Macht Und Ohnmacht

Kapitel 42

Nebukadnezar Findet Zu Gott

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Daniel 3,31 bis 4,34.

Nebukadnezar - zum Gipfel weltlicher Ehre erhoben und sogar vom inspirierten Wort als "König der Könige" anerkannt (Hesekiel 26,7) - schrieb während einiger Jahre den Ruhm seines Königreiches und den Glanz seiner Herrschaft der Gunst Jahwes zu. Der Traum vom großen Standbild hatte ihm diese Erkenntnis geschenkt und sein Denken nachhaltig beeinflusst. Vor allem bewegte ihn der Gedanke, dass das große Weltreich Babylon schließlich doch untergehen und von anderen Reichen abgelöst werden sollte. Zuletzt würde dann an Stelle aller irdischen Mächte das Reich vom Gott des Himmels aufgerichtet werden, das unzerstörbar ist (vgl. Daniel 2,44).

Nach einiger Zeit verlor Nebukadnezar jedoch die hohe Vorstellung von Gottes Absicht für die Völker aus den Augen. Als sein Stolz vor der Menschenmenge in der Ebene Dura gedemütigt worden war, hatte er erneut bekennen müssen: Gottes "Reich bleibt für immer bestehen, seine Herrschaft nimmt kein Ende" (Daniel 3,33b GNB). Obwohl er nach Herkunft und Erziehung ein Götzendiener war und an der Spitze eines abgöttischen Volkes stand, besaß er dennoch einen angeborenen Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Gott hatte ihn daher als Werkzeug zur Bestrafung seines widerspenstigen Volkes und für die Ausführung seiner göttlichen Absicht gebrauchen können. Nach Jahren geduldiger und mühevoller Anstrengungen vermochten Nebukadnezar und seine Armee, "die Gewalttätigsten unter den Völkern" (Hesekiel 28,7), Tyrus zu erobern. Auch Ägypten fiel seinen siegreichen Heeren als Beute zu. Als er eine Nation nach der anderen dem Babylonischen Reich hinzufügte, vermehrte er ständig seinen Ruhm als größter Herrscher seiner Zeit.

Es ist nicht verwunderlich, dass dieser erfolgreiche Monarch vor lauter Ehrgeiz und Stolz der Versuchung erlag, vom Pfad der Demut abzuweichen, der allein zu wahrer Größe führt. Die Zeiten zwischen seinen Eroberungskriegen nutzte er zur Befestigung und Verschönerung seiner Hauptstadt, bis die Stadt Babylon schließlich das Glanzstück seines Königreiches wurde, "die in aller Welt Berühmte" (Jeremia 51,41). Seine Leidenschaft als Bauherr und sein außerordentlicher Erfolg beim Ausbau Babylons zu einem Weltwunder nährten seinen Stolz, bis er in große Gefahr geriet, seinen Ruf als weiser Herrscher, den Gott auch weiterhin als Werkzeug für die Ausführung seines göttlichen Planes gebrauchen konnte, zu verderben.

Ein Weiterer Traum

In seiner Güte schenkte Gott dem König einen weiteren Traum, um ihn vor seiner Gefährdung und vor der Schlinge zu warnen, die zu seinem Verderben ausgelegt worden war. In einem Nachtgesicht sah Nebukadnezar einen großen Baum, der mitten auf der Erde wuchs. "Er wuchs und wurde immer größer und mächtiger, und sein Wipfel reichte schließlich bis in den Himmel ... Er hatte frische grüne Blätter und trug so reichlich Frucht, dass alle von ihm genährt wurden. Die wilden Tiere fanden unter ihm Schatten, und in seinen Zweigen nisteten die Vögel des Himmels. Alles, was lebte, ernährte sich von ihm." (Daniel 4,8.9 NLB)

