Das bessere Leben

Kapitel 3

Der Geist des Gesetzes

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"Ich bin nicht gekommen aufzulösen"

Es war Christus, der auf dem Berge Sinai unter Donner und Blitz das Gesetz verkündet hatte. Die Herrlichkeit Gottes glühte als verzehrendes Feuer auf dem Gipfel, und der ganze Berg bebte angesichts des Ewigen. Die Scharen Israels hatten sich in den Staub gebeugt und lauschten ehrfurchtsvoll der Verkündigung der heiligen Satzungen.

Welch ein Gegensatz zu dem Bild auf dem Berg der Seligpreisungen! Sonnigen Himmel über sich, Stille ringsumher, nur dann und wann durch Vogelsang unterbrochen, legte Jesus die Grundzüge seines Reiches dar. Und doch war das, was der Sohn Gottes an jenem Tage vor dem Volk in Worte der Liebe kleidete, nichts anderes, als was er einst vom Berg Sinai in Gesetzesform verkündet hatte.

Als das Gesetz gegeben wurde, brauchte Israel, das in langer Fron der Ägypter niedergezwungene Volk, eine kraftvolle und großartige Gottesoffenbarung. Doch war der Offenbarungsgott trotzdem ein Gott der Liebe.

"Der Herr ist vom Sinai gekommen. Und ist ihnen aufgeleuchtet von Seir her. Er ist erschienen vom Berge Paran her Und ist gezogen nach Meribath-Kadesch; In seiner Rechten ist ein feuriges Gesetz für sie. Wie hat er sein Volk so lieb! Alle Heiligen sind in deiner Hand. Sie werden sich setzen zu deinen Füßen Und werden lernen von deinen Worten." 5.Mose 33,2.3.

Gott offenbarte Mose seine Herrlichkeit in jenen tiefen, als köstliches Erbgut auf uns gekommenen Worten: "Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde." 2.Mose 34,6.7. Das sinaitische Gesetz ist aus dem göttlichen Grundzug der Liebe entsprossen; es ist eine Offenbarung himmlischer Ordnung vor der ganzen Erde. Es wurde in die Hände eines Mittlers gelegt. Verkündigt aber hat es der, dem auch die Kraft innewohnt, Menschenherzen auf den Klang seiner Grundtöne abzustimmen. Den Zweck seines Gesetzes hat Gott mit seinen Worten an Israel erklärt: "Ihr sollt mir heilige Leute sein." 2.Mose 22,30.

Israel konnte indessen den geistlichen Gehalt des Gesetzes nicht erfassen. Nur zu oft war ihr angeblicher Gehorsam nichts als eine Erfüllung von Formen und Vorschriften, während er doch Hingabe des Herzens an die Herrschaft der Liebe sein sollte. Als Jesus in seinem Wesen und Wirken den Menschen die Heiligkeit, Barmherzigkeit und Vaterliebe Gottes vorlebte und den Unwert veräußerlichten Gehorsams an den Tag brachte, konnten ihn die jüdischen Führer nicht begreifen und zeigten sich daher auch nicht empfänglich. Nach ihrer Ansicht nahm er es viel zu leicht mit dem Gesetzesgehorsam. Als er ihnen daher den Gehalt ihrer göttlich verordneten Religionsübung offenbarte, beschuldigten sie ihn der Auflösung des Gesetzes, eben weil sie nur die Schale vor Augen hatten.

Wenn Christi Rede auch Ruhe atmete, war sie doch von so tiefem Ernst und solcher Kraft, daß sie die Herzen der Hörer erschütterte. Die Leute hatten nichts anderes zu hören erwartet, als was ihnen von den Rabbinern bis zum Überdruß gepredigt und geboten worden war. Doch welche angenehme Überraschung erlebten sie! "Denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten." Matthäus 7,29. Die Pharisäer merkten gar bald, welcher Abgrund sich zwischen ihrer Lehrweise und der des Herrn auftat. Sie beobachteten, daß die Größe, Reinheit und Schönheit der Wahrheit sich mit ihrer ganzen veredelnden Macht in viele Herzen hineinsenkte. Die göttliche Liebe und das Mitgefühl des Heilandes gewannen ihm die Herzen der Menschen. Die Schriftgelehrten mußten zusehen, wie seine Lehre ihren ganzen Unterrichtserfolg im Volke in Frage stellte. Er riß die Scheidewand nieder, hinter der ihr Stolz und ihre Einbildung so üppig gedeihen konnten, und sie fürchteten mit Recht, daß er ihnen das Volk noch ganz entfremden würde. Deshalb folgten sie ihm mit entschlossener Feindseligkeit in der Hoffnung, eines Tages könnte sich die Gelegenheit bieten, ihm die Gunst der Masse abwendig zu machen und dann beim Hohen Rat seine Verurteilung und seinen Tod durchzusetzen.

Jesus war auf dem Berge von Spähern umgeben. Während er die Grundzüge der Gerechtigkeit entwickelte, setzten die Pharisäer das Geschwätz in Umlauf, daß seine Lehre in Widerspruch stehe zu den Geboten, die Gott vom Sinai gegeben habe. Der Heiland sagte jedoch nichts, was geeignet war, den Glauben an die Religion und die Bräuche zu erschüttern, die durch Mose gegeben waren. Hatte doch der große Führer Israels alles Licht, mit dem er den Pfad Israels erleuchtete, von Christus empfangen. Während viele in ihren Herzen sprechen, daß Christus gekommen sei, das Gesetz auszulöschen, hat dieser ganz unmißverständlich seine Stellung zu den göttlichen Geboten kundgetan. "Ihr sollt nicht wähnen", sprach er, "daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen."

Es ist der Schöpfer des Menschen, der Stifter des Gesetzes, der hier erklärt, daß es nicht seine Absicht sei, diese Gebote beiseite zu stellen. Die gesamte Schöpfung, vom Stäubchen im Sonnenstrahl bis zu den Weltenkörpern in unermeßlicher Ferne, unterliegt Gesetzen. Ordnung und Einklang der natürlichen Welt hängen von der Beachtung dieser Gesetze ab. Nun gibt es aber auch ein Gesetz der Gerechtigkeit, dem das Leben aller vernünftigen Wesen unterliegt. Von der Einheit mit diesem Gesetz hängt das Wohl und Wehe des ganzen Weltalls ab. Noch ehe es überhaupt eine Erde gab, war das Gesetz Gottes. Engel sind ihm untertänig, und wenn die Erde mit dem Himmel in Einklang stehen soll, muß auch der Mensch nach den göttlichen Richtlinien handeln. Christus machte schon in Eden die Menschen mit dem Gesetz bekannt, da "mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne". Hiob 38,7. Die Sendung Christi auf Erden bestand nicht darin, das Gesetz aufzulösen, sondern durch seine Gnade den Menschen zum Gehorsam gegen die göttlichen Vorschriften zurückzuführen.

Der Lieblingsjünger des Herrn, der auch zu der Hörergemeinde auf dem Berge gehört hatte, schrieb lange danach, durch den Heiligen Geist getrieben, daß das Gesetz für immer bindend sei. Aus seiner Feder stammt das Wort: "Die Sünde besteht in der Übertretung des Gesetzes", und "jeder, der Sünde tut, übertritt das Gesetz". 1.Johannes 3,4. Er zeigt deutlich, welches Gesetz er damit meint, nämlich "das alte Gebot, das ihr habt von Anfang gehabt". 1.Johannes 2,7. Er spricht von dem Gesetz, das schon bei der Schöpfung bestand und auf dem Berge Sinai erneut verkündet wurde.

