Wie Alles Begann

Kapitel 16

Jakob Und Esau

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1. Mose 25,21-34 und27,1-40.

Jakob und Esau, Isaaks Zwillingssöhne, waren in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Lebensführung gegensätzlich. Diese Verschiedenheit hatte der Engel Gottes bereits vor ihrer Geburt vorausgesagt. Als Antwort auf Rebekkas Gebet, das aus ihrem aufgewühlten Herzen zu Gott emporstieg, erklärte er ihr, dass sie zwei Söhne bekommen werde. Er enthüllte ihr auch deren Zukunft: Jeder werde zum Stammvater eines mächtigen Volkes werden, doch einer werde größer sein als der andere und der Jüngere den Vorrang haben.

Der junge Esau liebte die Befriedigung seiner Selbstsucht. Alle seine Interessen konzentrierten sich auf die Gegenwart. Da er bei jeder Einschränkung ungeduldig wurde, liebte er die wilde Freiheit der Jagd und entschied sich schon früh für das Leben eines Jägers. Trotzdem war er der Liebling seines Vaters. Den ruhigen, friedliebenden Hirten beeindruckten der Wagemut und die Kraft seines älteren Sohnes, der furchtlos Berge und Wüsten durchstreifte und stets mit einem Wildbret für den Vater und mit spannenden Berichten über sein abenteuerliches Leben zurückkehrte. Der bedächtige, fleißige und fürsorgliche Jakob dagegen war mit seinen Gedanken mehr in der Zukunft als in der Gegenwart. Er war damit zufrieden, zu Hause zu bleiben, die Herden zu weiden und das Land zu bewirtschaften. Die Mutter schätzte seine unermüdliche Ausdauer, seine Sparsamkeit und seinen Weitblick. Seine Zuneigung war tief und stark, und seine freundlichen, unablässigen Äußerungen seiner Wertschätzung trugen mehr zu ihrem Glück bei als die gelegentlichen ungestümen Zärtlichkeiten Esaus. Rebekka hatte Jakob lieber.

Die Bedeutung Des Erstgeburtsrechts

In den Verheißungen, die Gott Abraham gegeben und seinem Sohn bestätigt hatte, sahen Isaak und Rebekka das große Ziel ihrer Sehnsucht und ihrer Hoffnung. Jakob und Esau kannten diese Verheißungen gut. Ihnen war beigebracht worden, dass dem Erstgeburtsrecht eine hohe Bedeutung zukam, weil es dabei nicht nur um die Erbschaft irdischen Reichtums ging, sondern auch um die geistliche Vorrangstellung. Wer es erhielt, sollte der Priester der Familie sein, und aus der Reihe seiner Nachfahren würde der Erlöser der Welt hervorgehen. Andererseits ruhten auf dem Träger des Erstgeburtsrechts bestimmte Verpflichtungen: Wer den Segen erbte, musste sein Leben dem Dienst für Gott weihen. Wie einst Abraham musste er Gottes Geboten gehorchen. Bei der Eheschließung, in allen Familienbeziehungen und im öffentlichen Leben musste er den Willen Gottes zu Rate ziehen.

Isaak machte seine Söhne mit diesen Rechten und Pflichten vertraut und erklärte deutlich, dass Esau als dem Älteren das Erstgeburtsrecht zustehe. Aber dieser liebte die Anbetung Gottes nicht und hatte kein Interesse an einem geistlichen Leben. Die Anforderungen, die ihm das geistliche Erstgeburtsrecht auferlegte, waren ihm eine unerfreuliche und sogar verhasste Einschränkung. Esau empfand Gottes Gesetz, das die Bedingung für dessen Bund mit Abraham gewesen war, als Joch der Unfreiheit. Mit seinem Hang zur Hemmungslosigkeit begehrte er nichts so sehr wie die Freiheit, tun und lassen zu können, was ihm beliebte. Für ihn bestand Glück in Macht und Reichtum, in Feiern und Gelagen. Er prahlte mit der uneingeschränkten Freiheit seines wilden, umherstreifenden Lebens.

Rebekka erinnerte sich an die Worte des Engels und erkannte klarer als ihr Mann die Charaktere ihrer beiden Söhne. Sie war überzeugt, dass das Erbe der Verheißungen Gottes für Jakob bestimmt war. Sie erinnerte Isaak an die Worte des Engels, aber die Zuneigung des Vaters war auf den älteren Sohn gerichtet. Daher hielt er unerschütterlich an seiner Absicht fest.

