Leben und Wirken von Ellen G. White

Kapitel 4

Anfang meines öffentlichen Wirkens

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Bis zu dieser Zeit hatte ich niemals öffentlich gebetet und nur ein paar schüchterne Worte in Gebetsversammlungen gesprochen. Ich bekam jetzt den starken Eindruck, dass ich in unseren kleinen Gebetsversammlungen Gott im Gebet suchen solle. Dies wagte ich aber nicht zu tun aus Furcht, verwirrt zu werden und meine Gedanken nicht ausdrücken zu können. Aber diese Pflicht wurde meinem Gemüt so eindrücklich vorgeführt, dass es mir, wenn ich im geheimen betete, wie ein Verspottung Gottes schien, weil ich es unterlassen hatte, seinem Willen nachzukommen. Verzweiflung überwältigte mich, und drei lange Wochen hindurch durchdrang sein Lichtstrahl das Dunkel, das mich umgab.

Mein Seelenleiden war sehr stark. Manchmal wagte ich es eine ganze Nacht hindurch nicht, meine Augen zu schließen, sondern wartete, bis meine Zwillingsschwester fest eingeschlafen war; dann verließ ich leise mein Bett, kniete auf dem Boden nieder und betete still in einem stummen Schmerz, der nicht beschrieben werden kann. Die Schrecken einer ewig brennenden Hölle waren immer vor mir. Ich wußte, dass es mir unmöglich sein werde, in diesem Zustande lange zu leben, und ich wagte es nicht, zu sterben und dem schrecklichen Schicksal des Sünders anheimzufallen. Mit welchem Neide betrachtete ich diejenigen, die sich ihrer Annahme bei Gott bewußt waren! Wie köstlich schien meiner schmerzgebeugten Seele die Hoffnung des Christen!

Häufig blieb ich fast die ganze Nacht im Gebet gebeugt, seufzend und zitternd in unaussprechlichem Herzensschmerz und in einer Hoffnungslosigkeit, die alle Beschreibung übersteigt. "Herr, erbarme dich meiner", war meine Bitte; und wie der arme Zöllner, wagte ich nicht, meine Augen gen Himmel zu erheben, sondern beugte mein Angesicht auf den Boden. Ich wurde sehr mager und entkräftet, behielt aber mein Leiden und meine Verzweiflung für mich.

Der Traum vom Tempel und vom Lamme

Während ich mich in diesem Zustande der Niedergeschlagenheit befand, hatte ich einen Traum, der einen tiefen Eindruck auf mich machte. Mir träumte, ich sähe einen Tempel, in welchen viele Personen hinein strömten. Nur diejenigen, die in jenem Tempel Zuflucht suchten, würden errettet werden, wenn die Zeit abschließen werde; alle, die draußen blieben, würden auf immer verloren sein. Die draußen befindlichen großen Massen, die ihren verschiedenen Wegen nachgingen, verspotteten und verlachten diejenigen, die in den Tempel hineingingen, und sagten ihnen, dass dieser Plan der Sicherheit eine schlaue Täuschung und dass tatsächlich gar keiner Gefahr irgendwelcher Art zu entgehen sei. Sie ergriffen sogar einige, um sie daran zu hindern, schnell in den Platz innerhalb der Mauern zu kommen.

Da ich fürchtete, verhöhnt zu werden, hielt ich es für das Beste, zu warten, bis sich die Menge zerstreut habe, oder bis ich, unbeachtet von ihr, eintreten könnte. Aber ihre Zahl nahm zu, anstatt abzunehmen, und da ich fürchtete, zu spät zu kommen, verließ ich schnell mein Heim und drängte mich durch die Menge. In meinem Streben, den Tempel zu erreichen, beachtete ich die mich umgebenden Massen nicht oder gab nichts um sie.