Und von diesem Gesetz sagt Jesus: "Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen." Er bedient sich hier des Wortes "erfüllen" in demselben Sinn wie vorher, als er Johannes dem Täufer seine Absicht kundtat, "alle Gerechtigkeit zu erfüllen" (Matthäus 3,15), d.h. das Maß der Gesetzesbefolgung vollzumachen und damit ein Beispiel vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu geben.

Seine Sendung bestand darin, "daß er sein Gesetz herrlich und groß mache". Jesaja 42,21. Er sollte die geistliche Beschaffenheit des Gesetzes offenbaren, seine allumfassenden Grundlagen aufdecken und seine ewige Gültigkeit darlegen.

O Jesus in Deiner Schöne, was sind die ehrenhaftesten und edelsten Menschen gegen Dich! Du, von dem der Geist der Weissagung durch Salomo schrieb, daß Du seies "auserkoren unter Tausenden … und lieblich" (Hohelied 5,10-16); von dem David, als er Dich im Gesicht schaute, sprach: "Du bist der Schönste unter den Menschenkindern" (Psalm 45,3); der du bist das Ebenbild Deines Vaters, der Abglanz seiner Herrlichkeit; Du, Dich opfernder Erlöser, warst auf Deinem Liebesgang über die Erde ein lebendiges Gesetz Gottes! Durch Dein Leben ist es offenbar geworden, daß die Liebe von oben, daß christliche Lebensführung auf den Gesetzen der ewigen Gerechtigkeit beruht.

Jesus sagte: "Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis daß es alles geschehe." Durch seinen eigenen Gehorsam gegen das Gesetz hat Christus dessen Unwandelbarkeit bezeugt und den Beweis erbracht, daß alle Söhne und Töchter Adams auch diesen vollkommenen Gehorsam aufbringen können. Auf dem Berge erklärte er, daß nicht ein Pünktchen vom Gesetz vergehen werde, bis alles sich erfüllt habe alles, was dem Menschengeschlecht bestimmt ist und sich auf den Erlösungsplan bezieht. Er lehrt nicht, daß das Gesetz jemals abgeschafft werden soll, richtet dagegen das Auge nach dem äußersten Punkt des menschlichen Blickfeldes und versichert uns, daß das Gesetz in Kraft bleiben werde, bis wir dort angelangt sind, damit ja niemand annehmen könne, seine Sendung habe auf die Auslöschung der heiligen Vorschriften abgezielt. Solange Himmel und Erde bestehen, wird auch das heilige Gesetz Gottes bleiben. Seine Gerechtigkeit wird bestehen "wie die Berge Gottes" (Psalm 36,7), wird eine Segensquelle sein, von der erquickende Wasser sich über die Erde ergießen.

Da das Gesetz des Herrn vollkommen, mithin unwandelbar ist, vermag der sündige Mensch aus sich nicht die Höhe seiner Forderungen zu erklimmen. Hier nun griff Jesus als Erlöser ein. Seine Aufgabe bestand darin, den Menschen der göttlichen Natur teilhaftig zu machen, zwischen ihm und dem himmlischen Gesetz den Einklang herzustellen. Wenn wir unsere Sünden lassen und Christus als Heiland aufnehmen, wird das Gesetz erhöht. Der Apostel Paulus stellte die Frage: "Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Gesetz auf." Römer 3,31.

Die Verheißung des Neuen Bundes lautet: "Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben, und in ihren Sinn will ich es schreiben." Hebräer 10,16. Während die Vorbilder, die auf Christus als das Lamm Gottes hinwiesen, mit seinem Tode verschwinden sollten, sind die Grundlagen der Gerechtigkeit, die in den Zehn Geboten sinnfälligen Ausdruck fanden, so unveränderlich wie der ewige Stuhl Gottes. Nicht ein Gebot ist für ungültig erklärt worden, nicht ein Jota, nicht ein Tüttel verändert worden. Die Grundsätze, die der Mensch im Paradies als Lebensgesetz kennenlernte, werden unverändert auch im wiederhergestellten Paradies bestehen. Wenn die Erde wieder als Garten Eden erblühen wird, werden alle, denen Gottes Sonne scheint, seinem Liebesgesetz gehorchen.

"Herr, dein Wort bleibt ewiglich." Psalm 119,89. "Alle seine Ordnungen sind beständig. Sie stehen fest für immer und ewig; sie sind recht und verläßlich." Psalm 111,7.8. "Längst weiß ich aus deinen Mahnungen, daß du sie für ewig gegründet hast." Psalm 119,152.

"Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute so, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich"

Er wird der Kleinste heißen bedeutet, daß er dort keine Stätte finden wird. Denn wer mutwillig ein Gebot übertritt, bricht sie dem Geiste und der Wahrheit nach allesamt. "So jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an einem, der ist's ganz schuldig." Jakobus 2,10.

Nicht die Größe einer Tat des Ungehorsams macht die Sünde aus, vielmehr jede Handlung, die, sei es auch im geringsten, vom ausdrücklichen Willen Gottes abweicht. Eine solche läßt nämlich erkennen, daß der Mensch noch immer an die Sünde gebunden ist. Das Herz dient zwei Herren. Und das ist tatsächlich eine Verleugnung Gottes, Auflehnung gegen die Gesetze seiner Herrschaft.

Stünde es den Menschen frei, von den Geboten des Herrn abzuweichen und das Maß ihrer Pflichten selbst zu bestimmen, dann würde es so viele Gesetze wie Sinne geben, und Gott hätte keine Möglichkeit mehr, diese Menschen zu regieren. Menschenwille wäre maßgebend, und Gottes Wille, seine Liebesabsicht mit seinen Geschöpfen, würde entehrt und verachtet werden.

Sobald der Mensch seinen eigenen Weg wählt, macht er sich zum Gegner Gottes. Er hat keinen Raum mehr im Königreich der Himmel, steht er doch im Widerspruch zu den himmlischen Geboten. Wer den Willen Gottes verachtet, stellt sich auf die Seite des Teufels, des Feindes Gottes und der Menschen. Weder durch irgendein Wort noch durch ihrer viele, sondern durch jedes Wort, das aus dem Munde Gottes geht, soll der Mensch leben. Wir können nicht ohne Gefahr selbst über das unscheinbarste Gotteswort achtlos hinweggehen. Es gibt nicht ein einziges Gebot im Gesetz, das nicht auf Wohlfahrt und Glück des Menschen abzielte, sowohl für dieses als auch für das zukünftige Leben. Wenn der Mensch das Gesetz Gottes befolgt, ist er wie mit Festungsmauern umgeben und bleibt vor dem Bösen bewahrt. Wer jedoch diesen göttlichen Schutzwall auch nur an einer Stelle einreißt, hat dem Feinde den Weg geöffnet, daß er einsteigen, verwüsten und verderben kann. Als unsere ersten Eltern es wagten, den Willen Gottes in einer einzigen Hinsicht zu übergehen, öffneten sie der Welt die Schleusen des Unheils. Jeder, der ihrem Beispiel folgt, wird ähnliche Folgen zu tragen haben. Jedes Gebot des Gesetzes Gottes ist auf dem Grundstein der Liebe errichtet, und wer von den Geboten weicht, stürzt sich ins Unglück und führt seinen eigenen Untergang herbei.