Jakob hatte durch seine Mutter von Gottes Andeutung erfahren, dass ihm das Erstgeburtsrecht zufallen sollte. Seitdem hatte er ein unstillbares Verlangen nach den Vorrechten, die ihm damit übertragen werden sollten. Es verlangte ihn nicht nach dem Besitz des väterlichen Reichtums, sondern sein ganzes Sehnen richtete sich auf das geistliche Erstgeburtsrecht: Mit Gott Zwiesprache zu halten, wie es der gerechte Abraham getan hatte, das Sühnopfer für die Familie darzubringen, der Stammvater des auserwählten Volkes und des versprochenen Messias zu sein und alle unvergänglichen Güter zu erben, die in den Segnungen des Bundes enthalten waren. Das alles waren Vorrechte und Ehren, die sein leidenschaftliches Verlangen entzündeten. Seine Gedanken gingen immer wieder in die Zukunft und wollten die unsichtbaren Segnungen in Anspruch nehmen.

Mit heimlichem Verlangen nahm er alles auf, was sein Vater über die geistliche Bedeutung des Erstgeburtsrechts sagte. Sorgfältig hütete er, was er von der Mutter erfahren hatte. Tag und Nacht beschäftigten ihn diese Dinge, sodass sie zum Inbegriff seines Lebens wurden. Obwohl er die ewigen Segnungen den zeitlichen vorzog, hatte er den Gott, den er verehrte, doch noch nicht durch eigene Erfahrungen kennen gelernt. Sein Herz war noch nicht durch die Gnade Gottes erneuert worden. Er war überzeugt, dass die Zusage, die ihn betraf, nicht in Erfüllung gehen könnte, solange Esau das Erstgeburtsrecht gehörte. Deshalb suchte er ständig nach einer Möglichkeit, in den Besitz der Segnungen zu kommen, die seinem Bruder so unwichtig erschienen, während sie ihm so kostbar waren.

Esau Verkauft Sein Erstgeburtsrecht

Als Esau eines Tages müde und erschöpft von der Jagd nach Hause kam, bat er Jakob um eine Portion vom Essen, das dieser gerade zubereitete. Da ergriff Jakob, den dieser eine Gedanke ständig beschäftigte, die Gelegenheit. Er bot seinem Bruder an, dessen Hunger zu stillen, wenn er dafür das Erstgeburtsrecht bekäme. "Ich sterbe vor Hunger", rief der leichtsinnige, unbeherrschte Jäger, "was nützt mir da mein Erstgeburtsrecht?" (1. Mose 25,32 GNB) Für ein Linsengericht verzichtete er auf sein Vorrecht und bekräftigte diese Abmachung mit einem Eid. Bestimmt hätte er im Zelt seines Vaters in Kürze etwas zu essen bekommen. Aber um die Begierde des Augenblicks zu befriedigen, tauschte er gedankenlos das herrliche Erbe ein, das Gott persönlich seinen Vätern versprochen hatte. Sein ganzes Augenmerk galt der Gegenwart. Darum war er bereit, ein himmlisches Gut für ein irdisches zu opfern, sein zukünftiges Erbe für einen zeitlich begrenzten Genuss einzutauschen.

"So gleichgültig war ihm sein Erstgeburtsrecht." (1. Mose 25,34 NLB) Nachdem er es losgeworden war, fühlte er sich erleichtert. Jetzt stellte sich ihm kein Hindernis mehr in den Weg. Er konnte nun tun, was ihm gefiel. Wie viele Menschen verkaufen auch heute ihren Anspruch auf ein heiliges, ewiges Erbe im Himmel für ein wildes Vergnügen, das man fälschlicherweise als Freiheit bezeichnet!

Weil sich Esau wie üblich von äußeren und irdischen Reizen leiten ließ, heiratete er zwei Frauen aus dem Volk der Hetiter (vgl. 1. Mose 26,34.35). Diese verehrten falsche Götter, und ihr Götzendienst bereitete Isaak und Rebekka großen Kummer. Esau hatte damit eine der Bedingungen des Bundes verletzt, die die Heirat zwischen den Auserwählten Gottes und den Heiden verboten. Trotzdem hielt Isaak unerschütterlich an seinem Entschluss fest, ihm das Erstgeburtsrecht zu übertragen. Weder Rebekkas Argumente noch Jakobs starkes Verlangen nach dem Segen und auch nicht Esaus Gleichgültigkeit gegenüber den Verpflichtungen des Erstgeburtsrechts vermochten den Entschluss des Vaters zu ändern.

