Leben und Wirken von Ellen G. White

Kapitel 2

Meine Bekehrung

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Im März 1840 kam William Miller nach Portland, Maine, und hielt eine Reihe Vorträge über das zweite Kommen Christi. Diese Vorträge erregten großes Aufsehen, und die "Christliche Kirche" an der Cascostraße, wo die Vorträge gehalten wurden, war tags und abends gefüllt. Es zeigte sich in den Versammlungen keine wilde Aufregung, aber ein tiefer Ernst erfüllte die Herzen der Zuhörer. Nicht nur wurde in der Stadt selbst großes Interesse bekundet, sondern auch die Landleute strömten Tag für Tag in Scharen herbei, brachten ihr Essen in Körben mit und blieben vom Morgen bis zum Schluss der Abendversammlung da.

In Gesellschaft meiner Freunde besuchte auch ich diese Versammlungen. Herr Miller führte uns die prophetischen Ketten vor mit einer Genauigkeit, welche die Herzen seiner Zuhörer überzeugte. Er sprach über die prophetischen Zeitperioden und führte viele Beweise vor, um seine Stellung zu stärken. Seine ernsten und kräftigen Bitten und Mahnungen an diejenigen, die noch unvorbereitet waren, hielten die Massen wie gebannt.

Jugendeindrücke

Vier Jahre vorher hatte ich auf meinem Wege zur Schule ein Stück Papier aufgelesen mit einem Bericht von einem Manne in England, der besagte, dass die Erde in ungefähr dreißig Jahren von jener Zeit an verzehrt werden würde. Ich nahm das Stück Papier heim und las es der Familie vor. Beim Nachdenken über das vorausgesagte Ereignis wurde ich von Schrecken ergriffen; die Zeit schien mir so kurz für die Bekehrung und das Heil der Welt. Ein so tiefer Eindruck wurde durch den kleinen Paragraphen auf dem Stück Papier auf mein Gemüt gemacht, dass ich während mehrerer Nächte kaum schlafen konnte und beständig betete, doch bei der Wiederkunft Jesu bereit zu sein.

Mir war gelehrt worden, dass es vor dem Kommen Christi in den Wolken des Himmels ein irdischen Millennium geben werde; aber nun hörte ich die überraschende Ankündigung, dass Christus im Jahre 1843 -- also schon nach wenigen kurzen Jahren -- kommen werde.

Eine geistliche Erweckung

Es wurden besondere Versammlungen anberaumt, in denen Sünder eine Gelegenheit bekommen könnten, ihren Heiland zu suchen und sich auf die schrecklichen Ereignisse vorzubereiten, die bald stattfinden sollten. Über die ganze Stadt hin verbreitete sich Gewissensangst und Schrecken. Gebetsversammlungen wurden angefangen, und ein allgemeines Aufwachen fand in den verschiedenen Gemeinschaften statt; denn sie alle fühlten mehr oder weniger den Einfluß, der von der Lehre von der nahen Wiederkunft Christi ausging.

Wenn Sünder eingeladen wurden, nach vorn zur Bußbank zu kommen, leisteten Hunderte dem Rufe Folge; und auch ich drängte mich unter den andern durch die Menge und nahm meinen Platz unter den Suchenden ein. Aber in meinem Herzen war ein Gefühl, dass ich niemals würdig werden könne, ein Kind Gottes genannt zu werden. Ich hatte oft um den Frieden, der in Christo ist, gebeten; aber ich schien die gewünschte Freiheit nicht finden zu können. Eine schreckliche Traurigkeit ruhte auf meinem Herzen. Ich konnte an nichts denken, das ich getan hatte, das dies traurige Gefühl in mir verursacht haben könnte; aber es schien mir, dass ich nicht gut genug sei, um in den Himmel kommen zu können, dass so etwas viel zu gut sei, als dass ich es erwarten könne.

Mangel an Vertrauen in mich selbst und die Überzeugung, dass es mir unmöglich sein werde, irgend jemand zum Verständnis meiner Gefühle zu bringen, hielten mich davon ab, Rat und Hilfe bei meinen christlichen Freunden zu suchen. In dieser Weise wanderte ich unnötig in Finsternis und Verzweiflung dahin, während sie, die meine Zurückhaltung nicht erkannten, nichts von meinem wahren Zustande wußten.

