Macht Und Ohnmacht

Kapitel 45

Die Rückkehr Aus Der Verbannung

[AUDIO]

Jesaja 44,24 bis 45,13; Daniel 9, Esra 1 und 3.

Die Ankunft der Armee des Kyrus vor den Mauern Babylons war für die Juden ein Zeichen, dass ihre Befreiung aus der Gefangenschaft nahte. Mehr als 100 Jahre vor der Geburt des Kyrus war er schon vom Propheten Jesaja namentlich angekündigt worden. Es war auch vorhergesagt worden, wie er die Stadt Babylon unerwartet erobern und so die Freilassung der gefangenen Israeliten vorbereiten würde.

Jesaja hatte verkündigt: "Dies sagt der Herr zu Kyrus, seinem Gesalbten, dessen rechte Hand er ergriffen hat, um durch ihn Völker zu unterwerfen und Könige zu entwaffnen und ihm Tür und Tor zu öffnen. Keine Pforte soll ihm verschlossen bleiben. ›Ich will vor dir hergehen und einebnen, was sich dir in den Weg stellt. Ich werde Bronze-Tore zerschmettern und Eisenriegel zerbrechen. Und ich gebe dir Schätze, die im Dunkeln verborgen sind - geheime Reichtümer. Das alles tue ich, damit du weißt, dass ich der Herr bin, der Gott Israels, der dich bei deinem Namen ruft.‹" (Jesaja 45,1-3 NLB)

Die Armee des persischen Eroberers war unvermutet bis in die Mitte der babylonischen Hauptstadt vorgedrungen, und zwar durch das Flussbett des Euphrat, dessen Wasser man abgeleitet hatte, und durch die inneren Tore, die in sorgloser Sicherheit offen und unbewacht gelassen worden waren. Das hätte für die Juden ein deutliches Zeichen sein sollen, dass Gott die Angelegenheiten der Völker zu ihren Gunsten lenkte, denn folgende Worte waren untrennbar mit der Vorhersage über Babylons Einnahme und Fall verknüpft: "Jetzt sage ich zu Kyrus: ›Ich mache dich zum Hirten meines Volkes.‹ Er wird alles ausführen, was ich will. Er wird befehlen: Jerusalem wird wieder aufgebaut und der Tempel wird von Neuem errichtet.‹" (Jesaja 44,28 GNB) ">Ich bin es auch, der Kyrus erweckt hat und ihm den Sieg gibt. Ich ebne ihm die Wege und breche jeden Widerstand. Er wird meine Stadt Jerusalem wieder aufbauen und mein verbanntes Volk heimkehren lassen - und er bekommt dafür keine Bezahlung und keine Geschenke!‹ Das sagt der Herr, der Herrscher der Welt." (Jesaja 45,13 GNB)

Die Schriften Jeremias Nähren Die Hoffnung

Doch das waren nicht die einzigen Prophezeiungen, auf die die Verbannten ihre Hoffnung für eine baldige Befreiung gründen konnten. Sie hatten Zugang zu den Schriften Jeremias. Darin war klar angegeben, wie viel Zeit bis zur Rückkehr Israels aus Babylon vergehen sollte. Der Herr hatte durch seinen Boten vorausgesagt: "Wenn aber diese 70 Jahre um sind", spricht der Herr, will ich den König von Babel und sein Volk zur Rechenschaft ziehen wegen all der Schuld, die sie auf sich geladen haben. Ich werde das Land der Babylonier für alle Zeiten zur Wüste machen." (Jeremia 25,12 NLB) Als Antwort auf inbrünstige Gebete wollte Gott dem Überrest Judas Gunst erweisen: Ich will "mich von euch finden lassen ... Ich will euer Geschick wenden und euch aus allen Völkern und von allen Orten, wohin ich euch vertrieben habe, zusammenbringen . Ich will euch wieder dorthin zurückbringen, von wo ich euch fortgejagt habe" (Jeremia 29,14 NLB).

