Leben und Wirken von Ellen G. White

Kapitel 29

Wiedergewinnung der Verlorenen

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Nachdem wir unser Heim erreicht hatten, verspürten wir aufs empfindlichste die erschöpfenden Arbeiten unserer Reise im Osten. Viele drangen durch Briefe in mich, zu schreiben, was ich ihnen von dem verkündigt hatte, was der Herr mir über sie gezeigt hatte. Und es gab noch viele andere, zu denen ich nicht gesprochen hatte, deren Fälle wichtig und dringend waren. In meinem erschöpften Zustande schien mir die Aufgabe, so viel zu schreiben, mehr als ich ertragen konnte, und ich zog meine Pflicht, so viel an so viele Personen, von denen einige sehr unwürdig waren, zu schreiben, in Frage. Es schien mir, dass in dieser Sache sicherlich irgendwo ein Fehler sei.

Ein ermutigender Traum

Eines Nachts träumte ich, dass mir eine Person ein Gewebe von weißem Tuch brachte und mich bat, es zu Kleidern für Personen aller Größen und aller Charakterbeschreibungen und Lebenslagen zuzuschneiden. Es wurde mir befohlen, sie zuzuschneiden und aufzuhängen, bereit, fertig gemacht zu werden, wenn danach verlangt werde. Ich hatte den Eindruck, dass viele, für die ich Kleider zuzuschneiden hatte, umwürdig waren. Ich fragte, ob dieses das letzte Stück Tuch sei, das ich zu schneiden hatte, und es wurde mir gesagt, dass es nicht das letzte sei, und dass sobald ich dieses eine fertig habe, andere für mich zum Schneiden bereit seien. Ich fühlte mich über die vor mir liegende Menge Arbeit entmutigt und sagte, dass ich mehr als zwanzig Jahre damit beschäftigt gewesen war, Kleider für andere zuzuschneiden, und meine Arbeit war nicht geschätzt worden; ich konnte auch nicht sehen, dass mein Werk viel Gutes ausgerichtet hatte. Ich sprach zu der Person, die mir das Tuch brachte, von einer Frau im besonderen, für die sie mir ein Kleid zuzuschneiden befahl. Ich sagte, dass sie das Kleid nicht schätzen werde, und dass es ein Verlust an Zeit und Material sei, es ihr zu schenken. Sie war sehr arm, von beschränktem Verstand und unsauber in ihren Gewohnheiten, und sie würde es bald beschmutzen.

Die Person erwiderte: "Schneide die Kleider zu; dies ist deine Pflicht. Es ist nicht dein, sondern mein Verlust. Gott sieht nicht, wie der Mensch sieht. Er bestimmt die Arbeit, die er getan haben will, und du weißt nicht, welches gedeihen wird, dieses oder jenes. Es wird sich zeigen, dass viele solche arme Seelen in das Reich eingehen werden, während andere, die mit all den Segnungen des Lebens begünstigt sind, einen guten Intellekt besitzen, sich in angenehmen Umgebungen befinden, die ihnen all die Vorteile, sich zu bessern, geben, ausgelassen werden. Es wird sich zeigen, dass diese armen Seelen das schwache Licht, das sie hatten, befolgt, die beschränkten in ihrem Bereich liegenden Mittel benutzt und viel annehmbarer gelebt haben als andere, die das volle Licht genossen und reichliche Mittel zur Besserung gehabt haben."

Ich hielt dann meine Hände in die Höhe, die von dem langen Gebrauch der Schere hart geworden waren, und sagte, dass ich nur zurückschrecken könne bei dem Gedanken, diese Art Arbeit fortzusetzen.

Die Person antwortete wiederum: "Schneide die Kleider zu. Deine Befreiung ist noch nicht gekommen."

Mit Gefühlen großer Mattigkeit erhob ich mich, um die Arbeit zu verrichten. Vor mir lag eine neue, glänzende Schere, die ich zu gebrauchen anfing. Sofort verließen mich meine Gefühle der Mattigkeit und der Entmutigung, die Schere schien mit kaum einer Anstrengung meinerseits zu schneiden, und mit verhältnismäßiger Leichtigkeit schnitt ich ein Kleid nach dem andern zu.

Besuch bei Gemeinden in Michigan

Infolge der Ermutigung, welche dieser Traum mir gab, beschloss ich sofort, meinen Mann und Bruder Andrews nach den Gratiot-, Saginaw- und Tuscola-Counties zu begleiten und auf den Herrn zu vertrauen, dass er mir Stärke für die Arbeit gebe. So verließen wir am 7. Februar unser Heim und fuhren fünfundfünfzig Meilen nach Alma, wo eine Versammlung für uns anberaumt war. Hier arbeitete ich gewöhnlich mit einem guten Teile von Freiheit und Kraft. Die Freunde in Gratiot-County schienen mit Interesse zu hören.

Zu Tittabawassee fanden wir ein großes, erst kürzlich von unsern Geschwistern gebautes Versammlungshaus mit Sabbathaltern gut angefüllt. Die Brüder schienen für unser Zeugnis bereit zu sein, und wir hatten Freiheit. Am nächsten Tage wurden fünfzehn getauft.