Gerechtigkeit durch den Glauben

Im folgenden Sommer gingen meine Eltern nach der Methodisten-Lagerversammlung in Burton, Maine, und nahmen mich mit. Ich war völlig entschlossen, den Herrn dort im rechten Ernst zu suchen und, wenn möglich, Vergebung meiner Sünden zu erlangen. Es war ein großes Verlangen in meinem Herzen nach der Hoffnung des Christen und dem Frieden, der durch den Glauben kommt.

Ich wurde sehr ermutigt, während ich einer Predigt zuhörte über die Worte: "Und also will ich zum Könige hineingehen ... komme ich um, so komme ich um." Ester 4,16. In seinen Bemerkungen nahm der Prediger Bezug auf diejenigen, die zwischen Hoffnung und Furcht schwankten, sich danach sehnten, von ihren Sünden gerettet und der verzeihenden Liebe Christi teilhaftig zu werden, aber in Zweifel und Knechtschaft gehalten werden durch Schüchternheit und Furcht vor Mißlingen. Er riet solchen, sich Gott zu ergeben und sich ohne Verzug auf seine Gnade zu verlassen. Sie würden einen gnädigen Heiland finden, der bereit sei, ihnen das Zepter der Barmherzigkeit darzureichen, wie Ahasveros der Königin Ester das Zeichen seiner Gunst darreichte. Alles, was von dem in der Gegenwart seines Herrn zitternden Sünder gefordert werde, sei, die Hand des Glaubens auszustrecken und das Zepter seiner Gnade zu berühren. Diese Berührung sichere Vergebung und Frieden.

Diejenigen, die warten, um sich selber der göttlichen Gunst würdiger zu machen, ehe sie es wagen, die Verheißungen Gottes zu beanspruchen, begehen einen ernsten Fehler. Jesus allein reinigt von Sünde; nur er kann unsere Übertretungen vergeben. Er hat sein Wort gegeben, unsere Bitten zu hören und das Gebet derer zu gewähren, die im Glauben zu ihm kommen. Viele haben eine unbestimmte Idee, dass sie eine wunderbare Anstrengung machen müßten, um die Gunst Gottes zu gewinnen. Aber alles Selbstvertrauen ist vergeblich. Nur indem der Sünder sich durch den Glauben mit Jesu verbindet, wird er ein hoffnungsvolles, gläubiges Kind Gottes.

Diese Worten trösteten mich und gaben mir einen Begriff von dem, was ich tun müßte, um selig zu werden.

Nun fing ich an, meinen Weg klarer zu sehen, und die Finsternis begann zu schwinden. Ich betete ernstlich um Vergebung meiner Sünden und strebte danach, mich gänzlich dem Herrn zu geben. Aber ich war oft in großer Angst, weil ich nicht die geistlichen überschwenglichen Gefühle hatte, die ich für einen Beweis meiner Annahme bei Gott hielt, und ich wagte nicht zu glauben, dass ich ohne dieselben bekehrt sei. Wie sehr ich doch der Belehrung betreffs der Einfalt des Glaubens bedurfte!

Die Bürde weggenommen

Während ich mit andern, die den Herrn suchten, vor dem Altar gebeugt war, lautete die Sprache meines Herzens: "Hilf, Jesus, rette mich, oder ich verderbe! Ich werde nicht aufhören, zu bitten, bis mein Gebet erhört ist und meine Sünden vergeben sind." Ich fühlte meinen bedürftigen, hilflosen Zustand wie nie vorher. Während ich kniete und betete, verließ mich plötzlich meine Bürde, und mein Herz war erleichtert. Zuerst kam ein Gefühl der Bestürzung über mich, und ich versuchte, meine Bürde der Herzensangst wieder aufzunehmen. Es schien mir, ich habe kein Recht, mich freudig und glücklich zu fühlen. Aber Jesus schien mir sehr nahe, und ich fühlte mich imstande, mit allen meinen Kümmernissen, Heimsuchungen und Prüfungen zu ihm zu kommen, gerade wie die Bedürftigen um Hilfe zu ihm kamen, als er auf Erden war. Es war eine Gewißheit in meinem Herzen, dass er meine besonderen Prüfungen verstehe und mit mir sympathisiere. Niemals kann ich diese köstliche Versicherung der mitleidsvollen Liebe Jesu gegen eine, die seiner Beachtung so unwürdig war, vergessen. Ich lernte in jener kurzen Zeit, als ich mit den Betenden niedergekniet war, mehr von dem göttlichen Charakter Christi als je vorher.