Oft hatten sich Daniel und seine Gefährten mit diesen und ähnlichen Weissagungen beschäftigt, die Gottes Absicht mit seinem Volk umrissen. Als nun der schnelle Gang der Ereignisse anzeigte, dass die mächtige Hand Gottes unter den Nationen am Wirken war, widmete Daniel den Verheißungen für Israel besondere Aufmerksamkeit. Sein Glaube an das prophetische Wort ließ ihn das erfahren, was von den inspirierten Schreibern vorausgesagt worden war: "Die Babylonier werden 70 Jahre lang herrschen, und wenn diese Zeit um ist, werde ich Erbarmen mit euch haben. Dann lasse ich meine Verheißung in Erfüllung gehen und bringe euch wieder in euer Land zurück. Denn ich allein weiß, was ich mit euch vorhabe: Ich, der Herr, werde euch Frieden schenken und euch aus dem Leid befreien. Ich gebe euch wieder Zukunft und Hoffnung. Wenn ihr dann zu mir ruft, wenn ihr kommt und zu mir betet, will ich euch erhören. Wenn ihr mich sucht, werdet ihr mich finden. Ja, wenn ihr mich von ganzem Herzen sucht, will ich mich von euch finden lassen." (Jeremia 29,10-14a Hfa)

Daniel Bittet Gott Um Mehr Klarheit

Als Daniel kurz vor dem Fall Babylons über diese Weissagungen nachdachte und Gott um Verständnis für die Zeitangaben bat, war ihm schon einige Jahre zuvor eine Reihe von Gesichten über den Aufstieg und Niedergang von Königreichen geschenkt worden. Zu dem ersten Gesicht, das im siebten Kapitel des Buches Daniel berichtet wird, wurde auch eine Deutung gegeben, doch wurde dem Propheten nicht alles erklärt. Über seine damalige Erfahrung schrieb er: "Ich, Daniel, wurde sehr beunruhigt in meinen Gedanken, und jede Farbe war aus meinem Antlitz gewichen; doch behielt ich die Rede in meinem Herzen." (Daniel 7,28)

Eine weitere Vision brachte mehr Licht über die Zukunft, und am Ende dieses Gesichts hörte Daniel "einen Heiligen reden. Und einen weiteren hörte man, der fragte ihn: ›Wie lange werden die Ereignisse dieser Vision dau- ern?‹" Die Antwort darauf erfüllte Daniel mit Ratlosigkeit: "Es wird 2300 Abende und Morgen dauern. Dann aber wird das Heiligtum wieder zu Ehren kommen." (Daniel 8,13-14 NLB) Ernsthaft forschte er nach der Bedeutung dieses Gesichtes. Er konnte nicht verstehen, welche Beziehung zwischen den 70 Jahren der Gefangenschaft, die Jeremia vorausgesagt hatte, und den 2300 prophetischen Jahren bestand, die vergehen sollten - wie er in der Vision gehört hatte -, bis das Heiligtum Gottes "wieder gerechtfertigt" werden würde (Daniel 8,14 Elb.). Der Engel Gabriel deutete ihm das Gesicht teilweise. Doch als der Prophet die Worte hörte: "Es dauert noch lange, bis sie sich ganz erfüllt hat", wurde er ohnmächtig. Darüber berichtet er: "Danach war ich völlig erschöpft und tagelang krank. Als es mir besser ging, nahm ich meinen Dienst beim König wieder auf. Doch ich war erschüttert über die Vision, und ich verstand sie nicht." (Daniel 8,26c.27 Hfa)

Weil ihn das Schicksal Israels so sehr bekümmerte, studierte Daniel erneut die Weissagungen Jeremias. Sie waren sehr klar - so klar, dass er durch die "in den Büchern" überlieferten Zeugnisse Verständnis gewann über "die Zahl der Jahre, von denen der Herr geredet hatte zum Propheten Jeremia, dass nämlich Jerusalem 70 Jahre wüst liegen sollte" (Daniel 9,2).

