sei. LC 11 1 In solcher schrecklichen Prüfungsstunde sehnte sich der Mensch Jesus nach mitfühlenden Jüngern: zum zweiten Male erhob er sich von der Erde, ging zu ihnen und fand sie schlafend. Diesmal war's kein fester Schlaf. Sie lagen im Halbschlaf, sie hatten einen kleinen Begriff vom Leiden und von der Angst ihres Herrn bekommen. Zärtlich beugte sich Jesus einen Augenblick über sie und schaute sie teils mit Liebe, teils mit Mitleid an. Er sah in den schlafenden Jüngern das Sinnbild einer schlafenden Gemeinde. Sie schliefen, wo Wachen und Beten not waren. LC 11 2 "So wachet nun (denn ihr wisset nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob er kommt am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder des Morgens), auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend." Markus 13,35.36. Die Gemeinde Gottes hat die ganze Nacht auf der Wacht zu sein, trotz Gefahren, sei die Zeit lang oder kurz. Auch im Leid soll sie nicht weniger wachen, und Trübsal soll nicht Gleichgültigkeit, sondern doppelte Wachsamkeit erzeugen. Christus hat die Gemeinde durch sein eigenes Beispiel auf die Quelle ihrer Kraft in Zeiten der Not, der Bedrängnis und Gefahr hingewiesen. Die allezeit wachende Gemeinde kennzeichnet sich durch beständiges Wachen als Gottes Volk. Durch dieses Zeichen unterscheiden sich die Wartenden von der Welt und zeigen, daß sie Pilger und Fremdlinge auf Erden sind. LC 11 3 Welche Gefühllosigkeit bewiesen die Jünger, als sie den Schlaf ihre Augen schließen, den Schlummer ihre Sinne gefangennehmen ließen, während ihr göttlicher Herr solch unbeschreibliche Seelenangst litt. Wären sie wach geblieben, so hätten sie ihren Glauben nicht verloren, als sie den Sohn Gottes am Kreuze sterben sahen. Edle Seelenkämpfe und Gebete, die ihnen Kraft gegeben hätten, den schrecklichen Todeskampf des Sohnes Gottes mitanzusehen, hätten diese wichtige Nachtwache auszeichnen müssen. Ins Zwielicht der Versuchungsstunde hätten ihnen dann Hoffnungsstrahlen geschienen und ihren Glauben belebt. LC 12 1 Christus hatte ihnen vorausgesagt, daß dies alles geschehen werde. Doch sie hatten es nicht verstanden. Seine Leiden sollten den Jüngern eine Feuerprobe werden. Deshalb tat es ihnen not, zu wachen und zu beten. Ihr Glaube bedurfte der Stärkung durch unsichtbare Kraft, da sie den scheinbaren Sieg der Mächte der Finsternis erleben sollten. Der Heiland kannte die Macht, womit der Fürst der Finsternis gerade dann die Sinne seiner Jünger betäubte, als ihnen Wachsamkeit so not tat. An diesem Höhepunkt, wo so viel für sie auf dem Spiele stand, fand der Herr sie schlafend. Da befällt ihn die Macht der Finsternis im neuen Anprall und beugt ihn zur Erde. Er verläßt seine Jünger mit dem Entschluß, den Fürsten der Finsternis zu überwinden, aus daß der Mensch nicht in die Ketten der Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit gehalten werde. Noch ein Blick zärtlichen Mitgefühls den Jüngern, dann verläßt er sie und beugt sich zum dritten Male im Gebet; er spricht dieselben Worte wie vorher. Der göttliche Dulder schauerte vor Entsetzen über diesen geheimnisvollen Kampf. LC 12 2 Menschen können unmöglich die unerträgliche Seelenangst empfinden und fassen, die unsern Erlöser marterte. Der heilige Sohn Gottes hatte nicht seine eigenen Sünden noch selbstverursachten Kummer zu tragen. Er trug andrer Leid; unser aller Missetaten wurden auf ihn gelegt. Göttliches Mitleid verband ihn mit den Menschen, und so ertrug er es, als Vertreter der ganzen Menschheit wie ein Übertreter behandelt zu werden. Er schaute in den Abgrund des Wehs, der sich wegen unsrer Sünden vor uns aufgetan hatte, und nahm sich vor, die Kluft mit seinem eigenen Leibe zu überbrücken. LC 12 3 Die Leiden der Märtyrer reichen bei weitem nicht an die Leiden Christi heran. Gott war bei ihrem körperlichen Leiden gegenwärtig. Hier aber verbarg sich des Vaters Angesicht vor seinem lieben Sohn. Der Mensch Christus zagte und zitterte in dieser Versuchungsstunde. Es war eine Seelenangst, größer, als was der Menschennatur zu tragen möglich war. Vieltausendfaches Weh ließ die zitternden Lippen des edlen Dulders die Worte sagen: "Meine Seele ist betrübt." Markus 14,34. "Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich; überhebe mich dieses Kelchs; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!" Markus 14,36. Und dann hören wir von seinen bleichen Lippen diese Worte: "Mein Vater, ist's nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille!" Matthäus 26,42. Der bedeutungsvolle Augenblick war gekommen, da das Schicksal der Welt sich entscheiden sollte. Engel warten und wachen mit innigster Teilnahme. LC 13 1 Der Welt Schicksal liegt auf zitternder Waagschale. Wenn nun der Sohn Gottes sich weigert, den den schuldigen Menschen bestimmten Kelch zu leeren, wenn er den Blutschweiß von der Stirn wischt und die Welt in den Tod ihrer Übertretungen versinken läßt! Ob der Sohn des unendlichen Gottes den Kelch der Demut trinkt, ob der Unschuldige den Fluch Gottes leiden wird zur Bewahrung des Schuldigen? Der geheimnisvolle Kelch zittert in seiner Hand. Das Schicksal einer verlorenen Welt wird gewogen. Der Welterlöser sieht, daß die Übertreter des Gesetzes Gottes wegen seines Mißfallens sterben müssen. Er sieht die Macht der Sünde und das völlige Unvermögen des Menschen, sich selbst zu retten. LC 13 2 Die Schmerzen und Wehklagen einer verfluchten Welt steigen zu ihm auf. Da ist sein Entschluß gefaßt. Er will die Menschen um jeden Preis retten. Er nimmt die Bluttaufe an, damit sterbende Millionen durch ihn ewiges Leben gewinnen. Hatte er doch die Himmel, wo alles Reinheit, Glück und Herrlichkeit war, verlassen, um das eine verlorene Schaf, die eine Welt, die durch Übertretung gefallen war, zu retten. Er will