Beim Betreten des Gebäudes sah ich, dass der große Tempel von einer einzigen großen Säule gestützt wurde, und an diese war ein Lamm gebunden, welches ganz verstümmelt war und blutete. Wir, die anwesend waren, schienen zu wissen, dass dieses Lamm um unseretwillen verwundet und geschlagen war. Alle, die den Tempel betraten, mußten vor dasselbe kommen und ihre Sünden bekennen. Gerade vor dem Lamm waren erhöhte Sitze, auf welchen eine Schar saß, die sehr glücklich aussah. Das Licht des Himmels schien auf ihre Angesichter zu strahlen, und sie lobten Gott und sangen frohe Danklieder, die wie Engelmusik klangen. Dies waren diejenigen, die vor das Lamm gekommen waren, ihre Sünden bekannt und Vergebung erhalten hatten und jetzt froher Hoffnung eines freudigen Ereignisses harrten.

Selbst nachdem ich das Gebäude betreten hatte, kam eine Furcht und ein Gefühl der Scham über mich, dass ich mich vor diesen Leuten demütigen müsse; aber ich schien gezwungen zu sein, vorwärts zu gehen, und machte langsam meinen Weg um die Säule herum, um vor das Lamm zu treten, als eine Posaune ertönte; der Tempel erbebte, Triumphesrufe stiegen auf von den versammelten Heiligen, eine furchtbare Helle erleuchtete das Gebäude; dann war alles dichte Finsternis. Die glücklichen Leute waren alle mit der Helle verschwunden, und ich war in dem stillen Schrecken der Nacht allein gelassen.

Ich erwachte in Seelenschmerz und konnte mich kaum davon überzeugen, dass ich geträumt hatte. Es schien mir, dass mein Schicksal besiegelt sei, dass der Geist des Herrn mich verlassen habe, um nie zurückzukommen.

Ein Traum, in dem ich Jesum sah

Bald darauf hatte ich einen andern Traum. Ich schien in großer Verzweiflung mit meinem Gesicht in meinen Händen dazusitzen und folgendermaßen nachzusinnen. Wenn Jesus auf Erden wäre, so würde ich zu ihm gehen, mich zu seinen Füßen werfen und ihm alle meine Leiden erzählen. Er würde sich nicht von mir abwenden; er würde mir Gnade erweisen, und ich würde ihn immer lieben und ihm immer dienen.

Gerade dann wurde die Tür geöffnet, und eine Person von schönem Bau und Gesichtsausdruck trat herein. Sie sah mich mitleidsvoll an und sagte: "Wünschest du Jesum zu sehen? Er ist hier, und du kannst ihn sehen, wenn du es wünschest. Nimm alles, was du besitzest, und folge mir."

Ich hörte dies mit unaussprechlicher Freude und packte frohen Herzens alle meine kleinen Habseligkeiten, jeden kleinen Schatz, zusammen und folgte meinem Führer. Er führte mich zu einer steilen und anscheinend gebrechlichen Treppe. Als ich die Stufen hinauf zu gehen begann, mahnte er mich, meine Augen aufwärts gerichtet zu halten, damit ich nicht schwindelig werde und falle. Viele andere, die den steilen Aufstieg hinaufkletterten, fielen, ehe sie die Spitze erreichten.

Endlich erreichten wir die letzte Stufe und standen vor einer Tür. Hier wies mich mein Führer an, alle Dinge, die ich mit mir gebracht hatte, zu lassen. Ich legte sie alle freudig hin. Dann öffnete er die Tür und gebot mir, einzutreten. In einem Augenblick stand ich vor Jesu. Man konnte jenes liebliche Angesicht nicht verkennen; jener Ausdruck des Wohlwollens und der Majestät konnte keinem anderen angehören. Als sein Blick auf mir ruhte, wußte ich sofort, dass er mit allen meinen Lebensumständen und mit allen meinen inneren Gedanken und Gefühlen bekannt war.

Ich versuchte, mich vor seinem Blicke zu verbergen, da ich mich unfähig fühlte, sein forschendes Auge zu ertragen; aber er näherte sich mir mit einem Lächeln und sagte, indem er seine Hand auf meinen Kopf legte: "Fürchte dich nicht!" Der Klang seiner lieblichen Stimme erfüllte mein Herz mit einem Glück und einer Freude, die ich nie vorher erfahren hatte. Ich war zu freudig, um ein Wort zu sagen, sondern sank, von Bewegung ganz erschöpft, zu seinen Füßen hin. Während ich dort hilflos lag, zogen Szenen der Schönheit und Herrlichkeit an mir vorüber, und ich schien die Sicherheit und den Frieden des Himmels erreicht zu haben. Zuletzt kehrte meine Kraft zurück, und ich erhob mich. Die liebenden Augen Jesu ruhten noch auf mir, und sein Lächeln erfüllte meine Seele mit Freude. Seine Gegenwart erweckte in mir eine heilige Ehrfurcht und eine unaussprechliche Liebe.