Beim Anblick des stattlichen Baumes erblickte der König einen "Wächter", einen "Heiligen" (Daniel 4,10b Elb.), der mit lauter Stimme rief: "Fällt den Baum und hackt seine Äste ab! Streift das Laub von den Zweigen und streut die Früchte überall umher! Die Tiere, die unter seinem Schatten Schutz fanden, und die Vögel in seinen Zweigen sollen fliehen. Nur den Stumpf lasst in der Erde, aber fesselt ihn mit eisernen und bronzenen Ketten, damit er unten am Boden bleibt zwischen Gras und Kräutern. Der Tau soll auf ihn fallen; wie das Wild soll er im Gras liegen. Statt eines Menschenverstandes soll ihm der Verstand eines Tieres gegeben werden. So sollen sieben Jahre über ihn hingehen. Dies ist im himmlischen Rat beschlossen worden, damit alle Menschen erkennen: Der höchste Gott ist Herr über die Reiche der Welt; er gibt die Herrschaft, wem er will; den Geringsten unter den Menschen kann er zum Herrscher über alle erheben." (Daniel 4,11-14 GNB)

Ein Erneutes Versagen

Der König war von dem Traum, der offenbar Unglück ankündigte, sehr beunruhigt und erzählte ihn seinen Weisen, doch keiner der "Gelehrten, Magier, Wahrsager und Sterndeuter" konnte ihn deuten (Daniel 4,4 GNB), obwohl der Traum sehr klar war.

Noch einmal sollte in dieser götzendienerischen Nation die Wahrheit bezeugt werden, dass nur Menschen, die Gott lieben und fürchten, die Geheimnisse des Himmelreichs verstehen können. In seiner Ratlosigkeit ließ der König seinen Diener Daniel holen, einen wegen seiner Rechtschaffenheit, Beständigkeit und unübertroffenen Weisheit hochgeschätzten Mann.

Als Daniel der königlichen Vorladung Folge leistete und vor dem König stand, sagte Nebukadnezar: "Beltschazar, du bist der oberste der königlichen Ratgeber. Ich weiß, dass du vom Geist der heiligen Götter erfüllt bist und es kein Geheimnis gibt, welches du nicht enträtseln könntest. Sag mir, was mein Traum bedeutet! ... Alle Weisen meines Reiches konnten es mir nicht sagen; aber du kannst es, weil du vom Geist der heiligen Götter erfüllt bist." (Daniel 4,6.15 GNB)

Eine Diplomatische Deutung

Für Daniel war die Bedeutung des Traumes einfach zu begreifen. Sie erschreckte ihn derart, dass er "eine Zeitlang vor Entsetzen wie erstarrt [war], weil ihm seine Gedanken Furcht einjagten". Der König, der Daniels Zögern und innere Not sah, zeigte Mitempfinden mit seinem Diener und sagte: "Beltschazar, lass dir vom Traum und seiner Auslegung keine Angst machen." (Daniel 4,16ab NLB)

Daniel erwiderte: "Ach, mein Herr, dass doch der Traum deinen Feinden und seine Deutung deinen Widersachern gelte!" (Daniel 4,16c) Der Prophet erkannte, dass Gott ihm die heilige Pflicht auferlegt hatte, Nebukadnezar das nahende Gericht zu offenbaren, das ihn wegen seiner stolzen Anmaßung treffen sollte. Für die Deutung musste er mit Bedacht eine Ausdrucksweise finden, die der König verstand. Obwohl ihn die furchtbare Bedeutung sprachlos gemacht und vor Bestürzung hatte zögern lassen, musste er doch die Wahrheit sagen - ganz gleich, welche Folgen sich für ihn ergeben würden.