"Es sei denn eure Gerechtigkeit besser als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen"

Die Schriftgelehrten und Pharisäer hatten nicht nur Christus, sondern auch seine Jünger als Sünder hingestellt, weil sie sich über die von jenen vorgeschriebenen Bräuche einfach hinwegsetzten. Die Jünger waren oft durch Tadel und Vorwürfe derer, die sie als Glaubenslehrer zu verehren gewohnt waren, vor den Kopf gestoßen und in Gewissensnot gebracht worden. Jesus entschleierte ihren Betrug. Er erklärte einfach, daß die Gerechtigkeit, auf die die Pharisäer so großen Nachdruck legten, ohne Wert sei. Die Juden hatten den Anspruch erhoben, vor Gott als ein Volk von Gerechten zu gelten und bei ihm in besonderem Ansehen zu stehen; Christus indessen wies nach, daß ihrer Religion das Salz des Glaubens fehlte. All ihr frommes Gebaren, ihre menschlichen Klügeleien und Bräuche, selbst ihre prahlerische Erfüllung der äußerlich aufgefaßten Gebote konnte ihnen nicht zur Heiligung verhelfen. Sie hatten keine reinen Herzen und auch kein edles, christusgemäßes Wesen.

Gesetzesreligion reicht nicht aus, den Menschen in Einklang mit Gott zu bringen. Die harte, starre Strenggläubigkeit der Pharisäer, der es an Demut, Mitgefühl und Liebe fehlte, konnte Sündern nur ein Stein des Anstoßes sein. Jene Leute glichen dem Salz, das seine Würzkraft verloren hat. War ihr Wirken doch nicht von der Kraft begleitet, die Welt vor dem Verderben zu bewahren. Der einzig wahre Glaube ist der, "der durch die Liebe tätig ist". Galater 5,6. Nur er vermag auch die Seele zu läutern. Dem Sauerteig gleich durchdringt und wandelt er das ganze Wesen.

All das hätten die Juden aus den Schriften der Propheten entnehmen können. Jahrhunderte vor jenen Tagen hatte das Verlangen der Seele, vor Gott gerechtfertigt zu erscheinen, in den Worten des Propheten Micha Ausdruck und Antwort gefunden: "Womit soll ich mich dem Herrn nahen, mich beugen vor dem hohen Gott? Soll ich mich ihm mit Brandopfern nahen und mit einjährigen Kälbern? Wird wohl der Herr Gefallen haben an viel tausend Widdern, an unzähligen Strömen von Öl ? ... Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist, und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott." Micha 6,6-8.

Der Prophet Hosea hat einmal das Wesen des Pharisäertums mit folgenden Worten gekennzeichnet: "Israel ist ein üppig rankender Weinstock, der seine Frucht trägt. Aber je mehr Früchte er hatte, desto mehr Altäre machten sie." Hosea 10,1. Der angeblich Gott geweihte Dienst der Juden war in Wirklichkeit auf das Ich gerichtet. Ihre Gerechtigkeit war die Frucht eigenen Bemühens um die Erfüllung des Gesetzes, so wie sie es sich zurechtlegten, mit dem Ziel, sich Vorteil zu verschaffen. Darum auch konnte ihre Gerechtigkeit nicht besser sein, als sie selber waren. Im Eifer um ihre Heiligung waren sie darauf bedacht, Reines vom Unreinen fernzuhalten. Das Gesetz Gottes ist heilig, wie Er heilig ist, vollkommen, wie Er vollkommen ist. Es zeigt dem Menschen die Gerechtigkeit Gottes. Dem Menschen ist es aus sich selbst unmöglich, das Gesetz zu halten. Ist der Mensch doch seinem Wesen nach verderbt, entstellt und dem Wesen Gottes völlig unähnlich. Die Werke des selbstischen Herzens sind unrein; denn "alle unsre Gerechtigkeit ist wie ein beflecktes Kleid", und wir sind "alle wie die Unreinen". Jesaja 64,5.

So ist das Gesetz zwar heilig; doch konnten die Juden in ihrem Bemühen um seine Befolgung keine Gerechtigkeit erlangen. Die Jünger Christi mußten zu einer ganz andersartigen Gerechtigkeit als der der Schriftgelehrten und Pharisäer kommen, wenn sie am Königreich der Himmel Anteil haben wollten. Gott hatte ihnen in seinem Sohn die vollkommene Gerechtigkeit des Gesetzes angeboten. Öffneten sie völlig ihre Herzen, den Herrn Jesus zu empfangen, dann wohnte in ihnen Leben aus Gott und seine Liebe, wodurch sie in sein Ebenbild verwandelt wurden. Und so besaßen sie durch Gottes Gnadengabe die Gerechtigkeit, die das Gesetz erfordert. Doch die Pharisäer wiesen Christus ab; weil sie die Gerechtigkeit nicht erkannten, "die Gottes ist", sondern danach trachteten, "ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten" (Römer 10,3), wollten sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterwerfen.

Weiter zeigte Jesus seinen Zuhörern, was es bedeutet, die Gebote Gottes zu halten, nämlich das Wesen Christi in sich widerzuspiegeln. Beispielhaft offenharte er ja Gott täglich vor ihnen.

"Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig"

Der Herr hat durch Mose gesagt: "Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen ... damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich ladest. Du sollst dich nicht rächen noch Zorn bewahren gegen die Kinder deines Volks. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." 3.Mose 19,17.18. Christus verkündigte dieselbe Wahrheit, die schon die Propheten gepredigt hatten. Herzenshärtigkeit und Sündendienerei hatten sie nur verdunkelt.

Die Worte des Heilandes offenbarten seinen Zuhörern die Tatsache, daß sie, die andere als Übertreter verurteilten, gleichermaßen schuldig waren; denn sie nährten ja selbst Haß und Neid in ihren Herzen.

Auf der anderen Seite des Sees, gegenüber dem Ufer, wo die Versammlung stattfand, lag die Landschaft Basan, eine einsame Gegend, deren wilde Schluchten und waldbedeckte Berge allen Sorten von Verbrechern lange als beliebte Schlupfwinkel gedient hatten. Berichte über dort verübte Räubereien und Mordtaten waren dem Volk noch frisch in Erinnerung, und viele waren eifrig auf die Anzeige dieser Missetäter bedacht. Dieselben Leute waren aber leidenschaftlich und streitsüchtig. Sie nährten den grimmigsten Haß gegen die römischen Unterdrücker und spürten keinerlei Hemmung, alle andern Völker, ja selbst ihre eigenen Landsleute zu hassen und zu verachten, wenn diese nicht restlos mit ihren eigenen Ansichten einig gingen. Durch all das aber verletzten sie das Gebot, nicht zu töten.

Der Geist des Hasses und der Rache ist mit dem Teufel aufgekommen. Aus diesem Geist tötete er den Sohn Gottes. Wer Haß und Neid nährt, pflegt denselben Geist und wird den Tod davon ernten. Im Rachegedanken liegt bereits der Keim der Übeltat eingeschlossen. "Wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger, und ihr wisset, daß ein Totschläger nicht hat das ewige Leben in ihm bleibend." 1.Johannes 3,15.

"Wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz! der ist des Hohen Rats schuldig." Gott hat uns durch die Hingabe seines Sohnes zu unserer Erlösung bewiesen, welch hohen Wert er auf jeden einzelnen Menschen legt, und gestattet es deshalb keinem Menschen, verächtlich vom andern zu reden. Wohl mögen wir Fehler und Schwächen in unseren Mitmenschen sehen, aber deshalb sind sie doch Gottes Eigentum, einmal durch die Schöpfung und zum andern, weil er sie durch das kostbare Blut Christi erkauft hat. Alle wurden ihm zum Bilde geschaffen, und selbst die verkommensten Menschen müssen mit Achtung und Nachsicht behandelt werden. Gott wird uns für jedes verächtliche Wort, mit dem wir Menschen verletzt haben, für die Christus sein Leben dahingab, zur Verantwortung ziehen.

"Wer gibt dir einen Vorzug? Was hast du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmest du dich denn, als hättest du es nicht empfangen?" 1.Korinther 4,7. "Wer bist du, daß du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn wohl aufrecht halten." Römer 14,4.