Mein Führer öffnete jetzt die Tür, und wir gingen beide hinaus. Er gebot mir, alle die Dinge, die ich draußen gelassen hatte, wieder aufzunehmen. Nachdem dies getan war, reichte er mir einen grünen Faden, der fest zusammengerollt war. Er wies mich dann an, diesen nahe an mein Herz zu legen und, wenn ich Jesum zu sehen wünsche, denselben aus meinem Busen zu nehmen und bis zum äußersten zu strecken. Er warnte mich, ihn nicht längere Zeit zusammengerollt zu lassen, damit er nicht verwickelt werde und schwer zu lösen sei. Ich legte den Faden nahe an mein Herz und schritt freudig die enge Treppe hinab, lobte den Herrn und erzählte allen, die ich traf, wo sie Jesum finden könnten.

Dieser Traum gab mir Hoffnung. Der grüne Faden repräsentierte nach meiner Ansicht Glauben, und die Schönheit und die Einfachheit wahren Gottvertrauens fingen in meiner Seele an zu dämmern.

Freundliche Sympathie und Ratschläge

Nun vertraute ich alle meine Kümmernisse und Schwierigkeiten meiner Mutter an. Sie bewies mir liebevolle Sympathie, ermutigte mich und riet mir, um Rat zum Ältesten Stockman zu gehen, der damals die Adventlehre in Portland verkündigte: Ich hatte großes Vertrauen zu ihm, denn er war ein hingebender Diener Christi. Nachdem er meine Geschichte angehört hatte, legte er zärtlich seine Hand auf meinen Kopf und sagte mit Tränen in seinen Augen: "Ellen, du bist nur ein Kind. Du hast eine einzigartige Erfahrung für jemand in deinem zarten Alter. Jesus muss dich für ein besonderes Werk vorbereiten."

Dann sagte er mir, dass, selbst wenn ich eine Person von reiferen Jahren sei und in der Weise von Verzweiflung und Zweifel geplagt werde, er mir sagen würde, dass er wisse, dass durch die Liebe Jesu Hoffnung für mich da sei. Gerade die Herzensangst, die ich gelitten habe, sei ein bestimmter Beweis dafür, dass der Geist des Herrn an mir arbeite. Er sagte, dass, wenn der Sünder in seiner Schuld verhärtet würde, er nicht die Größe seiner Übertretung erkenne, sondern sich schmeichle, dass er ungefähr recht und in seiner keiner besonderen Gefahr sei. Der Geist des Herrn verlasse ihn, und er werde achtlos und gleichgültig oder verwegen widerspenstig. Dieser gute Mann erzählte mir von der Liebe Gottes zu seinen irrenden Kindern, dass er, anstatt sich über ihre Zerstörung zu freuen, danach verlange, sie in einfältigem Glauben und Vertrauen zu sich zu ziehen. Er sprach über die große Liebe Christi und den Erlösungsplan.

Ältester Stockman sprach von meiner früheren Heimsuchung und sagte, es sei wirklich eine ernstliche Prüfung; aber er mahnte mich, zu glauben, dass die Hand eines liebenden Vaters mir nicht entzogen sei; dass im zukünftigen Leben, wenn der Nebel, der mein Gemüt umwölkt habe, geschwunden sei, ich die Weisheit der göttlichen Vorsehung erkennen werde, die mir so grausam und geheimnisvoll geschienen habe. Jesus sagte seinen Jüngern: "Was ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirst's aber hernach erfahren." Johannes 13,7. In der großen Zukunft würden wir nicht mehr wie durch einen Spiegel dunkel sehen, sondern die Geheimnisse der göttlichen Liebe von Angesicht zu Angesicht schauen.