Dann gab Daniel die Verfügung des Allmächtigen bekannt: "Der Baum, den du gesehen hast, dieser große und mächtige Baum, der bis zum Himmel reichte, der dichtes Laub hatte und reiche Früchte trug, in dessen Schatten die Tiere ruhten und in dessen Zweigen die Vögel nisteten und der allem, was lebt, Nahrung bot - dieser Baum bist du selbst, mein König! Du wurdest groß und mächtig, deine Gewalt reichte bis an den Himmel und deine Herrschaft erstreckte sich bis an die äußersten Enden der Erde. Dann aber sahst du den Engel vom Himmel herabkommen, der befahl: ›Fällt den Baum, vernichtet ihn! Nur den Stumpf lasst übrig und legt ihn in Ketten; er bleibe unten am Boden zwischen Gras und Tieren und sei schutzlos dem Tau preisgegeben, sieben Jahre lang!‹ Mein Herr und König, das bedeutet, dass der höchste Gott sein Urteil über dich gesprochen hat. Du wirst aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen werden und unter den wilden Tieren leben müssen, du wirst Gras fressen wie ein Rind und nass werden vom Tau, der vom Himmel fällt. Sieben Jahre werden so über dich hingehen, bis du erkennst: Der höchste Gott allein ist Herr über alle Menschen und er gibt die Herrschaft, wem er will. Dass aber der Befehl erging, den Stumpf in der Erde zu lassen, das bedeutet: Die Herrschaft wird dir zurückgegeben werden, wenn du Gott als den höchsten Herrn anerkennst." (Daniel 4,17-23 GNB)

Nachdem Daniel den Traum gewissenhaft ausgelegt hatte, drängte er den stolzen Monarchen, zu bereuen und sich zu Gott zu kehren, um durch rechtes Tun das drohende Unheil abzuwenden. "Lass dir deshalb raten, mein König", flehte der Prophet ihn an. "Kehre dich ab vom Unrecht und halte dich an das Recht; mach deine Verfehlungen wieder gut, indem du den Armen Gutes tust. Sonst wird dein Glück nicht von Dauer sein." (Daniel 4,24 GNB)

Eine Vergebene Gelegenheit

Eine Zeitlang übten die Warnung und der Rat des Propheten einen starken Eindruck auf Nebukadnezar aus. Aber in einem Herzen, das nicht durch die Gnade Gottes umgewandelt ist, lassen die vom Heiligen Geist gewirkten Eindrücke bald nach. Weil das Herz des Königs noch nicht von Genusssucht und Ehrgeiz gereinigt war, gewannen diese Charakterzüge bald wieder die Oberhand. Trotz der Belehrung, die ihm so gnädig erteilt worden war, und trotz der Warnungen, die er in der Vergangenheit erhalten hatte, überließ sich Nebukadnezar doch wieder der Eifersucht auf die Reiche, die später aufkommen sollten. Seine Herrschaft, die bisher in hohem Maß gerecht und barmherzig gewesen war, artete zur Tyrannei aus. Indem er sein Herz verhärtete, gebrauchte er seine gottgegebenen Fähigkeiten zur Selbstverherrlichung und erhob sich über den Gott, der ihm Leben und Macht verliehen hatte.

Monatelang zögerte sich das Gericht Gottes hinaus. Aber statt sich durch diese Langmut zur Reue leiten zu lassen, frönte der König seinem Stolz, bis er sein Vertrauen in die Deutung des Traums verlor und über seine früheren Befürchtungen scherzte.

Ein Jahr nach der Warnung schlenderte Nebukadnezar eines Tages durch seinen Palast und mit Stolz über seine Herrschermacht und seinen Erfolg als Städtebauer prahlte er: "Das ist das große Babel, das ich erbaut habe zur Königsstadt durch meine große Macht zu Ehren meiner Herrlichkeit." (Daniel 4,27)

Kaum hatte der König diese stolze Prahlerei ausgesprochen, kündigte eine Stimme vom Himmel an, dass nun die Zeit für den Vollzug des Gerichts gekommen war. Jahwes Richterspruch drang an seine Ohren: "König Ne- bukadnezar, hiermit wird dir die Herrschaft weggenommen! Du wirst aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen und musst unter den wilden Tieren leben, du wirst Gras fressen wie ein Rind, und das sieben Jahre lang, bis du erkennst: Der höchste Gott allein ist Herr über alle Menschen, und er gibt die Herrschaft, wem er will." (Daniel 4,28.29 GNB)