"Wer aber sagt: Du gottloser Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig." Im Alten Testament wurde das Wort Narr gebraucht, um einen Abtrünnigen oder einen ganz und gar dem Bösen ergebenen Menschen zu bezeichnen. Jesus sagt, wer seinen Bruder als Abtrünnigen oder Gottesverächter verdammt, der beweist damit nur, daß er selbst dies Urteil verdient hat.

Selbst Christus, "als er mit dem Teufel stritt und mit ihm rechtete über den Leichnam des Mose, hat nicht gewagt, gegen ihn ein lästerndes Urteil zu fällen". Judas 9. Hätte er es getan, dann würde er sich dem Teufel gleichgestellt haben; denn die Anklägerei ist die Waffe des Bösen. Er wird in der Schrift der "Verkläger unserer Brüder" genannt. Offenbarung 12,10. Jesus aber wollte sich der teuflischen Waffen nicht bedienen, sondern sprach "Der Herr strafe dich!" Judas 9.

Das kann uns als Beispiel dienen. Wenn wir mit den Feinden Christi in Streit geraten, sollen wir nicht aus dem Geist der Rache zu ihnen sprechen, ja nicht einmal etwas sagen, was auch nur den Schein einer Anklage haben könnte.

Wer als Sprecher Gottes waltet, darf nicht Worte gebrauchen, die selbst der Höchste im Himmel im Streit mit dem Teufel nicht benutzen würde. Gericht und Verdammung gehören Gott zu.

"Versöhne dich mit deinem Bruder"

Die Liebe aus Gott ist mehr als eine bloße Verneinung des Bösen; ihr wohnt bejahende Tatkraft inne. Sie ist eine lebendige Quelle, die dauernd zum Segen anderer fließt. Wenn die Liebe Christi in uns wohnt, werden wir nicht nur darauf verzichten, unsere Mitmenschen zu hassen, sondern auf jede nur mögliche Weise ihnen Liebe zu erweisen suchen.

Jesus sprach: "Wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirst allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe." Durch die Opfergaben brachte der Opfernde seinen Glauben daran zum Ausdruck, daß er durch Christus der Gnade und Liebe Gottes teilhaftig geworden sei. Es wäre ein elendes Possenspiel, wollte jemand äußerlich bekunden, daß er an den Gott der Vatermilde glaubt, während er in seinem Geiste von Lieblosigkeit belastet ist.

Wer sich äußerlich zum Dienste Gottes bekennt, dagegen seinem Bruder unrecht tut oder ihn schädigt, lebt diesem einen falschen Begriff vom Wesen Gottes vor. Darum muß er seine Übeltat als Sünde erkennen und sie bekennen, um wieder mit Gott ins reine zu kommen. Unser Bruder mag uns ein größeres Unrecht zugefügt haben als wir ihm; das ändert jedoch nichts an unserer Verantwortlichkeit. Treten wir vor Gott, und es kommt uns in den Sinn, daß ein anderer etwas gegen uns hat, dann schieben wir besser unsere Gabe des Gebetes, der Danksagung oder unsere Spende auf, begeben uns zu unserem Bruder, mit dem wir in Zwiespalt geraten sind, bekennen ihm in Demut unsere Sünde und bitten um Verzeihung.

Haben wir irgendwie unseren Bruder benachteiligt oder geschädigt, dann machen wir den Schaden wieder gut. Haben wir unabsichtlich falsches Zeugnis abgelegt, seine Aussagen unrichtig wiedergegeben, seinen guten Ruf auf irgendeine Weise beeinträchtigt, dann gehen wir hin zu denen, die unsere Auslassungen vernommen haben, und nehmen all unsere schädlichen Entstellungen zurück.

Über Streitfragen zwischen Brüdern sollte man nicht in der Öffentlichkeit verhandeln, sondern sie untereinander freimütig und im Geiste der Liebe Jesu Christi besprechen. Wieviel Unheil könnte dadurch abgewandt werden! Wie manche bittere, verderbliche Wurzel könnte auf diese Weise ausgerottet werden! Wie innig und herzlich könnten die Nachfolger Christi dann in seiner Liebe verbunden sein.

"Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen"

Die Juden waren stolz auf ihre Sittenhaftigkeit und schauten mit Entsetzen auf die sinnlichen Gewohnheiten der Heiden. Die Anwesenheit der römischen Beamten, die durch kaiserliche Verfügung nach Palästina gekommen waren, bereitete den Einheimischen dauernd Ärgernis; hatten doch die Fremden heidnische Sitten, Lüste und liederliches Leben ins Land gebracht. In Kapernaum führten die römischen Beamten offen ihre aufgeputzten Geliebten aus. Die Stille des Sees wurde oft durch ausgelassenes Rufen unterbrochen, das von den Vergnügungsbooten herüberkam, die über das stille Wasser glitten. Die Zuhörerschar Jesu erwartete von ihm eine scharfe Verurteilung dieser Art von Menschen; statt dessen mußten sie zu ihrer Verwunderung wahrnehmen, daß er die Schlechtigkeit ihrer eigenen Herzen bloßlegte.

Wenn jemand böse Gedanken hegt und pflegt, selbst in der geheimsten Kammer seines Herzens, ist das nach Jesu Wort ein Zeichen, daß die Sünde im Herzen regiert. Die Seele ist noch voller Bitterkeit des Bösen, liegt noch in Banden der Sünde. Wer Vergnügen daran findet, unsaubere Gedanken zu pflegen, wer sich lüsterne Blicke erlaubt, der sei sich darüber klar, daß das von ihm in der Herzenskammer verborgene Übel der offenen Sünde nicht nachsteht, die mit Schande belastet und das Herz in Kummer zerschlägt. Nicht erst die Versuchung, die jemand zu Fall bringen mag, erzeugt das Böse, das nun zutage tritt; sie bringt vielmehr nur ans Licht, was schon geheim im Herzen lag.

"Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben." Sprüche 4,23. "Denn nicht sieht der Herr auf das, worauf ein Mensch sieht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an." 1.Samuel 16,7.

"Wenn dir deine rechte Hand Ärgernis schafft, so haue sie ab und wirf sie von dir"

Um das Übergreifen einer tödlichen Vergiftung auf den ganzen Körper zu verhindern, würde sich jedermann die rechte Hand abnehmen lassen. Wieviel mehr sollte man zur Aufgabe dessen bereit sein, was unser ewiges Leben gefährdet!

Durch das Evangelium sollen verkommene und vom Satan geknechtete Seelen erlöst werden, um zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes zu gelangen. Es ist nicht nur Gottes Absicht, sie von den unausbleiblichen Plagen zu befreien, die im Gefolge der Sünde auftreten, sondern sie auch von der Sünde selbst zu erretten. Die mit Unflat bedeckte und entartete Seele soll geläutert und umgestaltet, soll mit der Schönheit des Herrn, unseres Gottes, angetan werden, daß sie "dem Ebenbilde seines Sohnes" (Römer 8,29) gleiche.

"Was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben." 1.Korinther 2,9. Erst in der Ewigkeit werden wir einen Begriff davon bekommen, wie herrlich die Bestimmung des zu Gottes Ebenbild wiederhergestellten Menschen ist.

Um dieses hohe Ziel zu erreichen, muß alles, was die Seele behindert, geopfert werden. Die Sünde übt nur in dem Maße Herrschaft über uns aus, wie wir ihr den Willen lassen. Für die Übergabe des Willens an Gott wird das Bild vom Ausreißen des Auges oder Abhacken der Hand gebraucht. Oft meinen wir, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen, bedeute, verstümmelt oder verkrüppelt durchs Leben zu gehen. Aber Jesus spricht, es sei besser, daß das Ich verstümmelt, verwundet und verkrüppelt werde, als daß das ewige Leben verlorengehe. Was dir als Mißgeschick erscheinen mag, ist Zugang zu höchster Glückseligkeit.