Im festen Vertrauen auf das prophetische Wort flehte Daniel inständig den Herrn um die rasche Erfüllung dieser Verheißungen an. Es ging ihm dabei um das Ansehen Gottes. In seinem Bittgebet stellte er sich jenen gleich, die Gottes Absicht nicht erfüllt hatten, und bekannte ihre Sünden, als seien es seine eigenen.

"Ich fastete und setzte mich im Sack in die Asche", erklärte der Prophet. "Dann wandte ich mich im Gebet an den Herrn, meinen Gott. Vor ihm legte ich ein Bekenntnis unserer gemeinsamen Schuld ab und sagte ... Wir sind schuldig geworden, wir haben dir die Treue gebrochen, wir haben uns gegen dich aufgelehnt und deine Gebote und Weisungen nicht befolgt." (Daniel 9,3-5 GNB) Obwohl Daniel als gestandener Diener Gottes vom Himmel mit dem Prädikat "von Gott geliebt" ausgezeichnet wurde (Daniel 9,23), erschien er jetzt vor Gott als reuiger Sünder, der ihm das dringende Bedürfnis seines geliebten Volkes vortrug. In der Sprache sehr schlicht war sein Gebet tiefernst.

"Ach, Herr, du großer und Ehrfurcht gebietender Gott! Du stehst in unerschütterlicher Treue zu deinem Bund und zu denen, die dich lieben und nach deinen Geboten leben. Wir sind schuldig geworden, wir haben dir die Treue gebrochen, wir haben uns gegen dich aufgelehnt und deine Gebote und Weisungen nicht befolgt. Wir haben nicht auf die Warnungen deiner Diener, der Propheten, gehört, die in deinem Auftrag unseren Königen und führenden Männern, den Sippenoberhäuptern und dem ganzen Volk ins Gewissen geredet haben. Du, Herr, hast zu deinem Bund gestanden, du bist im Recht, wenn du uns so hart gestraft hast. Wir aber müssen beschämt vor dir stehen, die Leute von Juda und Jerusalem und alle Israeliten nah und fern, die du wegen ihres Treubruchs verstoßen und unter die Völker zerstreut hast ... du aber, Herr, unser Gott, bist voll Erbarmen! Wir brauchen deine Vergebung, denn wir sind dir ungehorsam gewesen! ... Immer von Neuem hast du in der Vergangenheit deine Treue an uns erwiesen. Sei auch nun nicht länger zornig über deine Stadt Jerusalem und über Zion, deinen heiligen Berg! Durch unsere Schuld und die Schuld unserer Vorfahren ist es so weit gekommen, dass alle Völker ringsum über deine Stadt Jerusalem und über dein Volk spotten. Darum, unser Gott, höre mein Gebet, höre mein demütiges Bitten! Blicke wieder freundlich auf dein verwüstetes Heiligtum, tu es um deiner eigenen Ehre willen! Mein Gott, wende dich mir zu und höre mich! Sieh doch, wie elend wir dran sind und wie es um die Stadt steht, die dein Eigentum ist. Wir wissen, dass wir es nicht verdient haben. Wir vertrauen nicht auf unsere Leistungen, sondern allein auf dein großes Erbarmen. Höre mich, Herr! Vergib uns! Sieh unser Elend und greif ein! Lass uns nicht länger warten! Tu es um deiner Ehre willen; denn du hast doch deine Stadt und dein Volk zu deinem Eigentum erklärt!" (Daniel 9,4-9.16-19 GNB)

Gott neigte sich herab und erhörte das ernste Flehen des Propheten. Noch ehe Daniel seine Bitte um Vergebung und um die Wiederherstellung beendet hatte, erschien ihm erneut der mächtige Engel Gabriel und lenkte seine Aufmerksamkeit auf das Gesicht, das der Prophet Jahre vor dem Fall Babylons und dem Tod Belsazars gehabt hatte. Dann ging der Engel im Einzelnen auf die Zeitspanne der 70 Wochen ein, die beginnen sollte, wenn "das Wort erging, Jerusalem werde wieder aufgebaut werden" (Daniel 9,25a).