Nebukadnezars Irrsinn

Augenblicklich wurde ihm die Vernunft entzogen, die Gott ihm gegeben hatte. Das Urteilsvermögen, das der König für vollkommen hielt, und die Klugheit, mit der er sich gebrüstet hatte, wurden weggenommen. Der einst so mächtige Herrscher war dem Irrsinn verfallen. Zur Ausübung der Regierungsgeschäfte war er nicht mehr fähig. Da er alle Warnungsbotschaften unbeachtet gelassen hatte, war Nebukadnezar nun aller Macht, die sein Schöpfer ihm verliehen hatte, beraubt. "Er wurde aus der Gemeinschaft der Menschen ausgestoßen, er fraß Gras wie die Rinder und wurde vom Tau des Himmels durchnässt. Die Jahre vergingen, und seine Haare wurden so lang wie Adlerfedern und seine Nägel wie die Krallen eines Vogels." (Daniel 4,30 NLB)

Sieben Jahre lang blieb Nebukadnezar für seine Untertanen ein unerklärliches Rätsel; sieben Jahre lang stand er vor aller Welt entwürdigt da. Danach kam er wieder zur Vernunft. Demütig blickte er zum Gott des Himmels auf und erkannte die göttliche Hand in seiner Züchtigung. In einer öffentlichen Erklärung gestand er seine Schuld ein und erkannte die Gnade Gottes an, die ihn wiederhergestellt hatte. Er verkündigte: "Am Ende dieser Jahre richtete ich, Nebukadnezar, meine Augen zum Himmel auf. Mein Verstand kehrte wieder und ich dankte dem Höchsten, lobte ihn und gab dem, der ewig lebt, die Ehre. Seine Herrschaft ist eine Herrschaft für alle Zeiten, sein Reich besteht von Generation zu Generation. Alle Bewohner der Erde sind im Vergleich zu ihm wie nichts. Er handelt, wie er es für richtig hält, sowohl bei den Engeln im Himmel als auch bei den Bewohnern der Erde. Und es gibt keinen, der ihm Einhalt gebieten könnte oder zu ihm sagen dürfte: ›Was tust du da?‹ Zur gleichen Zeit kehrte mein Verstand wieder, und zum Ruhm meines Königreiches erhielt ich meine Herrlichkeit und königliche Pracht zurück. Meine Verwalter, die mich während der vergangenen Jahre in meinen Regierungsgeschäften vertreten hatten, und die obersten Männer meines Reiches suchten mich auf. Meine Regentschaft wurde bestätigt, ja meine Ehre war sogar noch größer als zuvor." (Daniel 4,31-33 NLB)

Der König Lobt Gott

Aus dem einst stolzen Monarchen war ein demütiges Kind Gottes geworden; der tyrannische, anmaßende Herrscher zu einem weisen und barmherzigen König. Er, der den Gott des Himmels herausgefordert und gelästert hatte, erkannte nun die Macht des Allerhöchsten an und versuchte ernsthaft die Ehrfurcht vor Jahwe und das Glück seiner Untertanen zu fördern. Durch die Zurechtweisung des Königs aller Könige und Herrn aller Herren hatte Ne- bukadnezar schließlich die Lektion gelernt, die alle Herrscher lernen sollten: dass wahre Größe in wahrer Güte besteht. Er erkannte Jahwe als den lebendigen Gott mit den Worten an: "Jetzt preise, erhebe und verherrliche ich, Nebukadnezar, den König des Himmels. Alles, was er tut, ist Wahrheit, und seine Wege sind gerecht. Diejenigen, die stolz oder hochmütig sind, kann er erniedrigen." (Daniel 4,34 NLB)

Damit war Gottes Absicht erfüllt, dass das größte Königreich sein Lob verkünden sollte. Diese öffentliche Erklärung, in der Nebukadnezar die Gnade, Güte und Autorität Gottes anerkannte, ist die letzte Tat seines Lebens, die in der biblischen Geschichte überliefert ist.