Gott ist die Quelle des Lebens; deshalb können wir nur dann Leben haben, wenn wir mit ihm verbunden sind. Von Gott geschieden, mögen wir unser kurzes Dasein fristen, Leben besitzen wir jedoch nicht. "Welche aber ihren Lüsten lebt, die ist lebendig tot." 1.Timotheus 5,6. Nur dadurch, daß wir unseren Willen Gott ganz unterwerfen, kann er uns Leben verleihen. Nur wenn wir durch Selbsthingabe sein Leben empfangen, ist es nach dem Wort Jesu möglich, die von ihm angedeuteten geheimen Sünden zu überwinden. Es ist zwar auch möglich, daß wir sie tief in unserem Herzen begraben und sie auf diese Weise vor den Augen der Menschen zu verbergen suchen; doch wie wollen wir so vor Gott bestehen?

Wenn der Mensch sich auf sich selbst verläßt und seinen Willen nicht Gott unterordnen will, wählt er den Tod. Gott ist der Sünde, wo er sie auch findet, ein verzehrendes Feuer. Wer die Sünde erwählt und sich nicht von ihr trennen will, den wird somit auch der sündenverzehrende Gott vertilgen.

Gewiß kostet es Opfer, wenn du dich Gott übergibst. Aber es wird ja hier Geringes dem Höheren dargebracht, Irdisches dem Geistlichen, Sterbliches dem Ewigen. Und doch will Gott auch nicht unseren Willen vernichten; denn nur durch Willensanspannung ist es uns möglich, seinen Willen auszuführen. Wir sollen unseren Willen nur in seinen Dienst stellen; er will ihn uns geläutert und gereinigt wiedergeben. Hat er ihn auf seinen göttlichen Willen abgestimmt, dann kann er Fluten von Liebe und Kraft durch uns ausgießen. Wie sauer und beschwerlich diese Übergabe auch dem eigensinnigen und halsstarrigen Herzen vorkommen mag, gilt ihm dennoch das Wort: "Es ist dir besser."

Jakob begriff den Sieg des überwindenden Glaubens erst, als er sich dem Engel des Bundes hilflos und lahm an die Brust geworfen hatte. Nun war er auch des göttlichen Fürstentums würdig. Als Jakob "hinkte an seiner Hüfte" (1.Mose 32,32), standen Esaus Bewaffnete stille vor ihm, und Pharao, der stolze Erbe aus königlichem Geblüt, beugte sich vor ihm, seinen Segen zu erbitten. So wurde auch der "Herzog ihrer Seligkeit, durch Leiden" vollkommen gemacht. Hebräer 2,10. Die Kinder des Glaubens "sind kräftig geworden aus der Schwachheit und haben der Fremden Heere zum Weichen gebracht". Hebräer 11,34. So werden "auch die Lahmen ... plündern" (Jesaja 33,23), die Schwachen wie "David" werden und "das Haus David ... wie der Engel des Herrn". Sacharja 12,8.

"Ist's auch recht, daß sich ein Mann scheide von seiner Frau?"

Bei den Juden war es zulässig, daß ein Mann wegen irgendeiner geringfügigen Ursache die Ehescheidung vollziehen konnte, wonach es der Frau freistand, sich wieder zu verheiraten. Diese Sitte hatte aber großes Elend und viele Sünden im Gefolge. Jesus sprach es in der Bergpredigt ganz klar aus, daß die Auflösung der ehelichen Verbindung unstatthaft sei, wenn es sich nicht gerade um Treubruch der einen Seite handelt. Er sagte später einmal: "Wer sich von seiner Frau scheidet, es sei denn um der Hurerei willen, und freit eine andere, der bricht die Ehe." Matthäus 19,9.

Als die Pharisäer einst den Herrn fragten, ob die Scheidung erlaubt sei, wies er sie auf die Einsetzung der Ehe bei der Schöpfung hin: "Mose hat euch erlaubt, euch zu scheiden von euren Frauen, um eures Herzens Härtigkeit willen; von Anbeginn aber ist's nicht so gewesen." Matthäus 19,8. Er führte sie in die seligen Tage von Eden zurück, als Gott alles als "sehr gut" bezeichnet hatte. Ehe und Sabbat nahmen dort ihren Ursprung, beide zur Verherrlichung Gottes und zum Segen der Menschheit bestimmt. Als der Schöpfer die Hände des heiligen Paares zum Ehebund vereinigte und das Wort sprach: "Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen, und sie werden sein ein Fleisch" (1.Mose 2,24), schuf er das Gesetz der Ehe für alle Adamskinder bis ans Ende der Zeit. Und was der himmlische Vater selbst als gut bezeichnet hatte, war ein Gesetz, das dem Menschen zu größtem Segen und höchster Entwicklung verhelfen sollte.

Wie alle andern guten Gaben Gottes, die der Menschheit als heilig zu hütendes Gut anvertraut wurden, ist auch die Ehe durch die Sünde verdorben worden. Doch das Evangelium zielt darauf ab, ihre Reinheit und Schönheit wiederherzustellen. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird die eheliche Verbindung als Bild für den innigen und heiligen Bund gebraucht, der zwischen Christus und seinem Volk, den Erlösten nämlich, besteht, die er um den Preis von Golgatha erkauft hat. "Fürchte dich nicht", spricht er, "... denn der dich gemacht hat, ist dein Mann Herr Zebaoth heißt sein Name, und dein Erlöser ist der Heilige Israels." Jesaja 54,4.5. "Kehrt um, ihr abtrünnigen Kinder, spricht der Herr, denn ich bin euer Herr!" Jeremia 3,14. Aus dem Hohenlied klingt uns die Stimme der Braut entgegen: "Mein Freund ist mein, und ich bin sein." Hohelied 2,16. Und der ihr "auserkoren unter vielen Tausenden" und "lieblich" ist (Hohelied 5,10.16), sagt: "Du bist wunderbar schön, meine Freundin, und kein Makel ist an dir." Hohelied 4,7.

In dem Brief des Apostels Paulus an die Christen zu Ephesus lesen wir, daß der Herr den Mann zum Haupt des Weibes gemacht habe, ihr Beschützer zu sein und die Familie zusammenzuhalten, wie auch Christus das Haupt der Gemeinde und der Heiland des geheimnisvollen Leibes sei. Deshalb spricht der Apostel "Wie nun die Gemeinde ist Christus untertan, so seien es auch die Frauen ihren Männern in allen Dingen. Ihr Männer, liebet eure Frauen, gleichwie auch Christus geliebt hat die Gemeinde und hat sich selbst für sie gegeben, auf daß er sie heiligte, und hat sie gereinigt durch das Wasserbad im Wort, auf daß er sie sich selbst darstellte als eine Gemeinde, die herrlich sei, die nicht habe einen Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen, sondern daß sie heilig sei und unsträflich. So sollen auch die Männer ihre Frauen lieben." Epheser 5,24-28.

Die Gnade Christi allein kann die Ehe zu dem machen, was sie nach dem Willen Gottes sein soll eine Gemeinschaft, die der Menschheit Segen und Auftrieb verleiht. Solche Familien auf Erden stellen zusammen durch ihre Einigkeit, ihren Frieden und ihre Liebe die höhere, die himmlische Familie dar.