Kyrus Als Werkzeug Gottes

Daniel hatte "im ersten Jahr des Darius" gebetet (Daniel 9,1), dessen General Kyrus dem Babylonischen Reich die Weltherrschaft entrissen hatte. Die Regierung des Darius wurde von Gott gesegnet. Er bekam sogar Beistand vom Engel Gabriel, "um ihm zu helfen und ihn zu stärken" (Daniel 11,1). Nach dem Tod des Darius, kaum zwei Jahre nach dem Fall Babylons, folgte Kyrus auf dem Thron, und der Anfang seiner Regierung bedeutete das Ende der 70 Jahre, seitdem die ersten Israeliten von Nebukadnezar aus ihrer judä- ischen Heimat nach Babylon verschleppt worden waren.

Daniels Errettung aus der Löwengrube hatte Gott dazu benutzt, Kyrus (später "der Große" genannt) günstig zu beeindrucken. Die hervorragenden Fähigkeiten des Gottesmannes als Staatsmann von Weitblick führten dazu, dass ihm der persische Herrscher Hochachtung zollte und sein Urteilsvermögen schätzte. Und nun, gerade zu der Zeit, in der Gott nach eigenen Worten seinen Tempel in Jerusalem wieder aufbauen lassen wollte, veranlasste er Kyrus als sein Werkzeug, die Vorhersagen, die sich auf ihn bezogen und mit denen Daniel bestens vertraut war, klar zu erfassen und dem jüdischen Volk die Freiheit zu schenken.

Nun erfuhr der König von diesen Prophezeiungen, die über 100 Jahre vor seiner Geburt vorhergesagt hatten, wie Babylon eingenommen werden sollte. Er las die Botschaft, die der Herrscher des Universums an ihn richtete: "Ich habe dich stark gemacht, bevor du mich erkanntest, damit die ganze Welt vom Osten bis zum Westen erkennt, dass es keinen anderen Gott gibt" (Jesaja 45,5b.6a NLB). Kyrus sah mit eigenen Augen, was der Ewige über ihn beschlossen hatte: "Um Jakobs, meines Knechts, und um Israels, meines Auserwählten, willen rief ich dich bei deinem Namen und gab dir Ehrennamen, obgleich du mich nicht kanntest." (Jesaja 45,4) Er las das inspirierte Zeugnis: "Ich bin es auch, der Kyrus berufen hat, um meine gerechten Pläne in die Tat umzusetzen. Ich will ihm alle Hindernisse aus dem Weg räumen. Er wird meine Stadt Jerusalem wieder aufbauen und mein verschlepptes Volk freilassen, ohne Lösegeld oder Bestechungsgeschenke." (Jesaja 45,13 Hfa). Das Herz des Königs wurde tief bewegt, und er beschloss, seine göttlich verord- nete Sendung zu erfüllen. Er wollte die jüdischen Gefangenen freilassen und ihnen helfen, den Tempel Jahwes wieder aufzubauen.

In einer schriftlichen Verfügung, die Kyrus "in seinem ganzen Reich ausrufen" ließ, hieß es, dass er für die Rückkehr der Israeliten und den Wiederaufbau ihres Tempels sorgen wolle. In dieser Veröffentlichung bestätigte er dankbar: "Der Herr, der Gott des Himmels, hat alle Königreiche der Erde in meine Gewalt gegeben. Er hat mich beauftragt, ihm in Jerusalem in Judäa einen Tempel zu bauen. Hiermit ordne ich an: Wer von meinen Untertanen zum Volk dieses Gottes gehört, möge im Schutz seines Gottes nach Jerusalem in Judäa zurückkehren und dort das Haus des Herrn, des Gottes Israels, bauen; denn er ist der Gott, der in Jerusalem wohnt. Wer an irgendeinem Ort in meinem Reich vom Volk dieses Gottes übrig geblieben ist, soll dabei von seinen Nachbarn am Ort unterstützt werden. Sie sollen ihm Silber und Gold, Vieh und was er sonst noch braucht, sowie freiwillige Gaben für das Haus dieses Gottes in Jerusalem mitgeben." (Esra 1,1-4 GNB)