"Gehe frei deines Weges, Ellen", sagte er; "gehe zurück zu deinem Heim und vertraue Jesus, denn er wird seine Liebe keinem wahren Suchenden vorenthalten." Dann betete er ernstlich für mich, und es schien, dass Gott sicherlich das Gebet seines Heiligen erhören werde, selbst wenn meine demütigen Bitten unerhört bleiben sollten. Mein Gemüt war sehr erleichtert, und die elende Sklaverei des Zweifels und der Furcht schwand, als ich dem weisen und liebevollen Rat dieses Lehrers in Israel lauschte. Ich verließ ihn getröstet und ermutigt.

Während der wenigen Minuten, in denen ich Belehrung vom Ältesten Stockman erhielt, hatte ich mehr Kenntnis über die zärtliche und mitleidsvolle Liebe Gottes erlangt als aus allen Predigten und Ermahnungen, die ich jemals gehört hatte.

Mein erstes öffentliches Gebet

Ich kehrte nach Hause zurück, ging wieder vor den Herrn und versprach, irgend etwas zu tun und zu leiden, das er von mir fordere, wenn nur das billigende Lächeln Jesu mein Herz erfreuen würde. Wiederum wurde mir dieselbe Pflicht vorgeführt, die mich schon vorher beunruhigt hatte, nämlich mein Kreuz unter den versammelten Kindern Gottes auf mich zu nehmen. Eine Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten: es fand an jenem Abend eine Gebetsversammlung bei meinem Onkel statt, die ich besuchte.

Als die andern zum Gebet niederknieten, beugte ich mich zitternd mit ihnen, und nachdem einige gebetet hatten, erhob sich meine Stimme im Gebet, ehe ich mir dessen bewusst war. In jenem Augenblick erschienen mir die Verheißungen Gottes gleich so vielen köstlichen Perlen, die man bekommen könne, wenn man nur darum bete. Als ich betete, verließ mich die Bürde und die Seelenangst, die ich so lange ertragen hatte, und der Segen des Herrn kam wie ein milder Tau auf mich herab. Ich pries Gott aus der Tiefe meines Herzens. Alles schien von mir genommen zu sein, außer Jesu und seiner Herrlichkeit, und ich verlor das Bewusstsein von dem, was um mich herum vorging.

Der Geist Gottes ruhte mit solcher Kraft auf mir, dass ich nicht imstande war, an jenem Abend heimzugehen. Als ich wieder zum Bewusstsein kam, fand ich mich im Hause meines Onkels, wo wir uns zur Gebetsversammlung versammelt hatten, versorgt und verpflegt. Weder mein Onkel noch meine Tante hatten Freude an der Religion, obgleich ersterer einmal ein Bekenntnis abgelegt hatte, aber seither abgefallen war. Mir wurde gesagt, dass er sehr gestört worden sei, während die Kraft Gottes in so besonderer Weise auf mir ruhte, und dass er mit sehr beunruhigtem und geängstetem Gemüt hin und her gegangen sei.

Als ich zuerst zu Boden gestreckt wurde, waren einige von denen, die zugegen waren, sehr bestürzt und im Begriff, nach einem Arzt zu schicken, da sie dachten, dass mir irgendein plötzlicher und gefährlicher Unfall zugestoßen sei; aber meine Mutter bat sie, mich allein zu lassen, denn es war ihr und den andern erfahrenen Christen klar, dass die wunderbare Kraft Gottes mich daniedergelegt hatte. Als ich am folgenden Tage nach Hause zurückkehrte, hatte ein großer Wechsel in mir stattgefunden. Es schien mir, dass ich kaum dieselbe Person sein könne, die am vorhergehenden Abend meines Vaters Haus verlassen hatte. Beständig war diese Schriftstelle in meinen Gedanken: "Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln." Psalm 23,1. Mein Herz war voller Freude, so oft ich diese Worte wiederholte.

Ein Gesicht von der Liebe des Vaters

Nun nahm der Glaube Besitz von meinem Herzen.