den Menschen nicht in seinen Sünden verlassen. Er will in die tiefsten Tiefen des Elends hinabsteigen, um ihn zu retten. Die schlafenden Jünger wissen nichts davon, daß ihr lieber Lehrer fast ohnmächtig ist. Er fällt wie sterbend zur Erde nieder. Wo sind da die Jünger, die mit ihren Händen liebevoll das Haupt des Meisters stützen, sein Antlitz netzen, das nun wahrlich häßlicher ist als aller Menschenkinder Angesichter? Ach, er tritt die Kelter allein, und niemand unter den Menschen ist mit ihm. LC 14 1 Christus litt dennoch nicht allein. Sagte er doch: "Ich und der Vater sind eins." Johannes 10,30. Gott litt mit seinem Sohn. Der Mensch kann das Opfer, das der ewige Gott darbrachte, indem er seinen Sohn der Schmach und Seelenangst überließ, nimmer fassen. Indem Gott seinen Sohn für die Welt dahingab, bezeugte er seine grenzenlose Liebe zu den Menschen. Die Engel, die im Himmel Christi Willen getan hatten, sehnten sich danach, ihm beizustehen. Doch was konnten sie tun? Solches Leid, solche Seelenangst zu stillen, lag nicht in ihrer Macht. Sie haben noch nie die Sünden einer verlorenen Welt gefühlt. Und mit Erstaunen sahen sie den Angebeteten als Kummervollen. Wenn auch der Vater seinem Sohn den Becher nicht aus der zitternden Hand und von den bleichen Lippen nimmt, sendet er doch einen Engel, daß er ihn Kraft trinken lasse. Der Engel richtet den Sohn Gottes von dem kalten Erdboden auf und bringt ihm Liebesworte von seinem Vater. Da fühlt er sich wieder stark und kräftig. Er hat die Verheißung, daß er ewige Freude gewinnt für alle, die die Erlösung annehmen. ------------------------Kapitel 6: "Der mich verrät, ist nahe!" LC 14 2 Die schreckliche Stunde in Gethsemane ist vorüber. Unser göttlicher Heiland hat den Kelch genommen, um ihn bis zum letzten Tropfen zu leeren. Um des Menschen willen hat er in der Stunde der Versuchung überwunden. In seinem fahlen, blutigen Angesicht prägen sich tiefer Ernst und eiserne Ruhe aus. Und zum dritten Male kommt er zu seinen Jüngern und findet sie vom Schlaf übermannt. Kummervoll und teilnahmsvoll schaut er sie an und sagt: "Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen? Es ist genug; die Stunde ist gekommen. Siehe, des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände." Markus 14,41. Und während er diese Worte spricht, hört er die Schritte der Schar, die ausgezogen war, ihn zu suchen. Judas an der Spitze, dicht hinter ihm der Hohepriester. Da weckt der Heiland seine Jünger: "Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, der mich verrät, ist nahe!" Markus 14,42. Ruhe und Hoheit zeigt sein Gesicht. Ohne Spuren der eben überstandenen Seelenqual geht er seinem Verräter entgegen. LC 15 1 Jesus geht seinen Jüngern voran und fragt: "Wen suchet ihr?" Johannes 18,4.5. Sie antworten: "Jesum von Nazareth." Johannes 18,4.5. Jesus erwidert: "Ich bin's!" Johannes 18,4.5. Bei diesen Worten schreckt die Schar der Häscher zurück. Priester, Älteste, die harten Soldaten, selbst Judas, fallen kraftlos zu Boden. Christus hätte ihnen entrinnen können, hätte er nur gewollt. Doch er steht hoheitsvoll inmitten der Rohen, Gefühllosen. Die Strahlen des Mondes versilbern sein fahles Angesicht. Einen Augenblick liegen um ihn her die hingesunkenen, hilflosen Menschen, während seine Jünger vor Staunen nicht reden können. Dann springen die rauhen römischen Soldaten auf die Füße und umzingeln mit den Priestern und Judas den Herrn, beschämt wegen ihrer Schwäche und besorgt, er möchte ihnen noch entrinnen. LC 15 2 Da stellt der Erlöser der Welt noch einmal die Frage: "Wen suchet ihr?" Johannes 18,7.8. Und wiederum antworten sie: "Jesum von Nazareth." Johannes 18,7.7. Jesus erwidert: "Ich habe es euch gesagt, daß ich es sei. Suchet ihr denn mich, so lasset diese gehen!" In dieser Stunde der Erniedrigung sorgte Christus nicht für sich, sondern für seine geliebten Jünger. Er wünschte ihnen alle weiteren Prüfungen ihrer Standhaftigkeit zu ersparen. LC 15 3 Judas, der Verräter unsres Heilandes, vergißt seine Rolle nicht; er tritt dicht an Jesus heran, faßt ihn wie seinen besten Freund bei der Hand und gibt ihm den Verräterkuß. Jesus spricht zu ihm: "Mein Freund, warum bist du gekommen?" Matthäus 26,50. Seine Stimme zitterte vor Wehmut, als er dem Verblendeten sagte: "Verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?" Lukas 22,48. Diese leidvolle Mahnung hätte das Gewissen des Judas wecken und sein verstocktes Herz rühren müssen. Doch Ehre, Treue, selbst menschliches Mitgefühl scheinen ihm abhanden gekommen zu sein. Frech und keck steht er da, ohne Neigung zur Umkehr. Er hat sich der Macht Satans hingegeben, um seine Schandtat auszuüben, und will gar nicht widerstehen. -- Jesus wich vor dem Verräterkuß nicht zurück. Damit gibt er uns ein Beispiel tragender Geduld, einer Liebe und eines Mitgefühls ohnegleichen. LC 15 4 Obgleich die Mörderschar über das Geschehene und Erfahrene überrascht und erschreckt ist, erlangt sie Sicherheit und Verwegenheit zurück, als sie Judas kühn den Herrn anrühren sieht, den sie soeben in seiner Herrlichkeit geschaut hatten. Sie legen ihre frevlen Hände an Jesus und wollen die Arme fesseln, die immer nur Liebes und Gutes getan haben. LC 16 1 Als die Jünger die rohe Mörderschar hilflos auf den Boden gestreckt liegen sahen, nahmen sie gewiß an, ihr Meister würde sich nicht gefangennehmen lassen. Dieselbe Macht, die die gemieteten Häscher niederstreckte, hätte sie niederhalten können, und Jesus hätte sich ihnen unangetastet entziehen können. Sobald sie aber sehen, daß die Hände dessen, den sie lieben, mit Stricken umwunden werden, sind sie enttäuscht und entrüstet. In heftigem Zorn zieht Petrus das Schwert und schlägt dem Knechte des Hohenpriesters ein Ohr ab. LC 16 2 Als Jesus sah, was Petrus