Für den Tempelbau galt: "Das Haus soll als eine Stätte aufgebaut werden, an der geopfert wird, und seine Fundamente sollen so gelegt werden: Seine Höhe und Breite sollen jeweils 60 Ellen betragen. Auf drei Schichten aus quadratischem Stein soll eine Schicht neues Holz folgen. Die Kosten werden vom Haus des Königs bestritten. Die goldenen und silbernen Geräte des Hauses Gottes, die Nebukadnezar aus dem Tempel in Jerusalem nach Babel schaffen ließ, sollen an ihren Ort im Tempel in Jerusalem zurückkehren. Und du sollst sie im Haus Gottes niederlegen." (Esra 6,3-5 NLB)

Die Rückkehr Der Juden

Die Nachricht von diesem Erlass verursachte große Freude bei den Israeliten, die verstreut in den entlegensten Provinzen des Königreiches lebten. Viele hatten wie Daniel die Vorhersagen durchforscht und Gott gebeten, doch um Jerusalems willen einzugreifen. Und nun wurden ihre Gebete erhört. Ihr Jubelgesang ist im Psalm 126 überliefert: "Als der Herr die Gefangenen nach Jerusalem zurückführte, da war es für uns wie ein Traum! Wir waren voller Lachen und jubelten vor Freude. Und die anderen Völker sagten: ›Herrliches hat der Herr für sie getan!‹ Ja, der Herr hat Herrliches für uns getan und wir waren fröhlich!" (Psalm 126,1-3 NLB)

"Und so machten sich die Anführer der Stämme Juda und Benjamin, die Priester und Leviten sowie jeder, dem Gott den Geist entflammte, auf, um hinaufzuziehen und das Haus des Herrn in Jerusalem zu errichten." (Esra 1,5 NLB) Es war ein stattlicher Überrest von ungefähr 50.000 aus den Juden im Land ihres Exils, die unbedingt diese wunderbare Gelegenheit nutzen wollten. Ihre Freunde ließen es nicht zu, dass sie mit leeren Händen weggingen. "Alle ihre Nachbarn unterstützten sie mit Gefäßen aus Silber, mit Gold, mit Vorräten, mit Vieh und mit Kostbarkeiten. Dazu gaben sie ihnen freiwillige Gaben." (Esra 1,6 NLB) Diesen wurden auch "die Gerätschaften" hinzugefügt, "die Nebukadnezar aus dem Haus des Herrn in Jerusalem geholt ... hatte. Und Kyrus, der König von Persien, ließ sie in die Obhut von Mitredat, dem Schatzmeister von Persien, bringen ... zusammen 5400" (Esra 1,7.8.11 Elb.). Sie sollten im neuen Tempel Verwendung finden.

Kyrus übertrug Serubbabel, einem Nachkommen des Königs David, die Statthalterschaft über die Rückkehrer in Juda (in Vers 8 wird er Scheschbazar genannt). An seiner Seite stand der Hohepriester Jeschua. Nach der langen Reise durch öde Wüsten kamen alle sicher an. Froh und dankbar für die vielen Wohltaten, die Gott ihnen erwiesen hatte, fingen sie gleich mit dem Wiederaufbau an. Bei der Deckung der Kosten gingen die Sippenoberhäupter vorbildlich voran, sodass auch die Leute gern etwas von ihrem kärglichen Besitz beisteuerten (vgl. Esra 2,68-70).

Der Wiederaufbau Des Tempels

So rasch wie möglich wurde im Tempelvorhof der Altar an seiner ursprünglichen Stelle errichtet. Bei seiner Einweihung "versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann" (Esra 3,1b). Endlich konnte man wieder die heiligen Gottesdienste abhalten, was seit der Zerstörung Jerusalems durch Nebukad- nezar nicht mehr möglich gewesen war. Bevor sie wieder nach Hause zogen, um ihre eigenen Häuser wiederaufzubauen, hielten sie das Laubhüttenfest.