Ich fühlte eine unaussprechliche Liebe zu Gott und hatte das Zeugnis seines Geistes, dass meine Sünden vergeben seien. Meine Ansichten vom Vater waren geändert. Ich blickte jetzt auf ihn als auf einen gütigen und liebevollen Vater, und nicht als auf einen strengen Tyrannen, der die Menschen zu blindem Gehorsam zwinge. Mein Herz fühlte sich in tiefer und inbrünstiger Liebe zu ihm hingezogen. Seinem Willen gehorsam zu sein, erschien mir als eine Freude; es war ein Vergnügen, in seinem Dienste tätig zu sein. Kein Schatten umwölkte das Licht, das mir den vollkommenen Willen Gottes offenbarte. Ich fühlte die Versicherung eines innewohnenden Heilandes und erfuhr die Wahrheit der Worte Christi: "Wer mir nachfolget, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben." Johannes 8,12.

Mein Friede und mein Glück waren in scharfem Gegensatz zu meiner früheren trüben Stimmung und Herzensangst, dass es mir schien, als ob ich von der Hölle errettet und in den Himmel versetzt sei. Ich konnte Gott sogar danken für den Unfall, der die Prüfung meines ganzen Lebens gewesen war, denn er war auch das Mittel gewesen, das meine Gedanken auf die Ewigkeit gerichtet hatte. Von Natur stolz und strebsam, möchte ich nicht geneigt gewesen sein, Jesu mein Herz zu geben, wenn nicht diese schwere Prüfung gekommen wäre, die mich in einer Weise von den Triumphen und Eitelkeiten der Welt abgeschnitten hatte.

Sechs Monate lang trübte kein Schatten mein Gemüt, noch versäumte ich eine mir bekannte Pflicht. Mein ganzes Bestreben war, den Willen Gottes zu tun und Jesum und den Himmel beständig vor Augen und im Herzen zu haben. Ich war überrascht und entzückt von der Klarheit, mit der mir jetzt die Versöhnung und das Werk Christi vorgeführt wurden. Ich will nicht versuchen, meine Gedanken weiter zu erklären; genüge es zu sagen, dass das Alte vergangen und alles neu geworden war. Da war auch nicht eine Wolke, die meine vollkommene Wonne störte. Mich verlangte danach, die Geschichte von der Liebe Jesu zu erzählen; aber ich fühlte keine Neigung, mit irgend jemand eine gewöhnliche Unterhaltung zu führen. Mein Herz war so erfüllt von der Liebe zu Gott und dem Frieden, der alle Erkenntnis übersteigt, dass ich gern über göttliche Dinge nachdachte und betete.

Zeugnis ablegen

Am Abend, nachdem ich einen so großen Segen erhalten hatte, besuchte ich die Adventversammlung. Als die Zeit kam, zu welcher die Nachfolger Christi für ihn Zeugnis ablegten, konnte ich nicht schweigen, sondern stand auf und erzählte meine Erfahrung. Mir war auch nicht ein Gedanke daran gekommen, was ich sagen sollte; aber die einfache Geschichte von der Liebe Jesu zu mir fiel mit vollkommener Freiheit von meinen Lippen, und mein Herz war so glücklich, von seiner Knechtschaft dunkler Verzweiflung befreit zu sein, dass ich die Leute um mich herum ganz aus den Augen verlor und mit Gott allein zu sein schien. Ich hatte keine Schwierigkeiten, meinen Frieden und mein Glück auszudrücken, und nur Tränen der Dankbarkeit erstickten meine Stimme etwas.

Ältester Stockman war zugegen. Er hatte mich unlängst in tiefer Verzweiflung gesehen, und als er nun mein Gefängnis gewendet sah, weinte er laut, freute sich mit mir und pries Gott für diesen Beweis seiner Barmherzigkeit und Liebe.

Nicht lange, nachdem ich diesen großen Segen empfangen hatte, besuchte ich eine Konferenzsitzung der sogenannten "Christlichen Kirche", wo Ältester Brown Pastor war. Ich wurde eingeladen, meine Erfahrung zu erzählen, und fühlte nicht nur große Freiheit im Ausdruck, sondern auch Freudigkeit im Erzählen meiner einfachen Geschichte von der Liebe Jesu und der Freude, bei Gott angenommen zu sein. Als ich mit demütigem Herzen und tränenvollen Augen sprach, schien meine Seele im Himmel in Danksagungen nahe gezogen zu werden. Die schmelzende Kraft des Herrn kam auf die Versammelten. Viele weinten, und andere priesen Gott.