getan hatte, machte er sich die Hände frei, die ihm die römischen Soldaten schon hielten und sagte: "Lasset sie doch so machen!" (Lukas 22,51), rührte das Ohr des Verwundeten an und heilte es im Augenblick. Damit gibt er selbst seinen Feinden, die ihm das Leben nehmen müssen, einen unmißverständlichen Beweis seiner Gotteskraft. Und zu Petrus spricht Jesus: "Stecke dein Schwert an seinen Ort! denn der das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen. Oder meinst du, daß ich nicht könnte meinen Vater bitten, daß er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel? Wie würde aber die Schrift erfüllet? Es muß also gehen." Matthäus 26,52-54. "Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat?" Johannes 18,11. Zum Hohenpriester aber und zu den Obersten des Tempels, die sich den Häschern angeschlossen hatten, sagt er: "Ihr seid ausgegangen wie zu einem Mörder mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und habe gelehrt, und ihr habt mich nicht begriffen; aber auf daß die Schrift erfüllet werde." Markus 14,48.49. LC 16 3 Als nun die Jünger erkannten, daß Jesus sich nicht von seinen Feinden befreite, sondern sich gefangennehmen ließ, wandten sie sich von ihm und flohen, ließen ihren Meister allein. Christus hatte vorausgesehen, was sie tun würden, ehe es geschah: "Siehe, es kommt die Stunde und ist schon gekommen, daß ihr zerstreut werdet, ein jeglicher in das Seine, und mich allein lasset. Aber ich bin nicht allein; denn der Vater ist bei mir." Johannes 16,32. ------------------------Kapitel 7: Der Heiland der Welt LC 17 1 Der Erlöser der Welt wurde eilends vor einen irdischen Gerichtshof geführt, um dort von sündigen Menschen verhöhnt und zum Tode verurteilt zu werden. Dort ist der herrliche Sohn Gottes "um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen" (Jesaja 53,5) worden. Er trug Hohn, Spott, die schimpflichste Behandlung, bis seine Gestalt häßlicher war "denn anderer Leute und sein Ansehen denn der Menschenkinder". Jesaja 52,14. LC 17 2 Wer kann die Liebe begreifen, die sich hier bekundet? Mit Verwunderung und Kummer schauten die Engelscharen auf den, der einst Himmelsmajestät war, mit der Krone der Herrlichkeit auf dem Haupte, nun dornengekrönt, ein blutiges Opfer, der Wut einer rasenden, dämonenbesessenen Menge preisgegeben. Siehe da den geduldigen Leider! Auf seinem Haupte die Dornenkrone! Sein Herzblut fließt aus vielen Wunden. Und all das wegen der Sünde! Nichts als ewige Erlöserliebe, die uns immer ein Geheimnis bleiben wird, kann Christus bewogen haben, Ehre und Herrlichkeit des Himmels zu verlassen, um in eine sündige Welt zu kommen, verachtet, verschmäht, verstoßen zu werden von denen, die er retten wollte, und am Kreuze zu leiden. ------------------------Kapitel 8: "Sehet, welch ein Mensch!" LC 17 3 Staunet, ihr Himmel, und du, Erde, wundre dich! Siehe den Bedrücker und die Bedrückten! Eine gewaltige Menge und mitten darin der Heiland der Welt. Hohn und Spott mischen sich mit rohen Gotteslästerungen. LC 17 4 Seine geringe Geburt und sein demütiges Leben werden von gefühllosen Elenden verhöhnt. Über seinen Anspruch, der Sohn Gottes zu sein, lachen die Hohenpriester und Ältesten; gemeine Witze, beleidigende Spottreden gehen von Mund zu Mund. Satan hat die Sinne seiner Sklaven vollkommen in der Gewalt. Um sie wirksamer auszubeuten, beginnt er bei Priestern und Ältesten und sät in ihre Herzen religiöse Verfolgungswut. Derselbe fanatische Geist regiert sie, der die niedrigsten, jämmerlichsten Wichte ergriffen hat. Eine verderbliche Übereinstimmung besteht in aller Denken und Fühlen, von den heuchlerischen Priestern und Ältesten bis hinunter zum Auswurf. LC 18 1 Nun wird der eingeborene Sohn Gottes dahingeführt und das Kreuz auf seine Schultern gelegt. Den Weg entlang hinterlassen seine bluttriefenden Wunden rote Spuren. Von einer ungeheuren Menge bitterer Feinde und gefühlloser Schaulustiger umdrängt, wird er zur Kreuzigung geschleppt. "Da er gestraft und gemartert ward, tat er seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut." Jesaja 53,7. LC 18 2 Israel hatte gewählt. Als die Juden das todwunde Lamm Gottes sahen, hatten sie gerufen: "Sein Blut komme über uns und über unsre Kinder!" Matthäus 27,25. Dieser furchtbare Ruf stieg hinauf zum Throne Gottes. Das Blut des Gottessohnes kam über ihre Kinder und Kindeskinder, ein ewiger Fluch. Schrecklich hat er sich bei der Zerstörung Jerusalems ausgewirkt. Schrecklicher wird sich jener Wunsch am großen Tage des Gerichts erfüllen. Wenn Christus wieder auf die Erde kommt, werden die Menschen ihn nicht als einen vom Pöbel umgebenen Gefangenen sehen, sondern als den König des Himmels. Er wird in seiner, des Vaters und der heiligen Engel Herrlichkeit kommen. Vor ihm werden alle Völker versammelt. Jedes Auge wird ihn sehen, auch die ihn gestochen haben. Statt der Dornenkrone trägt er eine Krone der Herrlichkeit. Statt des alten Purpurmantels ist er mit Kleidern von reinstem Weiß angetan. Dann wird die Welt verstehen und erkennen, gegen wen arme, sterbliche und schwache Wesen gestritten haben. Voller Angst und Schrecken werden sie zu den Bergen und Felsen rufen: "Fallet über uns und verberget uns vor dem Angesichte des, der auf dem Stuhl sitzt, und vor dem Zorn des Lammes! Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?" Offenbarung 6,16.17. LC 18 3 Eine ungeheure Menschenmenge folgte Jesus vom Richthause nach Golgatha, denn das Gerücht von seiner Verurteilung hatte sich über ganz Jerusalem verbreitet. Menschen aller Klassen und jeden Ranges strömten nach dem Platz der Kreuzigung. Die Jünger und Gläubigen aus der Stadt und Umgebung schlossen sich dem Zuge an, der dem Heiland folgte. Als Jesus durch das Tor vom Hause des Pilatus schritt, wurde das für Barabbas zugerichtete Kreuz auf seine verwundeten, blutenden Schultern gelegt. Dem leidenden, geschwächten Heiland war die Bürde zu schwer. Seit dem Passahmahl mit den Jüngern hatte er weder Speise noch Trank zu sich genommen. Er war von Hannas zu Kaiphas, von dort zu Pilatus, dann zu Herodes und wieder zu Pilatus geführt worden, hatte Beleidigungen und erneute Mißhandlungen, Spott und Hohn und zweimal die Qualen der Geißelungen ertragen. Christus war nicht unterlegen, er hatte kein Wort gesprochen, wenn es nicht zur Ehre Gottes notwendig war. Während des schändlichen Verhörs hatte er eine feste, würdige Haltung bewahrt. Als ihm aber nach der zweiten Geißelung das Kreuz aufgelegt wurde, konnte der Mensch Christus es nicht tragen. Ohnmächtig brach er unter der Last zusammen. LC 19 1 Da kommt ein Fremder, Simon von Kyrene, vom Lande herein des Weges. Er hört die Spottenden und den wüsten Lärm der Menge, vernimmt die voll Verachtung umgehenden Worte: Platz gemacht dem König der Juden! Erstaunt blickt er auf den Vorgang, und als er sein Mitleid ausdrückt, ergreift man ihn und legt ihm das Kreuz auf. ------------------------Kapitel 9: Frauen zeigen ihre Treue LC 20 2 Auch einige Frauen befinden sich unter der Menge, die dem Schuldlosen zur Stätte seines gräßlichen Todes folgen. Ihre Aufmerksamkeit ist besonders auf Jesus gerichtet. Einige kennen ihn von früher. Sie haben ihm ihre Kranken und Leidenden gebracht. Manche sind selbst geheilt worden. Sie erzählen sich von dem soeben Geschehenen und wundern sich über den Haß der Menge wider den, dem ihre Herzen entgegenschlagen und um deswillen sie fast brechen. Ungeachtet des Verhaltens der tobenden Menge, der zornigen Worte der Priester und Obersten sprechen diese Frauen ihre Teilnahme aus. Und als Jesus unterm Kreuze ohnmächtig zusammenbricht, ergehen sie sich in schmerzlichen Wehklagen. Obgleich er selbst, von der Sündenlast niedergedrückt, die größten Leiden erduldete, ergriff ihn der Kummer, und er blickte sie mit zärtlichem Mitleid an. "Ihr Töchter von Jerusalem", sagte er, "weinet nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder." Lukas 23,28. Er blickte über seine Umgebung hinaus in die Zukunft, auf die Zeit der Zerstörung Jerusalems. Er wußte, daß bei jenem schrecklichen Ereignis viele von denen, die jetzt über ihn weinten, mit ihren Kindern umkommen würden. Viele aus der Menge, die mit nach Golgatha zog, hatten den Heiland bei seinem Einzug in Jerusalem mit freudigen Rufen und Palmzweigen in den Händen begrüßt. Doch nicht wenige von denen, die damals sein Lob sangen, weil die anderen es auch taten, stimmten jetzt mit ein in den Schrei: "Kreuzige, kreuzige ihn!" Lukas 23,21. Als Christus in Jerusalem einzog, waren die Hoffnungen der Jünger aufs höchste gestiegen. Sie hatten sich eng um ihren Herrn geschart in dem Gefühl, daß es eine hohe Ehre sei, ihm zuzugehören. In seiner Erniedrigung folgten sie ihm nun aus der Ferne in schwerer Bekümmernis; Enttäuschung beugte sie nieder. Wie genau hatten sich Jesu Worte erfüllt: "In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir. Denn es steht geschrieben: ‚Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen.'" Matthäus 26,31. LC 20 1 An der Stätte der Kreuzigung wurden die Gefangenen an die Marterpfähle gebunden. Die beiden Übeltäter wehrten sich unter den Händen der Henkersknechte. Jesus war still. Seine Mutter, die Johannes, der geliebte Jünger, führte, war ihrem Sohn bis nach Golgatha gefolgt. Sie hatte ihn unter der Last des Kreuzes zusammenbrechen sehen und sich danach gesehnt, sein wundes Haupt mit ihrer Hand zu stützen und ihm die Stirn mit kühlem Wasser zu netzen; die einst an ihrem Busen ruhte. Aber dies traurige Vorrecht war ihr nicht vergönnt. Sie gab sich mit den Jüngern noch immer der Hoffnung hin, daß Jesus seine Macht offenbaren und sich seiner Feinde entledigen würde. Doch ihr entfiel aller Mut, wenn sie sich der Worte erinnerte, mit denen er gerade das vorausgesagt hatte, was sie nun sich erfüllen sah. Als die Übeltäter ans Kreuz gebunden wurden, sah sie in angstvoller Erwartung zu. Der den Toten Leben gegeben, sollte der sich kreuzigen lassen? Sollte der Sohn Gottes sich so grausam töten lassen? Sollte sie nicht mehr glauben können, daß Jesus der Messias war? Sollte sie Zeuge seiner Schande und seines Kummers sein, ohne ihm in seinem schweren Leiden beistehen zu dürfen? Sie sah seine Arme auf das Kreuz ausgestreckt. Hammer und Nägel wurden gebracht. Und als die Eisenspitzen durch sein zartes Fleisch getrieben werden, müssen die tiefgebeugten Jünger die Mutter Jesu ohnmächtig vom Schauplatz solcher Grausamkeiten tragen. ------------------------Kapitel 10: "Vater, vergib ihnen" LC 21 1 Der Heiland ließ keine Klage laut werden. Sein Angesicht blieb ruhig und gelassen. Doch große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Es regte sich keine mitleidige Hand, um ihm den Todesschweiß abzuwischen. Keine Worte der Teilnahme und unverbrüchlichen Treue vernahm sein Menschenherz. Und doch bat Jesus, während die Kriegsknechte ihr grausiges Werk verrichteten, für seine Feinde: "Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!" Lukas 23,34. Christus hat dies Gebet für die ganze Welt gesprochen. Es galt jedem Sünder, der lebte oder leben würde, vom Anfang bis zum Ende der Welt. Alle tragen Schuld an der Kreuzigung des Sohnes Gottes. Allen wird auch freiwillig Vergebung angeboten. "Wer da will", kann Frieden mit Gott haben und ewiges Leben ererben. LC 21 2 Kaum war Jesus ans Kreuz genagelt, so hoben starke Männer es auf und stießen es mit großer Gewalt in die vorbereitete Vertiefung. Der Sohn Gottes hatte dabei unsägliche Schmerzen. Pilatus ließ in Hebräisch, Griechisch und Lateinisch Jesus zu Häupten die Inschrift anbringen: "Dies ist der Juden König." Lukas 23,38. LC 21 3 Durch das Leiden Christi am Kreuze wurde die Weissagung erfüllt. Jahrhunderte vor der Kreuzigung hatte der Heiland das, was ihm widerfahren würde, mit den Worten vorausgesagt: "Hunde haben mich umgeben, und der Bösen Rotte hat mich umringt; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Ich kann alle meine Gebeine zählen; sie aber schauen und sehen ihre Lust an mir. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand." Psalm 22,17-19. Die Weissagung von seinen Kleidern erfüllte sich ohne Rat oder Einmischung der Freunde oder Feinde des Gekreuzigten. Die Soldaten, die ihn ans Kreuz genagelt hatten, erhielten sein Kleid. Christus hörte das Gezänk der Männer bei der Verteilung. Sein Gewand war ohne Naht von oben an gewirkt. Und sie sagten: "Lasset uns den nicht zerteilen, sondern darum losen, wes er sein soll." Johannes 19,24. In einer anderen Weissagung hatte der Heiland vorausgesagt: "Die Schmach bricht mir mein Herz und kränkt mich. Ich warte, ob's jemand jammere -- aber da ist niemand --, und auf Tröster -- aber ich finde keine. Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst." Psalm 69,21.22. Dem am Kreuze Sterbenden durfte ein betäubendes Getränk gereicht werden, um die Schmerzen zu mildern. Auch dem Heiland wurde es angeboten. Doch als er's schmeckte, schlug er's aus. Er wollte nichts nehmen, wodurch sein Geist getrübt wurde. Im Glauben wollte er sich fest an Gott halten. Das war seine einzige Kraft. Die Sinne zu betäuben, hätte Satan einen Vorteil einzuräumen bedeutet. LC 22 1 Noch als Jesus am Kreuze hing, ließen die Feinde ihre Wut an ihm aus. Priester, Oberste und Schriftgelehrte verhöhnten mit dem Pöbel den sterbenden Heiland. Bei der Taufe und bei der Verklärung hatte sich die Stimme Gottes vernehmen lassen und Christus als seinen Sohn bezeichnet. Auch eben vor dem Verrat hatte der Vater die Göttlichkeit des Sohnes gezeigt. Doch nun geschah keine Stimme vom Himmel. Er litt allein die Mißhandlungen und den Spott gottloser Menschen. LC 22 2 "Bist du Gottes Sohn", sagten sie, "so steig herab vom Kreuz!" "Er helfe sich selber, ist er Christus, der Auserwählte Gottes." Matthäus 27,40; Lukas 23,35. "Er hat anderen geholfen, und kann sich selber nicht helfen. Ist er Christus und König in Israel, so steige er nun vom Kreuz, daß wir sehen und glauben." Markus 15,31.32. Doch er wollte ja dem Sünder Hoffnung auf Vergebung und Gnade bei Gott verschaffen und nicht sich selbst retten. Darum hielt er am Kreuz aus. LC 22 3 Inmitten der Todesqualen aber schien Jesus ein Strahl des Trostes. Es war die Bitte des reumütigen Übeltäters. Zuerst hatten beide Männer, die mit Jesus gekreuzigt waren, ihn verlästert. Der eine wurde bei seiner Qual immer verzweifelter und trotziger; nicht aber der andre. Er war nicht so ein verhärteter Verbrecher. Durch böse Gesellschaft war er verführt worden, und er war besser als viele von denen, die unterm Kreuz standen und den Heiland schmähten. Im Richthause und auf dem Wege nach Golgatha war er dicht bei Jesus gewesen. Er hatte Pilatus urteilen hören: "Ich finde keine Schuld an ihm." Johannes 18,38. Er hatte sein göttliches Verhalten und seine verzeihende Liebe zu seinen Quälern beobachtet. Am Kreuze sieht er nun die Obersten Israels mit ihren giftigen Zungen eifern, den Herrn Jesus zu verspotten. Er sieht sie ihre Köpfe schütteln. Er hört die Schmähreden, in die auch sein Mitschuldiger einstimmt: "Bist du Christus, so hilf dir selbst und uns!" Lukas 23,39. Doch hört er manche Vorübergehenden auch Jesus verteidigen. Er hört sie von seinen Werken erzählen. Da wird's ihm zur Gewißheit: dieser ist Christus. Er wendet sich an seinen Mitverdammten und sagt: "Du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist?" Lukas 23,40. Die sterbenden Übeltäter haben von Menschen nichts mehr zu fürchten. Doch dem einen drängt sich die Überzeugung auf: Wie, wenn es einen Gott gibt? Die Zukunft macht ihn zittern. Sein Sündenleben geht dem Ende entgegen. Er seufzt: "Wir zwar sind billig darin, denn wir empfangen, was unsre Taten wert sind; dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan." Lukas 23,41. LC 23 1 Das ist ihm jetzt keine Frage. Da bestehen keine Zweifel mehr, noch nützen Vorwürfe. Wegen seines Verbrechens verdammt, haben ihn Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung übermannt. Doch plötzlich steigen ihm seltsame, wundervolle Gedanken auf. In dem zerschlagenen, verhöhnten, am Kreuze hangenden Jesus sieht er das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt. Hoffnung und Angst ringen in ihm, als er, das hilflose, dahinsterbende Geschöpf, sich an den sterbenden Heiland klammert. "Herr", schreit er, "gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst!" Lukas 23,42. ------------------------Kapitel 11: Trost für den Schächer LC 23 2 Er erhält sogleich Antwort. Warm, voll Wohlklang, Liebe, Mitleid und doch voll Kraft ertönen die Worte: "Wahrlich, ich sage dir heute: Mit mir wirst du im Paradiese sein." Lukas 23,43 (Reinhardt). Während die Obersten der Juden ihn verleugnen, selbst seine Jünger seine Gottheit bezweifeln, nennt der arme, an der Schwelle der Ewigkeit stehende Übeltäter Jesus einen Herrn. Viele waren bereit, ihn so anzureden, als er Wunder wirkte und nachdem er aus dem Grabe erstanden war. Aber als er sterbend am Kreuzesstamm hing, sah ihn niemand so an wie der reuige Übeltäter, der noch in letzter Stunde gerettet wurde. Die Umstehenden vernahmen die Worte des Übeltäters. Die Stimme des reumütigen Menschen fesselte ihre Aufmerksamkeit. Selbst die Kriegsknechte, die sich am Fuße des Kreuzes über sein Gewand stritten und darüber das Los warfen, horchten auf. Ihre zornigen Reden verstummten. Mit verhaltenem Atem schauten