Zu Vassar hielten wir unsere Versammlungen am Sabbat und ersten Tage im Union-Schulhause ab. Wir konnten an diesem Platze frei sprechen, und wir sahen gute Frucht von unsern Arbeiten. Am Nachmittage des ersten Tages kamen ungefähr dreißig Abtrünnige und Kinder, die noch kein Bekenntnis abgelegt hatten, nach vorn, dass für sie gebetet werde.

Krankenverpflegung

Wir kehrten von dieser Tour gerade vor einem starken Regenfall, der den Schnee fortwusch, nach Hause zurück. Dieser Sturm verhinderte die Versammlung am nächsten Sabbat, und ich begann sofort, den Inhalt für Zeugnis Nr. 14 fertig zu machen. Wir hatten auch das Vorrecht, unsern lieben Bruder Seneca King zu verpflegen, den wir mit einer schrecklichen Verletzung an Kopf und Gesicht nach unserm Heim gebracht hatten. Wir nahmen ihn in unser Haus auf, zu sterben, denn wir hielten es nicht für möglich, dass ein Mensch mit einem so schrecklich gebrochenen Schädel wiederhergestellt werden könnte. Aber mit dem Segen Gottes auf einem sanften Gebrauche des Wassers ruhend, sehr mäßiger Diät, bis die Gefahr des Fiebers vorüber war, und gut ventilierten Zimmern bei Tag und bei Nacht, war er in drei Wochen imstande, nach seinem Heim zurückzukehren und nach seinen Farminteressen zu sehen. Vom Anfang bis zum Ende nahm er nicht einen Gramm Medizin zu sich. Obgleich er durch den Blutverlust infolge seiner Wunden und durch spärliche Kost sehr abgenommen hatte, kam er, als er eine reichlichere Kost genießen konnte, rasch empor.

Erweckungsversammlungen zu Greenville

Ungefähr um diese Zeit begannen wir, für unsere Brüder und Freunde in der Nähe von Greenville zu wirken. Wie es der Fall an vielen Plätzen war, bedurften unsere Brüder der Hilfe. Es gab einige, die den Sabbat hielten, aber nicht zur Gemeinde gehörten, und auch einige, die den Sabbat aufgegeben hatten. Wir fühlten uns geneigt, diesen armen Seelen zu helfen, aber die vergangene Handlungsweise und die gegenwärtige Stellungnahme von leitenden Gliedern in der Gemeinde diesen Personen gegenüber machten es für uns beinahe unmöglich, ihnen nahe zu kommen.

In der Arbeit mit den Irrenden waren einige unserer Brüder zu streng gewesen, zu scharf in ihren Ausdrücken. Und wenn einige sich entschlossen, ihren Rat zu verwerfen, und sich von ihnen zu trennen, dann sagten sie: "Gut, wenn sie abgehen wollen, dann lasst sie gehen" Während die vorgeblichen Nachfolger Jesu einen solchen Mangel seiner Barmherzigkeit, Langmut und Zärtlichkeit bekundeten, kam es, dass diese armen, irrenden, unerfahrenen, vom Teufel geplagten Seelen sicherlich Schiffbruch am Glauben litten. Wie groß auch die Vergehungen und Sünden der Irrenden sein mögen, müssen unsere Brüder doch lernen, nicht nur Zärtlichkeit des großen Hirten, sondern auch seine unvergängliche Sorge und Liebe für die armen, verirrten Schafe zu bekunden. Unsere Prediger arbeiten und halten Vorträge eine Woche nach der andern, und sie freuen sich, dass ein paar Seelen die Wahrheit annehmen, und doch können Brüder von prompter, entschiedener Gesinnungsart in fünf Minuten deren Arbeit durch das Hegen von Gefühlen zerstören, welche Worte wie diese erzeugen: "Gut, wenn sie uns verlassen wollen, dann lasst sie gehen."

Wir fanden, dass wir für die zerstreuten Schafe in unserer Nähe nichts tun konnten, bis wir zuerst die Fehler in vielen Gliedern der Gemeinde berichtigt hatten. Sie hatten diese armen Seelen dahinwandern lassen. Sie fühlten keine Bürde für sie. Ich schrieb scharfe Zeugnisse, nicht nur für diejenigen, die sehr gefehlt hatten und sich außerhalb der Gemeinde befanden, sondern auch für diejenigen Glieder in der Gemeinde, die darin sehr gefehlt hatten, dass sie den verlorenen Schafen nicht nachgegangen waren.

Die verlorenen Schafe

Der Herr lässt an die Irrenden, die Schwachen und Zitternden und selbst an diejenigen, die von der Wahrheit abgefallen sind, einen besonderen Ruf ergehen, völlig zur Herde zu kommen. Aber viele haben nicht gelernt, dass eine besondere Pflicht auf ihnen ruht, hinauszugehen und nach diesen verlorenen Schafen zu suchen.