Der wiederhergestellte Altar für das tägliche Brandopfer löste beim treuen Überrest große Freude aus. Mit Begeisterung machten sie sich an die Vorbereitungen für den Wiederaufbau des Tempels. Wenn sie jeden Monat die Fortschritte sahen, gewannen sie immer mehr Mut. Jahrzehntelang hatten sie die sichtbaren Zeichen der Gegenwart Gottes entbehren müssen. In dieser Umgebung, die in ihnen den Abfall ihrer Väter als traurige Erinnerung aufleben ließ, sehnten sie sich nach einem bleibenden Zeichen göttlicher Zuwendung und Vergebung. Die Anerkennung Gottes war ihnen mehr wert als die Rückgewinnung persönlichen Besitzes und früherer Vorrechte. Erstaunlich hatte er zu ihren Gunsten gewirkt, und sie empfanden die Gewissheit seiner Gegenwart. Doch sie hatten Verlangen nach noch größeren Segnungen. In froher Erwartung sahen sie der Zeit entgegen, wenn der Tempel wieder aufgebaut sein würde. Dann wollten sie miterleben, wie aus seinem Inneren die Herrlichkeit des Herrn erstrahlt.

Beim vorbereitenden Aufräumen fanden die Bauarbeiter in den Ruinen noch einige gewaltige Steine, die zur Zeit Salomos zum Tempelplatz gebracht worden waren. Diese machte man gebrauchsfertig und beschaffte dazu noch viel neues Material. Bald waren die Arbeiten so weit gediehen, dass der Grundstein gelegt werden konnte. Dazu kamen viele Tausende Juden zusammen, um mit Freuden den Fortgang des Werkes mitzuerleben.

Als der Eckstein eingesetzt wurde, "stellten sich die Priester auf ... mit Trompeten ... und die Leviten ... mit Zimbeln", um das gemeinsame Singen zu begleiten. Alle "stimmten den Lobpreis an und dankten dem Herrn: Denn er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewiglich über Israel" (Esra 3,10.11).

Misstöne Unter Den Lobrufen

Das Gebäude, das nun wiederaufgebaut werden sollte, war Inhalt vieler Prophezeiungen über die Gunst, die Gott Zion erweisen wollte. Alle, die an der Grundsteinlegung teilnahmen, hätten von ganzem Herzen die Freude eines solchen Anlasses teilen sollen. Doch in die Musik und in die Lobrufe, die man an jenem frohen Tag vernahm, mischte sich ein Misston. "Viele von den betagten Priestern, Leviten und Sippenhäuptern, die das frühere Haus noch gesehen hatten, weinten laut, als nun dieses Haus vor ihren Augen gegründet wurde." (Esra 3,12)

Es war verständlich, dass diese betagten Männer von Herzen traurig wurden, als sie an die Folgen ihrer lang währenden Unbußfertigkeit denken mussten. Wenn sie und ihre Zeitgenossen damals Gott gehorcht und dessen Absicht mit Israel ausgeführt hätten, wäre Salomos Tempel nicht zerstört worden und die Gefangenschaft wäre nicht notwendig gewesen. Wegen ihrer Undankbarkeit und Untreue waren sie jedoch unter die Heiden zerstreut worden.

Jetzt hatten sich die Verhältnisse geändert. In gütiger Barmherzigkeit wandte sich der Herr wieder seinem Volk zu und gestattete ihm die Rückkehr in die Heimat. Die Traurigkeit über die Fehler der Vergangenheit hätte jetzt dem Gefühl großer Freude weichen müssen. Gott hatte das Herz des Kyrus bewogen, ihnen beim Wiederaufbau zu helfen. Das hätte zu Äußerungen tiefer Dankbarkeit führen sollen. Aber einige erkannten darin nicht die Vorsehung Gottes. Statt sich zu freuen, hingen sie Gedanken der Unzufriedenheit und Mutlosigkeit nach. Sie erinnerten sich an den Glanz des Salomonischen Tempels und klagten über das armselige Gebäude, das jetzt errichtet wurde.