Jakob Erschleicht Sich Den Erstgeburtssegen

Jahre vergingen, bis sich Isaak zum Handeln entschloss. Als er alt und blind war und mit seinem baldigen Tod rechnete, wollte er die Segnung seines Ältesten nicht länger hinauszögern. Da er aber den Widerstand von Rebekka und Jakob kannte, wollte er die feierliche Zeremonie heimlich vollziehen. Weil es damals Brauch war, für solche Anlässe ein Festmahl zu veranstalten, beauftragte er Esau: "Geh hinaus aufs Feld, um mir ein Stück Wild zu jagen. Bereite es zu, wie ich es gern mag, und bring es mir, damit ich es essen kann. Dann will ich dich segnen, bevor ich sterbe." (1. Mose 27,3.4 GNB)

Aber Rebekka ahnte Isaaks Absicht. Sie war fest davon überzeugt, dass dies gegen Gottes offenbarten Willen war. Isaak lief Gefahr, dessen Missfallen auf sich zu ziehen und seinen jüngeren Sohn von der Stellung, zu der Gott ihn berufen hatte, auszuschließen. Da sie bis dahin vergeblich versucht hatte, Isaak mit Argumenten zu überzeugen, beschloss sie, zu einer List zu greifen.

Kaum hatte Esau das Zelt verlassen, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, da machte sich Rebekka daran, ihren Plan auszuführen. Sie erzählte Jakob, was sich zugetragen hatte. Nun sei es dringend geboten, unverzüglich zur Tat zu schreiten, um zu verhindern, dass der Segen endgültig und unwiderruflich auf Esau übertragen werde. Sie versicherte ihrem Sohn, er würde schon den Segen erlangen, wie Gott es versprochen hatte, wenn er jetzt nur ihre Anweisungen befolgte. Aber Jakob war nicht so schnell bereit, ihrem Plan zuzustimmen. Der Gedanke, seinen Vater täuschen zu sollen, brachte ihn in große Not. Er meinte, dass solch eine Sünde eher Fluch als Segen über ihn bringen würde. Doch Rebekka überwand seine Bedenken, und er folgte schließlich ihren Vorschlägen. Es war nicht seine Absicht, die glatte Unwahrheit zu sagen. Als er aber vor seinem Vater stand, schien es ihm, dass er schon zu weit gegangen sei und nicht mehr zurück könne. Er erlangte den begehrten Segen durch Betrug.1 11

Jakob und Rebekka hatten mit ihrem Plan Erfolg, aber ihre Täuschung brachte ihnen nur Schwierigkeiten und Kummer ein. Gott hatte angekündigt, dass Jakob das Erstgeburtsrecht erhalten sollte. Hätten die beiden im Vertrauen auf sein Eingreifen gewartet, hätte sich Gottes Wort zu seiner Zeit erfüllt. Aber wie so viele, die sich heute als Kinder Gottes bezeichnen, wollten sie die Angelegenheit nicht ihm überlassen. Rebekka bereute den falschen Rat, den sie ihrem Sohn gegeben hatte, bitter, denn dadurch wurde sie von ihm getrennt und sah ihn nie wieder. Und Jakob wurde von der Stunde an, als er das Erstgeburtsrecht erhielt, von Selbstvorwürfen gequält. Er hatte sich an seinem Vater, an seinem Bruder, an sich selbst und an Gott versündigt. In einer einzigen Stunde hatte er etwas getan, was er sein Leben lang bereuen sollte. Als ihm in späteren Jahren das bösartige Verhalten seiner Söhne schwer zu schaffen machte, musste er immer wieder an dieses Ereignis denken.

Isaak Ruckt Von Seinem Segen Nicht Ab

Kaum hatte Jakob das Zelt seines Vaters verlassen, da trat Esau ein. Er hatte zwar sein Erstgeburtsrecht verkauft und die Übertragung sogar mit einem feierlichen Eid bekräftigt, aber dennoch war er nun fest entschlossen, sich die Segnungen zu sichern, ohne Rücksicht auf den Anspruch seines Bruders. Mit dem geistlichen Erstgeburtsrecht war das irdische verbunden, das ihm die Stellung als Familienoberhaupt und den doppelten Anteil am väterlichen Besitz einbringen würde. Das waren Dinge, die er zu schätzen wusste. "Setz dich auf", sagte er, "und iss von meinem Wild, damit du mir deinen Segen geben kannst!" (1. Mose 27,31 NLB)