sie empor und warteten auf die Antwort von den Lippen des Sterbenden. LC 24 1 Als dieser die Verheißungsworte sprach, durchzuckte ein Lichtstrahl flammend hell die Wolke, die sich um die Kreuzigungsstätte lagerte. Da wußte sich der reuige Übeltäter bei Gott angenommen und hatte Frieden. Christus aber wurde in seiner Erniedrigung verherrlicht. Der in aller Augen besiegt schien, war Sieger. Er wurde als Träger der Sünden anerkannt. Da mögen Menschen ruhig an seinem Menschenleibe Macht haben. Mögen sie die heiligen Schläfen mit der Dornenkrone zerstechen, auch sein Gewand nehmen und sich streiten, wem es gehören soll. Die Kraft der Sündenvergebung aber kann ihm niemand rauben. Sterbend bezeugt er seine Gottheit und die Herrlichkeit des Vaters. Sein Ohr ist nicht hart geworden, daß er nicht hören, sein Arm nicht verkürzt, daß er nicht retten könne. Es ist sein königliches Recht, zu retten immerdar alle, die durch ihn zu Gott kommen. LC 24 2 "Ich sage dir heute: Mit mir wirst du im Paradiese sein." Lukas 23,43,Reinhard. Christus versprach dem Übeltäter nicht, daß er mit ihm am gleichen Tage im Paradies sein sollte; ging er selber doch an jenem Tage nicht ins Paradies. Er schlief im Grabe. Und am Auferstehungsmorgen sagte er: "Ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater." Johannes 20,17. Christus gab das Versprechen vielmehr am Tage der Kreuzigung, dem Tage scheinbarer Niederlage und Finsternis. "Heute", während Christus als Übeltäter am Kreuze stirbt, versichert er dem armen Sünder: "Mit mir wirst du im Paradiese sein." LC 24 3 Als Jesus seine Blicke über die umstehende Menge schweifen ließ, blieben sie auf einer Gestalt haften: am Fuße des Kreuzes stand seine Mutter, von dem Jünger Johannes gestützt. Sie mußte ihrem Sohn nahe sein. Als Johannes merkte, daß Jesu Ende nahte, hatte er sie wieder ans Kreuz gebracht. Christus gedachte in seiner Sterbestunde seiner Mutter. Er blickte zuerst in ihr kummervolles Angesicht, dann auf Johannes, und sagte zu ihr: "Weib, siehe, das ist dein Sohn!" Johannes 19,26. Und zu Johannes: "Siehe, das ist deine Mutter!" Johannes 19,27. Johannes verstand ihn und übernahm die ihm aufgetragene Pflicht. Er nahm Maria mit in sein Heim und sorgte von dieser Stunde an zärtlich für sie. O du mitleidsvoller, lieber Heiland! Trotz aller leiblichen Schmerzen und Seelenangst gedenkst du voll Fürsorge deiner Mutter! Er hatte kein Geld, um ihr Wohlergehen zu sichern, aber er hatte einen Platz im Herzen des Johannes und übergab diesem seine Mutter als köstliches Vermächtnis. Johannes liebte sie, weil sie Jesus liebte. Indem Johannes die Pflicht, für sie zu sorgen, auf sich nahm, empfing er großen Segen. Sie erinnerte ihn ständig an seinen geliebten Meister. LC 25 1 Und dann starb der Herr der Herrlichkeit zur Erlösung der Menschheit. Nicht munterte ihn triumphierende Freude auf, als er sein treues Leben dahingab. Alles war drückende Finsternis. Nicht daß der Schrecken des Todes ihn niederzog, nicht daß Schmach und Schande des Kreuzes seine unaussprechliche Qual verursachten: sein Leiden entsprang dem Bewußtsein des Sündenelends, der Erkenntnis, daß der Mensch durch seinen engen Umgang mit der Sünde gegen ihre Abscheulichkeit verblendet war. Er sah, wie tief die Sünde im Menschenherzen Wurzel geschlagen hat und wie wenige willens sind, mit ihr zu brechen. Er wußte, daß die Menschen ohne Gottes Hilfe verderben müssen. Ja, er sah Scharen dahinsterben, die die sichere Hilfe hätten ergreifen können. LC 25 2 Auf Christus als unsern Stellvertreter und Bürgen wurde unser aller Ungerechtigkeit gelegt. Er wurde zu den Übeltätern gerechnet, damit er uns von der Verdammnis des Gesetzes erlöste. Die Schuld aller Nachkommen Abrahams lastete schwer auf seinem Herzen. Der Zorn Gottes wegen der Sünde, die schreckliche Bekundung des Mißfallens an der Gottlosigkeit erfüllten den Sohn mit Schrecken. Christus hatte sein ganzes Leben lang der gefallenen Welt die gute Botschaft von der Gnade und verzeihenden Liebe des Vaters verkündet. Heil für die größten Sünder hatte er ausgerufen. Doch nun kann er wegen des schrecklichen Gewichtes der Schuld, die er trägt, des Vaters versöhnendes Antlitz nicht sehen. Ein Schmerz, den Menschen nimmer verstehen können, durchdrang das Herz der Heilandes, als ihm in höchster Not Gott nicht mehr nahe war. Sein Seelenschmerz war so groß, daß er keinen körperlichen Schmerz verspürte. LC 26 1 Satan bestürmte den Heiland mit grimmigen Versuchungen. Christus fürchtete, daß Gott die Sünde so hasse, daß sie auf ewig getrennt seien. Er fühlte die Angst, die der Sünder empfinden wird, wenn Gnade nicht mehr fürbittend für die schuldige Menschheit eintritt. Es war das Bewußtsein der Sünde, die des Vaters Zorn auf ihn als den Stellvertreter der Menschen heraufbeschwor, das den Kelch, den er trank, so bitter machte und dem Sohn Gottes das Herz brach. Mit Staunen beobachteten Engel den verzweifelten Seelenkampf des Heilandes. Die himmlischen Scharen verhüllten ihre Angesichter vor diesem schrecklichen Anblick. Selbst die leblose Natur drückte ihr Mitgefühl mit ihrem mißhandelten, sterbenden Schöpfer aus. Ihre hellen, lichten Mittagsstrahlen hatten eben noch die Erde erleuchtet, da plötzlich schienen sie verhalten. Pechschwarze Finsternis wie Trauerflor hüllte das Kreuz ein und deckte "das ganze Land bis zu der neunten Stunde." Matthäus 27,45. LC 26 2 Es war keine Sonnenfinsternis, die diese Dunkelheit veranlaßte; sie war ein wunderbares Zeugnis, das Gott gegeben hatte, um den Glauben späterer Geschlechter zu stärken. In dieser dichten Finsternis war Gottes Gegenwart verborgen. LC 26 3 Ohne göttliche Unterstützung sollte sein Opfer gebracht werden. Er trat die Kelter allein -- "niemand unter den Völkern" war mit ihm. LC 26 4 In