Das Murren und Klagen und die ungünstigen Vergleiche, die man zog, drückten viele Gemüter nieder und schwächten die Arme der Erbauer. Die Arbeiter begannen sich zu fragen, ob es überhaupt noch sinnvoll sei, mit dem Bau weiterzumachen, wenn dieser schon zu Beginn so offen bemängelt wurde und Anlass zu so vielen Klagen gab.

Es gab jedoch auch viele in der Versammlung, deren stärkerer Glaube und größerer Weitblick sie davor bewahrte, diese geringere Herrlichkeit unzufrieden zu beurteilen. "Viele aber erhoben die Stimme mit fröhlichem Jubel. Und man konnte die Stimme des Jubelgeschreis und die Stimme des Weinens des Volkes nicht auseinanderhalten, denn das Volk erhob großen Jubel und wurde bis in die Ferne gehört." (Esra 3,12.13)

Hätten jene, die sich bei der Grundsteinlegung des Tempels nicht gefreut hatten, an jenem Tag die Folgen ihres Glaubensmangels vorausgesehen, wären sie entsetzt gewesen. Ihnen wurde nicht bewusst, wie schwerwiegend ihre missbilligenden und enttäuschten Äußerungen waren. Sie ahnten kaum, wie weit sie damit die Vollendung des Gotteshauses verzögerten.

Worauf Es Gott Wirklich Ankommt

Die Pracht des ersten Tempels und seine eindrucksvollen Riten und Gottesdienste waren für die Israeliten vor ihrer Gefangenschaft ein Anlass zum Stolz gewesen, aber ihrer Gottesanbetung mangelte es oft an Eigenschaften, auf die es Gott am meisten ankam. Die Herrlichkeit des ersten Tempels und die Pracht der gottesdienstlichen Handlungen konnten Israel vor Gott nicht angenehm machen, denn es opferte ihm nicht das, was in seinen Augen allein wertvoll ist. Man brachte ihm das Opfer nicht in einem demütigen und reuigen Geist dar.

Wenn man die wesentlichen Grundsätze des Reiches Gottes aus den Augen verliert, werden die festlichen Handlungen immer zahlreicher und ausgefallener. Wenn die Charakterbildung vernachlässigt wird, es am wahren Schmuck der Seele fehlt und die schlichte Frömmigkeit verachtet wird, fordern Stolz und Prunksucht prächtige Kirchenbauten, glänzende Verzierungen und eindrucksvolle Feierlichkeiten. Mit all dem wird Gott jedoch nicht geehrt. Er schätzt seine Gemeinde nicht wegen äußerer Vorzüge, sondern wegen der aufrichtigen Frömmigkeit, die sie von der Welt unterscheidet. Er beurteilt sie danach, wie die Glieder in der christlichen Erkenntnis und in ihrer geistlichen Erfahrung wachsen. Er sucht bei ihr die Grundsätze wahrer Liebe und Güte. Alle Schönheit der Kunst kann den Vergleich mit der Schönheit in der Gesinnung und im Charakter derer, die Christus vertreten, nicht aushalten.

Eine Gemeinde mag zu den Ärmsten im Land zählen und ihr mag die Anziehungskraft äußerer Schönheit fehlen, aber wenn ihre Glieder die Grundsätze eines christlichen Charakters verinnerlicht haben, werden sich Engel an ihren Gottesdiensten beteiligen. Der Lobpreis und die Gebete von dankbaren Herzen werden eine Gott wohlgefällige Gabe sein.

"Dankt dem Herrn, denn er ist gut und seine Gnade bleibt ewig bestehen. Alle sollen es bezeugen, die der Herr gerettet hat, die er aus der Hand ihrer Feinde befreit hat. Denn er versorgt die Durstigen und gibt den Hungrigen reichlich zu essen." (Psalm 107,1.2.9 NLB) "Singt ihm und spielt ihm ein Lied zur Ehre! Erzählt von all seinen Wundern! Freut euch über seinen heiligen Namen! Alle, die zum Herrn beten, sollen fröhlich sein!" (Psalm 105,2.3 NLB)