Zitternd vor Bestürzung und erschüttert erkannte der alte, blinde Vater den Betrug, den man an ihm begangen hatte. Seine lange und liebevoll gehegten Hoffnungen waren durchkreuzt. Sehr stark empfand er die Enttäuschung, mit der sein älterer Sohn nun fertig werden musste. Doch blitzartig kam er zur Überzeugung, dass Gottes Vorsehung seine Absicht zunichte gemacht und gerade das bewirkt hatte, was er verhindern wollte. Er erinnerte sich auch an die Worte, die der Engel zu Rebekka gesagt hatte. Ungeachtet der Schuld, die Jakob auf sich geladen hatte, sah er nun ein, dass dieser am besten geeignet war, Gottes Pläne zu erfüllen. Während die Segensworte über seine Lippen gekommen waren, hatte er gespürt, dass er unter der göttlichen Eingebung stand. Nun, da er alle Umstände kannte, bestätigte er den Segen, den er unwissend über Jakob ausgesprochen hatte: "Ich habe ihn gesegnet, und er wird auch gesegnet bleiben." (vgl. 1. Mose 27,33)

Solange Esau der Segen erreichbar schien, hatte er ihn nicht geschätzt, aber nachdem er ihn für immer verloren hatte, wollte er ihn unbedingt erlangen. Seine erregbare, leidenschaftliche Natur bäumte sich mit aller Macht auf. Seine Trauer und sein Zorn waren schrecklich. In äußerst bitterem Schmerz schrie er: "Segne mich auch, mein Vater ... Hast du mir denn keinen Segen Vorbehalten?" (1. Mose 27,34.36) Aber Isaak konnte den einmal ausgesprochenen Segen nicht zurücknehmen. Das Erstgeburtsrecht, das Esau so sorglos eingetauscht hatte, ließ sich nicht zurückgewinnen. "Um der einen Speise willen" (Hebräer 12,16), um kurzzeitig seine Esslust zu befriedigen, die niemals gezügelt wurde, hatte Esau sein Erstgeburtsrecht verkauft. Als er seine Torheit erkannte, war es zu spät, um den Segen zurückzuerlangen. "Da war es zu spät zur Umkehr, obwohl er bittere Tränen vergoss." (Hebräer 12,17 NLB) Esau besaß durchaus die Möglichkeit, seine Tat zu bereuen und dadurch Gnade bei Gott zu finden, aber es gab kein Mittel, das Erstgeburtsrecht zurückzuerhalten. Seine Trauer entsprang keinem Schuldbewusstsein. Es ging ihm auch nicht darum, mit Gott versöhnt zu werden. Er bedauerte nur die Folgen seiner Sünde, aber nicht seine Sünde selbst.

Weil ihm Gottes Segen und Bedingungen gleichgültig waren, wird Esau in der Heiligen Schrift ein "Gottloser" genannt (Hebräer 12,16). Er ist ein Vertreter jener Menschen, welche die Erlösung, die Christus für sie erwirkt hat, geringschätzen. Sie sind schnell dabei, ihr himmlisches Erbe für vergängliche Dinge dieser Welt zu opfern. Die große Masse lebt für die Gegenwart, ohne an die Zukunft zu denken oder sich gar darum zu kümmern. Wie Esau rufen sie aus: "Lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!" (1. Korinther 15,32) Sie lassen sich von ihren Neigungen beherrschen. Anstatt sich in Selbstverleugnung zu üben, lassen sie die wichtigsten Überlegungen außer Acht. Wenn sie eines von beiden aufgeben müssen - entweder die Befriedigung ihrer unbeherrschten Gier oder die himmlischen Segnungen, die nur den Selbstlosen und Gottesfürchtigen versprochen sind -, gewinnen ihre Leidenschaften die Oberhand, während Gott und der Himmel verachtet werden. Wie viele - selbst unter bekennenden Christen - frönen Genüssen, die der Gesundheit schädlich sind und das feine Empfinden des Gewissens abstumpfen! Wenn man ihnen die christliche Pflicht vor Augen hält, sich "von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes ... [zu] reinigen und die Heiligung [zu] vollenden in der Furcht Gottes" (2. Korinther 7,1b), sind sie gekränkt. Sie erkennen, dass man diese schädlichen Befriedigungen nicht weiterführen und gleichzeitig den Himmel gewinnen kann, und beschließen, den Weg zum ewigen Leben nicht weiter zu gehen, weil er so schmal sei (vgl. Matthäus 7,14).

Viele Menschen verkaufen ihr "Erstgeburtsrecht" für sinnliche Genüsse. Sie opfern ihre Gesundheit, schwächen ihre geistigen Fähigkeiten und verwirken den Himmel - und das alles nur für ein vorübergehendes Vergnügen, für einen Genuss, der den Charakter gleichzeitig schwächt und verdirbt. Esau wurde die Kurzsichtigkeit seines übereilten Tausches erst bewusst, als es für eine Wiedergewinnung seines Rechts zu spät war. So werden auch diese Menschen erst am Jüngsten Tag erkennen, dass sie ihr himmlisches Erbe gegen selbstsüchtige Befriedigung eingetauscht haben.