Die Pharisäer murrten, weil Jesus Zöllner und gewöhnliche Sünder annahm und mit ihnen aß. In ihrer Selbstgerechtigkeit verachteten sie diese armen Sünder, welche die Worte Jesu gern hörten. Um diesen Geist der Schriftgelehrten und Pharisäer zu tadeln und allen eine eindrückliche Lehre zu hinterlassen, redete der Herr das Gleichnis von dem verlorenen Schaf. Beachte besonders die folgenden Punkte.

Die neunundneunzig Schafe werden allein gelassen, und es wird nach dem einen, das verloren ist, fleißig gesucht. Alle Anstrengung wurde gemacht für das unglückliche Schaf. So sollte die Gemeinde Anstrengungen machen für diejenigen Glieder, die sich von der Herde Christi verirren. Und sind sie weit fortgewandert? Warte nicht, bis sie zurückkehren, ehe du versuchst, ihnen zu helfen, sondern gehe ihnen nach.

Als das verlorene Schaf gefunden war, wurde es mit Freuden nach Hause getragen, und es folgte große Fröhlichkeit. Dies illustriert die selige, freudige Arbeit für die Irrenden. Die Gemeinde, die erfolgreich in dieser Arbeit tätig ist, ist eine glückliche. Jener Mann oder jene Frau, deren Seele von Mitleid und Liebe für die Irrenden erfasst ist, und die sich bemühen, sie in die Herde des großen Hirten zu bringen, sind in einer seligen Arbeit begriffen. Und o, welch ein seelenentzückender Gedanke, dass wenn ein Sünder in dieser Weise wiedergewonnen wird, mehr Freude im Himmel herrscht als über neunundneunzig gerechte Personen! Selbstsüchtige, sich absondernde, strenge Seelen, welche zu fürchten scheinen, den irregegangenen Seelen zu helfen, als ob sie, wenn sie dies täten, verunreinigt würden, schmecken nicht wie süß eine solche Missionsarbeit ist; sie fühlen nicht jene Seligkeit, die bei der Rettung von einem, der irrgegangen ist, den ganzen Himmel mit Freude erfüllt.

Jene Gemeinde oder jene Personen, die es vermeiden, Bürden für andere zu tragen, die sich in sich selbst verschließen, werden gar bald geistlich schwach werden. Es ist Arbeit, was den starken Mann stark erhält, und geistliche Arbeit, Mühe und das Tragen von Lasten ist es, was die Gemeinde Christi stark machen wird.

Auf dem Wege nach Battle Creek

Am Sabbat und am ersten Tage, den 18. und 19. April, hatten wir eine gute Versammlung mit unsern Geschwistern zu Greenville. Die Brüder M. E. Cornell und M. G. Kellogg waren bei uns. Mein Mann taufte acht. Am 25. und 26. waren wir bei der Gemeinde zu Wright. Diese lieben Leute waren stets bereit, uns zu bewillkommnen. Hier taufte mein Mann acht.

Am 2. Mai trafen wir mit einer großen Anzahl in dem Versammlungshause zu Monterey zusammen. Mein Mann sprach deutlich und kräftig über das Gleichnis von dem verlorenen Schaf. Das Wort gereichte den Geschwistern zum großen Segen. Einige, die sich verirrt hatten, befanden sich außerhalb der Gemeinde, und es zeigte sich kein Geist der Arbeit, um ihnen zu helfen. Tatsächlich trug die steife, strenge und gefühllose Stellungnahme einiger dazu bei, sie an ihrer Rückkehr zu hindern, wenn sie dazu geneigt gewesen wären. Der vorgeführte Gegenstand rührte die Herzen aller, und alle bekundeten einen Wunsch, in den rechten Zustand zu kommen. Am ersten Tage sprachen wir dreimal zu einer guten Anzahl in Allegan.

Wir hatten eine Versammlung mit der Battle Creek-Gemeinde für den 9. anberaumt, aber wir fühlten, dass unsere Arbeit in Monterey gerade erst begonnen habe, und deshalb beschlossen wir, nach Monterey zurückzukehren und mit jener Gemeinde noch eine andere Woche zu arbeiten. Das gute Werk nahm seinen Fortschritt und überstieg unsere Erwartungen. Das Haus war gefüllt, und wir sahen nie in so kurzer Zeit ein solches Werk in Monterey. Am ersten Tage kamen fünfzig nach vorn, dass für sie gebetet werde. Brüder fühlten aufs Tiefste für die verlorenen Schafe, bekannten ihre Kälte und Gleichgültigkeit und nahmen einen guten Stand ein. Vierzehn wurden getauft. Das Werk ging mit Feierlichkeit, Bekenntnissen und vielem Weinen voran und riss alles mit sich fort. So fanden die mühevollen Arbeiten des Konferenzjahres ihren Abschluss.

Die Generalkonferenz im Mai 1868

Die Generalkonferenz war eine Zeit von tiefstem Interesse. Während ihrer zahlreichen Sitzungen waren die Arbeiten meines Mannes sehr beträchtlich. Es wurde uns auf der Konferenz Teilnahme, zärtliche Fürsorge und Unterstützung zuteil.