Doch genau wie in den Tagen Christi sind auch heute die gesellschaftlichen Verhältnisse so beschaffen, daß nur eine traurige Verunstaltung vom göttlichen Edelbild dieses heiligen Bundes übrigbleibt. Bei alledem aber bietet die Heilsbotschaft Christi denen einen Trost, die der Enttäuschung Bitterkeit empfinden mußten, als sie Kameradschaft und Glück zu erjagen hofften. Geduld und Edelmut, die Christi Geist mitteilt, werden ihr bitteres Los versüßen. Ein Herz, worin Christus Wohnung genommen hat, wird seiner Liebe so voll und zufrieden, daß es sich nicht mehr in dem Wunsche verzehren kann, anderer Beachtung und Teilnahme auf sich gelenkt zu sehen. Durch die Hingabe der Seele an Gott kann seine Weisheit an ihr vollbringen, was menschlicher Weisheit unmöglich ist. Durch die Offenbarung seiner Gnade können Herzen, zwischen denen es fremd und kalt geworden war, durch festere und dauerhaftere als irdische Bande zusammengefügt werden, nämlich durch die goldenen Bande einer Liebe, die sich in der Versuchung bewährt.

"Ich ... sage euch, daß ihr überhaupt nicht schwören sollt"

Die Begründung dieses Gebotes gibt Jesus selbst wie folgt: "Weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Thron; noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist des großen Königs Stadt. Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz zu machen."

Alles kommt von Gott. Wir besitzen nichts, was wir nicht von ihm empfangen hätten, ja, alles, was wir haben, ist uns durch das Blut Christi erworben worden. All unser Besitz trägt gewissermaßen den Stempel des Kreuzes, ist er uns doch mit dem überaus kostbaren Blut erkauft worden, das als Leben Gottes von uns nie genug gewürdigt werden kann. Deshalb können wir auch zur Bestätigung unseres Wortes nichts verpfänden, weil es ja nicht unser wirkliches Eigentum ist.

Die Juden verstanden das dritte Gebot dahingehend, daß es ihnen den Mißbrauch des Namens Gottes untersagte. Dagegen hatten sie keine Bedenken, andere Eide anzuwenden. Der Schwur war ihnen etwas Alltägliches. Mose hatte ihnen den Falscheid verboten; aber sie hatten viele Hintertüren, durch die sie sich ihren eidlichen Verpflichtungen entzogen. Sie scheuten den ärgsten Mißbrauch nicht, schreckten selbst vor dem Meineid nicht zurück, wenn er sich durch schlaue Umgehung des Gesetzes bemänteln ließ.

Jesus verurteilte solche Unsitten und sagte ihnen deutlich, daß diese Anwendung des Eides eine Verletzung des Gottesgebotes sei. Damit untersagte unser Heiland jedoch nicht die Anwendung des Eides vor Gericht, wobei Gott feierlich als Zeuge dafür angerufen wird, daß die gemachte Aussage lautere Wahrheit sei. Hat Jesus selber doch bei seinem Verhör vor dem Hohen Rat die eidliche Aussage nicht verweigert. Der Hohepriester forderte ihn auf: "Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott; daß du uns sagest, ob du seist der Christus, der Sohn Gottes." Jesus antwortete "Du sagst es." Matthäus 26,63.64. Hätte Jesus in der Bergpredigt den Eid vor Gericht verworfen, so wäre bei seinem Verhör eine Zurechtweisung des Hohenpriesters zu erwarten gewesen, was zunutze seiner Jünger seine Lehre bekräftigt haben würde.

Gar viele scheuen sich nicht, ihre Mitmenschen zu betrügen, während sie darüber belehrt und auch vom Heiligen Geist gemahnt worden sind, daß es entsetzlich sei, ihren Schöpfer zu belügen. Sollen sie einen Eid ablegen, so wird ihnen eingeschärft, daß sie nicht bloß vor Menschen, sondern auch vor Gott ihr Zeugnis geben, daß sie im Falle falschen Zeugnisses ja vor dem Herzenskündiger stehen, dem die volle Wahrheit bekannt ist. Die Kenntnis der schrecklichen Folgen einer solchen Sünde übt einen hemmenden Einfluß auf sie aus.

Wenn irgend jemand einen Eid leisten kann, dann ist es ganz gewiß der Christ. Er führt sein Leben beständig vor Gott und ist sich darüber klar, daß alle seine Gedanken dem offenbar sind, mit dem er sich verbunden weiß. Nötigt ihn das Gesetz zum Schwur, so darf er sehr wohl Gott zum Zeugen anrufen dafür, daß seine Aussage auf reiner Wahrheit beruhe.

Im folgenden stellte Jesus einen Grundsatz auf, durch den sich der Schwur erübrigen sollte. Wir sollen die Wahrheit zur Richtschnur unserer Worte machen: "Eure Rede aber sei Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel."

Damit ist ein Werturteil über alle bedeutungslosen Redensarten und Ausdrücke abgegeben, die sich an der Grenze des Mißbrauchs bewegen. Dahin gehören alle unaufrichtigen Höflichkeitsformeln, alle Abweichungen vom wahren Sachverhalt, alle schmeichlerischen und übertriebenen Ausdrücke, die lügnerischen Warenanpreisungen, wie sie im gesellschaftlichen und geschäftlichen Leben üblich sind. Jenes Wort macht alle zu Lügnern, die etwas anderes scheinen wollen, als sie sind, oder deren Worte nicht den tatsächlichen Empfindungen des Herzens entsprechen.

Wenn man diesem Wort Christi Beachtung schenkte, würde manche schlechte Meinung und unfreundliche Herabsetzung unausgesprochen bleiben. Wer könnte wohl, wenn er Handlungen und Beweggründe eines andern beurteilt, behaupten, daß seine Darstellung der Wahrheit gerecht wird? Wie oft ist das Urteil durch. Leidenschaft, Stolz und persönliche Empfindsamkeit getrübt! Ein Blick, ein Wort, selbst der Klang der Stimme können mit Falschheit geladen sein. Ja selbst Tatsachen können so geschildert werden, daß ein falscher Eindruck entsteht. Bedenke: "Was darüber ist" nämlich über der Wahrheit, "das ist vom Übel."

Alles Tun des Christen sollte so klar sein wie die Sonne. Die Wahrheit ist aus Gott; die Lüge in ihrer tausendfachen Gestalt stammt vom Teufel. Wer irgendwie vom festen Pfad der Wahrheit weicht, liefert sich der Gewalt des Bösen aus. Es ist aber auch wirklich nicht so leicht, immer die unverfälschte Wahrheit zu reden. Wir können die Wahrheit nicht reden, wenn wir sie nicht kennen. Wie oft hindern uns vorgefaßte Meinungen, einseitiger Standpunkt, mangelhafte Kenntnis und irriges Urteil am richtigen Verstehen der Angelegenheiten, mit denen wir zu tun haben! Wir können die Wahrheit nicht reden, wenn unser Geist nicht dauernd unter der Führung dessen steht, der die Wahrheit ist.

Christus ermahnt uns durch den Apostel Paulus: "Eure Rede sei allezeit lieblich." Kolosser 4,6. "Lasset kein faul Geschwätz aus eurem Munde gehen, sondern was gut ist und das Nötige fördert, das redet, auf daß es Segen bringe denen, die es hören." Epheser 4,29. Im Lichte dieser Bibelstellen betrachtet, ist das Wort Jesu in der Bergpredigt eine Ablehnung von Witzen, Albernheiten und unsauberem Geschwätz. Es fordert von unserer Rede nicht nur Wahrheit, sondern auch Reinheit.

Wer von Christus gelernt hat, wird "nicht Gemeinschaft mit den unfruchtbaren Werken der Finsternis" (Epheser 5,11) haben. Seine Worte und sein Leben werden einfach, offen und wahr sein, bereitet er sich doch auf die Gemeinschaft der Heiligen vor, in deren "Munde ist kein Falsch gefunden". Offenbarung 14,5.

"Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar"

Da die Juden dauernd mit römischen Soldaten in Berührung kamen, gab es oft Veranlassung zur Erregtheit. Über ganz Judäa und Galiläa waren Truppen verteilt, und das Volk wurde durch ihren Anblick immer an seine nationale Demütigung erinnert. Mit tiefem Ingrimm hörten sie den lauten Schall der Trompeten, sahen die Truppe sich um das römische Feldzeichen scharen und dem Sinnbild ihrer Macht Ehrenbezeugungen erweisen. Durch häufige Zusammenstöße zwischen Volk und Soldaten wurde der allgemeine Haß immer größer. Wenn ein römischer Beamter mit einer Schutzwache von Ort zu Ort eilte, griff er einfach jüdische Bauern auf, die er gerade bei der Feldarbeit antraf und zwang sie, Lasten bergauf zu tragen oder sonst einen Dienst zu verrichten. Das war bei den Römern Gesetz und Brauch, und die Verweigerung solchen Ansinnens hätte Strafen und Quälereien eingebracht.

Mit jedem Tage fraß sich die Sehnsucht tiefer in die Herzen, endlich das verhaßte Joch abzuwerfen. Besonders die harten, kühnen Galiläer waren aufs tiefste empört. Kapernaum war als Grenzstadt Sitz einer römischen Garnison, und gerade als Jesus predigte, wurde in seinen Zuhörern durch eine Abteilung vorüberziehender Soldaten der bittere Gedanke an Israels Demütigung aufs neue wachgerufen. Die Leute setzten ihre ganze Hoffnung auf Christus, von dem sie erwarteten, daß er das stolze Rom recht tief demütigen werde.

Jesus schaute mit Betrübnis in all die zu ihm aufblickenden Angesichter. Er erkannte, daß der Geist der Rache ihnen seinen Stempel aufgedrückt hatte, und wußte, wie heiß das Volk sich nach der Macht sehnte, seine Unterdrücker zu vernichten. Traurig bittet er sie: Widerstrebet nicht "dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar".

Mit diesen Worten wiederholte er nur, was schon im Alten Testament geschrieben stand. Wohl findet sich dort auch die Regel "Auge um Auge, Zahn um Zahn" (3.Mose 24,20), doch hatte Mose diese auf die Obrigkeit berechnet. Sonst war niemand berechtigt, die Rache selbst in die Hand zu nehmen, denn der Herr hatte geboten: "Sprich nicht: ‚Ich will Böses vergelten!'" Sprüche 20,22. "Sprich nicht: ‚Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun.'" Sprüche 24,29. "Freue dich nicht über den Fall deines Feindes." Sprüche 24,17. "Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser." Sprüche 25,21.

Jesus hat das in seinem ganzen Erdenleben durchgeführt. Er verließ sein himmlisches Heim, um seinen Feinden das Brot des Lebens zu bringen. Von der Krippe bis zum Grabe ist er verleumdet und verfolgt worden. Trotzdem hat ihn das eben zu keiner andern Äußerung gezwungen als der, daß er liebend vergebe. Er hat durch den Propheten Jesaja gesprochen: "Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel." Jesaja 50,6.

Und weiter: "Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf." Jesaja 53,7. Vom Kreuz auf Golgatha her klingt durch die Zeiten hindurch das Gebet für seine Mörder und das Hoffnungswort an den sterbenden Übeltäter.

Christus lebte in der Gegenwart Gottes; daher war ihm alles, was ihm begegnete, von der ewigen Liebe zum Segen der Welt bestimmt. Das diente ihm zum Trost und soll auch unsere Trostquelle sein. Wer vom Geist Christi erfüllt ist, der bleibt in Christus. Der Streich, der auf ihn abgezielt ist, trifft den Heiland, der sich schützend vor ihn stellt. Trifft ihn selbst aber etwas, so kommt es von Christus. Es tut gar nicht not, daß er dem Bösen widerstehe, weil ja Christus seine Wehr ist. Nur was der Herr zuläßt, kann ihm begegnen, denn "wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen". Römer 8,28.

"Wenn jemand mit dir rechten will [vor Gericht mit dir streiten] und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei"

Jesus gebot seinen Jüngern nicht nur, der Obrigkeit nicht zu widerstreben, sondern sogar über das Maß der auferlegten Pflicht hinauszugehen. Sie sollten allen ihren Verpflichtungen bestens gerecht werden, auch wenn das Landesgesetz dies nicht verlangte. Das durch Mose gegebene Gesetz forderte äußerste Rücksicht gegen die Armen. Wenn ein armer Mann sein Kleid als Pfand oder Sicherheit für eine Schuld hinterlegen wollte, durfte der Gläubiger nicht in sein Haus gehen, um es zu holen, sondern mußte auf der Straße warten, bis es ihm hinausgebracht wurde. Und mochten die Umstände sein, wie sie wollten, am Abend mußte das Pfand dem Eigner zurückerstattet werden. 5.Mose 24,10-13.

Zur Zeit Christi fanden diese Regeln der Barmherzigkeit nur noch wenig Beachtung. Jesus aber lehrte seine Jünger, sich der Gerichtsentscheidung zu fügen, auch wenn sie darüber hinausreichte, was im Gesetz Moses verlangt war. Sie sollten sogar bereit sein, im gegebenen Falle ein Kleidungsstück herzugeben, und, um den Gläubiger zufriedenzustellen, diesem auf Verlangen mehr erstatten, als der Urteilsspruch besagte. "Wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel." Und fordert einer, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm sogar zwei Meilen.

Jesus fügte dem noch hinzu: "Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will." Den gleichen Satz hatte schon Mose aufgestellt: "Wenn einer deiner Brüder arm ist in irgendeiner Stadt in deinem Lande, das der Herr, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder, sondern sollst sie ihm auftun und ihm leihen, soviel er Mangel hat." (5.Mose 15,7.8). Dies Bibelwort erklärt den Ausspruch des Heilandes. Christus lehrt nicht, allen, die um Unterstützung bitten, freimütig zu geben, sondern spricht: Du sollst "ihm leihen, soviel er Mangel hat". Daß wir besser ein Geschenk machen, als Geld nur auszuleihen, erkennen wir aus dem Wort: "Leihet, wo ihr nichts dafür hoffet." Lukas 6,35.

"Liebet eure Feinde"

Das Wort des Herrn: "Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel" war für die rachsüchtigen Juden eine harte Rede gewesen, und sie murrten darüber im stillen. Da fügte Jesus noch einen stärkeren Ausspruch hinzu:

"Ihr habt gehört, daß gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.' Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel."

Das war der Geist des Gesetzes, das die Schriftgelehrten zu einem kalten und strengen Regelbuch herabgewürdigt hatten. Sie hielten sich für besser als andere Menschen und glaubten durch ihre Geburt als Israeliten bei Gott besondere Vorzüge genießen zu können. Jesus dagegen machte die Gesinnung versöhnlicher Liebe zum Beweisstück dafür, ob jemand sittlich wertvoller sei als die verachteten Zöllner und Sünder.

Jesus sprach zu seinen Zuhörern vom Weltenherrscher als von "unserm Vater". Er wollte ihnen damit verständlich machen, in welch innigem Verhältnis Gott zu ihnen stand. Er lehrte, daß Gott auch jedem Verlorenen nachgeht; denn "wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten". Psalm 103,13. Ein solcher Gottesbegriff findet sich außer in der biblischen in keiner andern Religion der Erde. Im Heidentum ist das höchste Wesen ein mehr Furcht als Liebe einflößender Gott. Das Heidentum kennt nur die grollende Gottheit, die durch Opfer besänftigt werden muß, und weiß nichts von dem Vater, der seine Kinder mit Liebe überschüttet. Selbst das Volk Israel war gegenüber der köstlichen Verkündigung der Propheten von Gott so blind geworden, daß diese Offenbarung seiner Vaterliebe ihnen eigenartig, wie ein neues Geschenk für diese Welt, vorkam.