dichtes Dunkel hüllte Gott die letzte Seelenqual des Mensch gewordenen Sohnes. Viele, die Christus im Leiden gesehen hatten, waren von seiner Göttlichkeit überzeugt worden. Wer sein Angesicht einmal sah, konnte es nicht wieder vergessen. Aber die Verfolger achteten nicht auf dessen himmlisches Gepräge. Stundenlang weidete sich die höhnende Menge an seinen Schmerzen. Da verhüllte Gott ihn gnädiglich. ------------------------Kapitel 12: Grabesstille herrscht auf Golgatha LC 27 1 Grabesstille herrschte auf Golgatha. Namenloser Schrecken bemächtigte sich der das Kreuz umstehenden Menge. Das Fluchen und Schmähen erstarb halb ausgesprochen auf zitternden Lippen. Männer, Frauen und Kinder fielen machtlos zu Boden. Grelle Blitze fuhren dann und wann aus den Wolken und beleuchteten das Kreuz mit dem sterbenden Erlöser. Priester, Oberste, Schriftgelehrte, Henkersknechte und Volk glaubten, die Stunde der Vergeltung sei gekommen. LC 27 2 Um die neunte Stunde fing die Dunkelheit an zu weichen. "Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut und sprach: Eli, Eli, lama asabthani? das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Matthäus 27,46. Und dann erwachte er zum Bewußtsein seiner körperlichen Schmerzen und sagte: "Mich dürstet!" Johannes 19,28. Einer der römischen Soldaten nahm aus Mitleid, als er die trockenen Lippen des Gekreuzigten sah, einen Schwamm, steckte ihn auf ein Ysoprohr, tauchte ihn in Essig und reichte ihn Jesus. Aber die Priester spotteten seiner Qual. Als die Finsternis die Erde bedeckte, hatten sie sich gefürchtet. Nun aber sagten sie mit bitterer Verachtung und Hohn: "Der ruft den Elia ... Halt, laß sehen, ob Elia komme und ihm helfe." Matthäus 27,47.49. LC 27 3 Dort hing der makellose Gottessohn am Kreuze. Sein Fleisch von den Streichen zerfetzt; die Hände, die sich oft segnend ausstreckten, an den Holzstamm genagelt; die Füße, die unermüdlich viele Liebesgänge gemacht hatten, schmählich angeheftet; das königliche Haupt von der Dornenkrone verwundet; die zitternden Lippen zum Schmerzensschrei verzerrt. Alles, was der Heiland erduldete -- das Herabsickern der Blutstopfen von seinem Haupt, seinen Händen und Füßen, die Todespein, die sein Äußeres entstellte, die unaussprechliche Angst, die seine Seele erfüllte, als der Vater sein Angesicht vor ihm verbarg --, das alles spricht zu jedem Menschenkinde: Nur deinetwegen ist Gottes Sohn bereit, die Schuldenlast zu tragen. Für dich zerstört er des Todes Herrschaft, öffnet er des Paradieses Pforten. Der das stürmische Meer stillte und auf den schäumenden Wogen einherwandelte, der die Teufel erzittern machte und Krankheiten bannte, der den Blinden die Augen öffnete und die Toten ins Leben zurückrief, bringt sich selbst dir zuliebe am Kreuze als Opfer dar. Der Sündenträger erduldet den Zorn der göttlichen Gerechtigkeit und wird um deinetwillen selbst zur Sünde. LC 28 1 Stillschweigend warteten die Zuschauer auf das Ende dieses Schreckensvorganges. Da rief Jesus: "Es ist vollbracht!" Johannes 19,30. "Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!" Lukas 23,46. Dann neigte er sein Haupt auf die Brust und verschied. Inmitten der furchtbaren Finsternis, scheinbar von Gott verlassen, hatte Christus die letzten Tropfen des Leidenskelches geleert. In diesen schrecklichen Stunden hatte er sich auf die vorher gegebene Verheißung verlassen, daß der Vater sein Opfer annehmen werde. Er kannte den Vater und stützte sich auf dessen Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und große Liebe. Glaubend verließ er sich auf Gott, dem er immer freudig gehorcht hatte. Und da er sich in Untertänigkeit Gott übergab, verschwand das Gefühl, die Gnade seines Vaters verloren zu haben. Durch den Glauben war Christus zum Sieger geworden. LC 28 2 Nie zuvor war die Erde Zeuge eines solchen Vorganges gewesen. Die Menge stand wie gelähmt und starrte mit verhaltenem Atem den Heiland an. Da hörte sie dumpfes Rollen gleich schwerem Donner. Es geschah ein heftiges Erdbeben. Sie wurde durcheinander geworfen. Überall wildeste Verwirrung und Bestürzung. In den umliegenden Bergen zerbarsten Felsen und stürzten in die Täler. Gräber taten sich auf, und die Toten wurden herausgeworfen. Es schien, als zerfiele die ganze Schöpfung Gottes. Die erschütterten, zitternden Menschen lagen stumm auf dem Boden. LC 28 3 Als Jesus den Schrei ausstieß: "Es ist vollbracht!" (Johannes 19,30) dienten die Priester gerade im Tempel. Es war die Zeit des Abendopfers. Das Lamm, das Christus darstellte, war herbeigebracht worden, um geschlachtet zu werden. Angetan mit seinem bedeutungsvollen, herrlichen Kleide stand der Priester mit erhobenem Messer wie ehedem Abraham, als er seinen Sohn opfern wollte. In großer Spannung schaute das Volk zu. Da zerriß eine unsichtbare Hand den inneren Vorhang des Tempels von oben bis unten. Der Ort, wo Gott einst gegenwärtig gewesen war, war nun den Blicken der Menge geöffnet. Hier hatte die Schechina geweilt, hier hatte Gott über dem Gnadenstuhl seine Herrlichkeit offenbart. Nur der Hohepriester hatte den Vorhang, der dies Gemach vom übrigen Tempel trennte, gelüftet, wenn er einmal im Jahre hineinging, um die Sünden des Volkes zu versöhnen. Doch siehe, nun ist der Vorhang zerrissen: das Allerheiligste des irdischen Heiligtums ist nicht mehr heilig, es ist kein Ort mehr der Gegenwart Gottes. LC 29 1 Überall Schrecken und Verwirrung. Der Priester will gerade das Opfer schlachten. Das Messer entfällt der entnervten Hand, und das Lamm läuft davon. Der Schatten hat sich mit dem Tode des Sohnes Gottes im Wesen aufgelöst. Das große Opfer ist dargebracht, der Weg ins Allerheiligste geöffnet, ein neuer, lebendiger Weg allen bereitet. Nicht länger brauchen sündige, reuige Menschen auf den Hohenpriester zu