Sünder wurden eingeladen, für sich beten zu lassen, und viele leisteten der Aufforderung Folge. Mein Herz war dem lieben Gott so dankbar für den Segen, den er mir gegeben hatte, dass mich danach verlangte, dass auch andere an dieser heiligen Freude teilnehmen möchten.

Ich war aufs tiefste interessiert an solchen, die vielleicht unter einem Gefühl des Missfallens Gottes und ihrer Sündenlast litten. Während ich meine Erfahrungen erzählte, fühlte ich, dass niemand dem Beweis der vergebenden Liebe Gottes widerstehen könne, die einen so wunderbaren Wechsel in mir bewirkt hatte. Die Wirklichkeit wahrer Bekehrung schien mir so einfach, dass ich den Wunsch hegte, meinen jungen Freunden zum Licht zu verhelfen; und bei jeder Gelegenheit machte ich meinen Einfluss in dieser Richtung geltend.

Mein Wirken für junge Freunde

Ich veranlasste Versammlungen mit meinen jungen Freunden, von denen einige beträchtlich älter waren als ich, und einige waren sogar verheiratete Personen. Eine Anzahl von ihnen waren eitel und gedankenlos; meine Erfahrung klang ihnen wie müßiges Geschwätz, und sie leisteten meinen Bitten keine Folge. Ich beschloss jedoch, dass meine Bestrebungen nicht nachlassen sollten, bis diese lieben Seelen, für die ich ein so großes Interesse hatte, sich Gott übergeben würden. Mehrere ganze Nächte wurden von mir in ernstem Gebet für diejenigen zugebracht, die ich mir ausgesucht und zusammengebracht hatte, um für sie zu wirken und mit ihnen zu beten.

Einige von diesen hatten sich aus Neugierde mit uns versammelt, um zu hören, was ich zu sagen habe; andere dachten, dass ich außer mir sei, weil ich in meinen Bestrebungen so beharrlich war, besonders wenn sie selber kein Interesse bekundeten. Aber in einer jeden unserer kleinen Versammlungen fuhr ich fort zu ermahnen und für einen jeden besonders zu beten, bis alle sich Jesu gegeben und die Verdienste seiner vergebenden Liebe anerkannt hatten. Ein jeder wurde zu Gott bekehrt.

Eine Nacht nach der andern schien ich in meinen Träumen für das Heil von Seelen zu wirken. Zu solchen Zeiten wurden mir besondere Personen vorgeführt; diese suchte ich nachher auf und betete mit ihnen. In einem jeden Falle ergaben sie sich, mit nur einer einzigen Ausnahme, dem Herrn. Einige unserer formelleren Brüder fürchteten, dass ich zu eifrig in der Bekehrung von Seelen sei; aber die Zeit schien mir so kurz zu sein, dass es allen zieme, die die Hoffnung auf eine selige Unsterblichkeit hatten und die baldige Wiederkunft Christi erwarteten, ohne Aufhören für solche zu wirken, die noch in ihren Sünden waren und am schrecklichen Abgrunde des Ruins standen.

Obgleich noch sehr jung, war mir doch der Heilsplan so klar, und war auch meine persönliche Erfahrung eine so besondere gewesen, dass ich beim Nachdenken über die Sache wusste, dass es meine Pflicht sei, mit meinen Bestrebungen für das Heil teuererkaufter Seelen fortzufahren und zu beten und Christum bei jeder Gelegenheit zu bekennen. Mein ganzes Wesen war dem Dienste meines Meisters zur Verfügung gestellt. Mochte kommen, was da wollte, ich war entschlossen, Gott zu gefallen und zu leben wie jemand, der den Heiland und die Belohnung der Getreuen erwartete. Ich kam wie ein kleines Kind zu Gott wie zu meinem Vater, um ihn zu fragen, was ich tun solle. Und wenn mir dann meine Pflicht klar gemacht wurde, so bestand mein größtes Glück darin, sie zu verrichten. Oft traten mir eigentümliche Prüfungen entgegen. Solche, die älter an Erfahrungen waren als ich, versuchten, mich zurückzuhalten und die Inbrunst meines Glaubens abzukühlen; aber da das billigende Lächeln Jesu mein Leben erhellte, und die Liebe Gottes in meinem Herzen war, so ging ich meines Weges mit freudigem Geiste.