Die Juden glaubten, daß Gott liebe, die ihm dienen, und das waren nach ihrer Anschauung alle, die Aufsätze der Schriftgelehrten befolgten. Die übrigen Menschen stünden ihrer Meinung nach unter seinem Zorn und Fluch. Jesus dagegen verkündigte, daß die ganze Welt mit Guten und Bösen im Sonnenschein der Liebe Gottes glänze. Das hätten sie sich auch von der Natur sagen lassen können; denn "er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte". Matthäus 5,45.

Nicht durch eine ihr selbst innewohnende Kraft bringt die Erde ihre Gaben hervor und vollzieht ihren Kreislauf um die Sonne, sondern die Hand Gottes leitet die Wandelsterne und hält sie auf ihrer himmlischen Bahn. Durch seine Kraft folgen Sommer und Winter, Saat und Ernte, Tag und Nacht einander in regelmäßigem Wechsel. Durch sein Wort gedeiht das Pflanzenreich, erscheinen die Blätter und blühen die Blumen. Alle Güter, die wir haben, jeder Sonnenstrahl und jeder Regenschauer, jeder Bissen Nahrung und jeder Augenblick des Lebens ist eine Gabe der Liebe.

Als wir noch lieblos und unverträglich waren, "verhaßt und haßten uns untereinander", hatte unser himmlischer Vater schon Erbarmen mit uns. Da "aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes", und "rettete ... uns, nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit". Titus 3,3-5. So wird seine Liebe, wenn wir sie in uns aufnehmen, auch uns freundlich und gütig machen, und zwar nicht allein gegen diejenigen, die uns gefallen, sondern auch gegen die Irrenden, ja selbst gegen die Schuldigsten und Sündhaftesten.

Kinder Gottes sind Menschen, die der göttlichen Natur teilhaftig sind. Nicht irdische Stellung, nicht Geburt, nicht Volkszugehörigkeit noch religiöser Besitz weisen uns als Glieder der Familie Gottes aus; dazu gehört ganz allein die Liebe, die Liebe zu allen Menschen. Selbst Sünder, deren Herzen dem Heiligen Geist noch nicht ganz verschlossen sind, zeigen sich empfänglich für Freundlichkeit. Haben sie Haß um Haß gegeben, werden sie nun Liebe mit Liebe vergelten. Der Geist Gottes aber wird sie dahin führen, daß auch sie Liebe für Haß geben können. Zu Undankbaren und Bösen freundlich sein, Gutes tun ohne Hoffnung auf Entgelt, das ist das Kennzeichen himmlischen Königtums, und so legen die Kinder des Höchsten ihren hohen Standpunkt dar.

"Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist"

Das Wort "darum" leitet eine Schlußfolgerung ein, deutet an, daß etwas vorausgegangen ist. Jesus hatte seiner Hörergemeinde soeben die unendliche Liebe und Barmherzigkeit Gottes geschildert, und "darum" gebot er ihnen, vollkommen zu sein. Weil euer himmlischer Vater gütig ist "über die Undankbaren und Bösen" (Lukas 6,35), weil er sich herniederneigte, dich zu erheben, darum, sagte Jesus, kannst du ihm wesensähnlich werden und als Schuldloser vor Menschen und Engeln stehen.

Die Bedingungen zum ewigen Leben sind heute, unter der Gnade, noch die gleichen, wie sie einst im Paradies waren: vollkommene Gerechtigkeit, Einklang mit Gott, restlose Übereinstimmung mit der Grundlage des Gesetzes.

Das Bildungsziel unseres Wesens ist im Alten Testament das gleiche wie im Neuen Testament. Es ist kein Hochziel, das unerreichbar wäre. Jedes Gebot, jeder Auftrag Gottes enthält auch eine gewisse Verheißung. Gott hat Vorkehrung getroffen, daß wir ihm gleich werden können, und er wird das auch an allen zustande bringen, deren Wille nicht entgegengesetzt gerichtet ist und dadurch seine Gnade unwirksam macht.

Gott hat uns mit unaussprechlicher Liebe geliebt. Die Gegenliebe wird bei uns erwachen, sobald wir anfangen, die Länge, Breite, Tiefe und Höhe der Liebe zu begreifen, die alle Erkenntnis übertrifft. Durch Offenbarung der anziehenden Lieblichkeit Christi, durch Erkenntnis seiner Liebe zu uns, als wir noch Sünder waren, wird das harte Herz weich und demütig; der bisher Sünder war, wird nun ein Kind Gottes. Gott bedient sich keiner Zwangsmaßnahmen; die Liebe ist das Mittel, mit dem er die Sünde aus dem Herzen tilgt. Durch die Liebe verwandelt er den Stolz in Demut. Feindschaft und Unglauben in Liebe und Glauben.

Die Juden hatten sich aufs äußerste bemüht, aus eigener Kraft vollkommen zu werden; aber sie hatten das Ziel verfehlt. Christus hatte ihnen bereits gesagt, daß sie in eigener Gerechtigkeit nie das Königreich der Himmel erlangen würden. Nun aber zeichnete er ihnen das Wesen der Gerechtigkeit, die allen Himmelsbürgern eigen sein wird. In der ganzen Bergpredigt schildert er ihre Frucht, und in diesem einen Satz nennt er ihre Quelle und ihr Wesen. Seid vollkommen, wie Gott vollkommen ist. In seinem Gesetz spiegelt sich das Wesen Gottes und gründet sich seine Herrschaft.

Gott ist Liebe. Wie die Sonne ihre Strahlen sendet, strömt er auf alle seine Geschöpfe Liebe, Licht und Freude aus. Es ist seine Natur, Gaben auszustreuen. Das Sein Gottes ist immer nur Ausströmen selbstloser Liebe. Er sagt uns, daß wir ebenso vollkommen sein sollen, wie er es ist. Wir sollen in unserem Lebenskreis Sammelpunkte von Licht und Segen sein, wie Gott ein solcher im Weltall ist. Haben wir auch nichts aus uns selbst, so scheint uns doch das Licht seiner Liebe, und wir sind bestimmt, seinen Glanz widerzustrahlen. Durch von Gott geliehene Güte gut geworden, können wir nun in unserem Kreise vollkommen sein wie Gott in dem seinen.

Jesus stellte uns die Vollkommenheit unseres Vaters als Beispiel hin. Sind wir Kinder Gottes, dann sind wir auch göttlicher Natur teilhaftig geworden, und es ist gar nicht anders möglich, als ihm ähnlich zu sein. Jedes Kind verdankt sein Leben dem Leben seines Vaters. Wenn wir Gottes Kinder sind, von seinem Geist gezeugt, leben wir durch das Leben aus Gott. In Christus wohnt "die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig" (Kolosser 2,9), und es wird "auch das Leben Jesu offenbar ... an unserem sterblichen Fleische". 2.Korinther 4,11. Wohnt uns dies Leben inne, dann wird es uns mit Christus wesensverwandt machen und uns zu den gleichen Werken veranlassen, die er tat. Auf diese Weise gelangen wir dann in Einklang mit allen seinen Geboten; denn "das Gesetz des Herrn ist vollkommen und erquickt die Seele". Psalm 19,8. Durch die Liebe wird die "Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt ..., die wir nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist". Römer 8,4.