Eine der Mütter in Israel kam zu mir und sagte: "Liebes Kind, hast du Jesum gefunden?" Ich war im Begriffe, mit "Ja" zu antworten, als sie ausrief: "Ja, du hast ihn gefunden; sein Friede ist mit dir, ich sehe es dir am Gesicht an."

Wieder und wieder sagte ich zu mir selber: "Kann dies Religion sein? Irre ich mich nicht?" Es schien mir zu viel zu sein, um es beanspruchen zu können, ein zu hohes Vorrecht. Obgleich zu schüchtern, um es offen zu bekennen, fühlte ich, dass der Heiland mich gesegnet und mir meine Sünden vergeben hatte.

"In einem neuen Leben"

Bald darauf schloß die Lagerversammlung, und wir machten uns auf die Heimreise. Meine Gedanken waren voll von den Predigten, Ermahnungen und Gebeten, die wir gehört hatten. Alles in der Natur schien verändert zu sein. Während eines großen Teiles der Versammlung hatten wir Wolken und Regen gehabt, und meine Gefühle waren in Harmonie mit dem Wetter gewesen. Nun aber schien die Sonne klar und hell und überflutete die Erde mit Licht und Wärme. Die Bäume und das Gras hatten ein frischeres Grün, der Himmel ein tieferes Blau. Die Erde schien unter dem Frieden Gottes zu lächeln. So hatten die Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit die Wolken und das Dunkel meines Gemüts durchdrungen und die düsteren Schatten verscheucht.

Es schien mir, dass ein jeder im Frieden mit Gott und von seinem Geiste belebt sein müßte. Alles, worauf meine Augen ruhten, schien einen Wechsel durchgemacht zu haben. Die Bäume waren schöner, und die Vögel sangen lieblicher als je zuvor; sie schienen den Schöpfer in ihren Gesängen zu loben. Ich wollte nicht gern sprechen, aus Furcht dieses Glück möchte schwinden und ich könnte den köstlichen Beweis der Liebe Jesu zu mir verlieren.

Mein Leben erschien mir in einem andern Lichte. Die Heimsuchung, die meine Kindheit verdunkelt hatte, schien mir in Barmherzigkeit auferlegt worden zu sein, zu meinem Besten, um mein Herz von der Welt und ihren unbefriedigenden Vergnügungen abzuziehen und es den dauernden Reizen des Himmels geneigt zu machen.

Anschluß an die Methodistenkirche

Bald nach unserer Rückkehr von der Lagerversammlung wurde ich samt mehreren anderen auf Probe in die Gemeinde aufgenommen. Meine Gedanken beschäftigten sich sehr viel mit der Taufe. So jung ich auch war, konnte ich doch sehen, dass nur eine Form der Taufe in der Heiligen Schrift autorisiert wird, und zwar die durch Untertauchen. Einige meiner Methodistenschwestern versuchten vergeblich, mich zu überzeugen, dass Besprengen die biblische Taufe sei. Der Methodistenprediger willigte ein, die Kandidaten unterzutauchen, wenn sie aus Gewissensgründen jene Methode bevorzugten, obgleich er andeutete, dass das Besprengen bei Gott gerade so annehmbar sei.

Endlich wurde die Zeit anberaumt, zu welcher diese heilige Handlung an uns vollzogen werden sollte. Es war ein windiger Tag, als wir, zwölf an der Zahl, in das Meer hinunter gingen, um getauft zu werden. Die Wellen gingen hoch und schlugen auf das Ufer nieder; aber als ich dies schwere Kreuz auf mich nahm, war mein Friede wie ein Wasserstrom. Als ich aus dem Wasser herausstieg, war meine Kraft beinahe geschwunden, denn die Kraft des Herrn ruhte auf mir. Ich fühlte, dass ich hinfort nicht mehr von dieser Welt sei, sondern dass ich aus diesem Wassergrabe zu einem neuen Leben auferstanden sei.

Am Nachmittag desselben Tages wurde ich als volles Glied in die Gemeinde aufgenommen.