warten. Von nun an wird der Heiland als Priester und Fürsprecher in den Himmeln dienen. Er hat durch sein Blut eine ewige Erlösung erfunden. LC 29 2 Als die Dunkelheit schwand, als der Sterberuf des Heilandes verklungen war, ließ sich eine Stimme vernehmen: "Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!" Matthäus 27,54. Aller Augen wandten sich nach der Richtung, woher die Worte kamen. Wer hatte sie gesprochen? Es war der Hauptmann, der römische Soldat. Die göttliche Geduld des Heilandes, sein plötzlicher Tod unter dem Siegesruf von seinen Lippen hatten Eindruck auf diesen Heiden gemacht. Und er erkannte in dem zerschlagenen Körper am Kreuz die Gestalt des Sohnes Gottes. Er konnte nicht anders, er mußte seinen Glauben bekennen. Damit war wieder ein Beweis für die Wahrheit der Weissagung erbracht, daß unser Erlöser sehen werde, wofür seine Seele gearbeitet hat. An seinem Todestage bekannten drei grundverschiedene Männer ihren Glauben an ihn: der Befehlshaber der römischen Wache, der Kreuzträger und der Übertäter am Kreuze. ------------------------Kapitel 13: Satan hat sein Reich verloren LC 29 3 "Es ist vollbracht!" Johannes 19,30. Der Kampf ist gewonnen. Als Sieger richtet Christus sein Banner auf den ewigen Höhen auf. Der ganze Himmel triumphiert über den Sieg des Heilandes. Satan ist geschlagen und weiß, daß sein Reich verloren ist. LC 30 1 Als Jesus in die Welt kam, stand Satans Macht wider ihn. Von der Zeit an, da er als Kindlein in Bethlehem erschien, versuchte der Thronräuber ihn zu vernichten und auf alle mögliche Weise zu verhindern, daß Jesus sich zu einem vollkommenen Kind, einem fehlerfreien Mann, zu einem heiligen Lehrer und einem fleckenlosen Opfer entwickelte. Doch er wurde geschlagen. Er konnte Jesus nicht zur Sünde verleiten, konnte ihn weder entmutigen noch an dem Werk hindern, um deswillen er auf die Erde gekommen war. Von der Wüste bis nach Golgatha umtobte den Heiland der Sturm des Zornes Satans; aber je erbarmungsloser dieser angriff, desto fester hielt sich der Sohn Gottes an seines Vaters Hand. LC 30 2 Der ganze Himmel und alle nichtgefallenen Welten waren Zeuge des Kampfes. Mit welch großer Anteilnahme verfolgten sie den Ausgang des Streites! Wäre eine Sünde an Christus zu finden gewesen, hätte er auch nur in einer Kleinigkeit Satan nachgegeben, um den schrecklichen Qualen zu entgehen, dann würde der Feind Gottes und der Menschen triumphiert haben. Christus neigte sein Haupt und starb, aber er bewahrte seinen Glauben und seinen Gehorsam gegen Gott. "Und ... eine große Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unsers Gottes geworden und die Macht seines Christus, weil der Verkläger unserer Brüder verworfen ist, der sie verklagte Tag und Nacht vor Gott." Offenbarung 12,10. LC 30 3 Wer die Größe des unermeßlichen Opfers erfassen lernt, das der Himmel darbrachte, indem Jesus für die Sünder starb, der wird das Heil Gottes preisen. In seinem Herzen wird die Erinnerung an Golgatha heiligen, beständigen Widerklang finden. Sein Herz und seine Lippen fließen über von Lob und Preis gegen Gott und das Lamm. Stolz und Selbstliebe können nicht in einem Herzen gedeihen, das die Eindrücke der Vorgänge von Golgatha in sich aufgenommen hat. LC 30 4 Die Vorgänge auf Golgatha müssen das Herz tief rühren. An ihnen dürfte fürwahr kein Mensch ohne Anteilnahme vorübergehen. Mit unsern Gedanken können wir nimmer fassen, daß der unschuldige, heilige Jesus einen so qualvollen Tod erleiden und die Sündenlast der Welt tragen mußte. Die unvergleichlich große Liebe des Heilandes sollte unsere Gedanken ganz in Anspruch nehmen, unser Empfinden rühren und erweichen, unsere Begierden läutern und veredeln und unser ganzes Wesen völlig umgestalten. Nichts anderes meint der Apostel Paulus, wenn er sagt: "Ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, als allein Jesum Christum, den Gekreuzigten." 1.Korinther 2,2. Und wenn wir unsere Blicke unentwegt auf Golgatha richten, müssen auch wir in den Ruf einstimmen: "Es sei aber ferne von mir, mich zu rühmen, denn allein von dem Kreuz unsers Herrn Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt." Galater 6,14. Unser Wissen vom Leben, Leiden und Sterben des teuren Gottessohnes muß umfangreicher und tiefgründiger werden. Erst wenn wir recht über das Versöhnungswerk nachdenken, werden wir den unermeßlichen Wert unsres Seelenheils erkennen. Im Vergleich zu dem, was Gott unternommen hat, um uns ewiges Leben sicherzustellen, sind alle menschlichen Unternehmungen nichts. Doch wie viele kehren sich nicht an den Heiland! Ihre Herzen haben sich der Welt zugewandt. Selbstsucht verschließt die Türen, vor denen Gottes Sohn vergeblich um Einlaß bittet. Hohle Heuchelei und eitler Stolz, Eigenliebe und Trachten nach irdischem Gewinn, Neid und Bosheit haben nur zu viele Herzen so völlig erfüllt, daß für Jesus kein Raum darin bleibt. LC 31 1 Er war unendlich reich und wurde um unsertwillen arm, daß wir durch seine Armut reich würden. Licht und Herrlichkeit waren sein Gewand; himmlische Heerscharen, seiner Befehle wartend, umgaben ihn. Doch er wurde uns gleich und nahm Wohnung unter sündigen Menschen. "Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater gezeigt, daß wir Gottes Kinder sollen heißen!" 1.Johannes 3,1. Solche Liebe kann keine Feder beschreiben. Ihre Allmacht, durch Vater und Sohn an uns erwiesen, muß unsre Herzen beleben, veredeln, hinreißen. "Ein jeglicher, der solche Hoffnung hat zu ihm, der reinigt sich, gleichwie Er auch rein ist." 1.Johannes 3,3. Die Nachfolger Jesu sollen an dem Leiden Christi, das er um unsertwillen erduldete, lernen, seine geheimnisvolle Liebe in ihrem Leben widerzuspiegeln. Das ist die Vorbedingung dazu, daß sie an dem Lobgesang der Erlösten teilnehmen können.