Wie Alles Begann

Kapitel 19

Die Rückkehr Nach Kanaan

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1. Mose 34, 35 und 37.

Nachdem er den Jordan überquert hatte, "kam Jakob wohlbehalten zu der Stadt Sichem, die im Lande Kanaan liegt" (1. Mose 33,18). Damit war das Gebet des Patriarchen zu Bethel erhört worden, dass Gott ihn in Frieden in seine Heimat zurückbringen möge. Eine Zeitlang wohnte Jakob im Tal von Sichem. Hier hatte ja Abraham über 100 Jahre zuvor im Land der Verheißung sein erstes Lager aufgeschlagen und auch den ersten Altar errichtet. Jakob "kaufte das Land, wo er sein Zelt aufgeschlagen hatte, von den Söhnen Hamors, des Vaters Sichems, um hundert Goldstücke und errichtete dort einen Altar und nannte ihn ›Gott ist der Gott Israels‹" (1. Mose 33,19.20). Wie Abraham baute er neben seinem Zelt für seinen Gott einen Altar und versammelte dort alle Hausgenossen zum Morgen- und Abendopfer. Hier grub er den Brunnen, zu dem 17 Jahrhunderte später Jesus kam, Jakobs Nachkomme und der Erlöser, der dort in der Mittagshitze ausruhte und seinen erstaunten Zuhörern vom Wasser erzählte, das in ihnen "zu einer Quelle wird, die bis ins ewige Leben weitersprudelt" (Johannes 4,14 GNB).

Die Schandtat Der Söhne Jakobs In Sichem

Der Aufenthalt Jakobs und seiner Söhne bei Sichem endete in Gewalt und Blutvergießen. Über die einzige Tochter der Familie wurde Schande und Leid gebracht; zwei ihrer Brüder wurden in Mordtaten verwickelt; eine ganze Stadt zerstört und ihre Bewohner niedergemetzelt - als Vergeltung für die gesetzlose Tat eines unbesonnenen jungen Mannes. Es begann damit, dass Jakobs Tochter Dina ausging, um "die Töchter des Landes zu sehen" (1. Mose 34,1), und sich damit in die Gesellschaft der Gottlosen wagte. Wer sein Vergnügen bei denen sucht, die keine Ehrfurcht vor Gott haben, begibt sich auf Satans Gebiet und fordert Versuchungen heraus.

Die heimtückische Grausamkeit Simeons und Levis hatte schon ihren Grund, aber in ihrem Verhalten gegenüber den Einwohnern Sichems begingen sie eine schwere Sünde. 14Ihre Absichten hatten sie vor Jakob sorgfältig geheim gehalten. Die Nachricht von ihrer Rache rief Entsetzen in ihm hervor. Zutiefst getroffen von der Falschheit und Gewalttat seiner Söhne sagte er nur: "Ihr habt mich ins Unglück gestürzt und in Verruf gebracht bei den Bewohnern dieses Landes ... und ich habe nur wenige Leute. Wenn sie sich nun gegen mich versammeln, werden sie mich erschlagen. So werde ich vertilgt samt meinem Hause." (1. Mose 34,30) Sein ganzer Kummer und seine Abscheu, die er über diese Bluttat empfand, zeigten sich in seinen späteren Worten. Fast 50 Jahre danach bezog er sich auf diesen Vorfall, als er in Ägypten auf dem Sterbebett lag und sagte: "Die Brüder Simeon und Levi, ihre Schwerter sind mörderische Waffen. Meine Seele komme nicht in ihren Rat, und mein Herz sei nicht in ihrer Versammlung ... Verflucht sei ihr Zorn, dass er so heftig ist, und ihr Grimm, dass er so grausam ist." (1. Mose 49,5-7) Jakob erkannte, dass es mehr als genug Gründe gab, sich tief vor Gott zu demütigen: Im Charakter seiner Söhne waren Grausamkeit und Verlogenheit zutage getreten. Es gab falsche Götter in seinem Zeltlager, und bis zu einem gewissen Grad hatte der Götzendienst sogar in seiner Familie an Boden gewonnen. Sollte der Herr mit ihnen so verfahren, wie sie es verdienten, würde er sie dann nicht der Rache der umliegenden Völker preisgeben?

Als Jakob vor lauter Kummer niedergedrückt war, befahl ihm der Herr, nach Süden zu ziehen und sich nach Bethel zu begeben. Dieser Ort erinnerte den Patriarchen nicht nur an seine Vision von den Engeln und an Gottes gnadenvolle Zusagen, sondern auch an das eigene Gelübde, das er dort abgelegt hatte, dass der Herr sein Gott sein solle. Da fasste er den Entschluss: Bevor er zu diesem geheiligten Ort aufbrach, musste sein Haushalt vom Götzendienst gereinigt werden. Er befahl deshalb allen Lagerbewohnern: "Entfernt die fremden Götter aus eurer Mitte, reinigt euch und wechselt eure Kleider! Wir wollen uns aufmachen und nach Bet-El hinaufziehen. Dort will ich einen Altar für den Gott errichten, der mich am Tag meiner Bedrängnis erhört hat und der auf meinem Weg mit mir war." (1. Mose 35,2.3 EÜ)

Tief bewegt erzählte ihnen Jakob noch einmal das Erlebnis seines ersten Aufenthaltes bei Bethel. Als einsamer Wanderer hatte er das Zelt seines Vaters verlassen, um sein Leben zu retten. Hier war ihm der Herr in der Nacht erschienen. Als er seinen Angehörigen berichtete, wie wunderbar ihn Gott geführt hatte, wurde er selbst tief ergriffen, und auch seine Kinder fühlten sich von Gottes überwältigender Macht angerührt. Jakob hatte den wirkungsvollsten Weg gefunden, um seine Hausgemeinschaft darauf vorzubereiten, nach ihrer Ankunft in Bethel den wahren Gott anzubeten. "Da gaben sie ihm alle fremden Götter, die in ihren Händen waren, und ihre Ohrringe, und er vergrub sie unter der Eiche, die bei Sichem stand." (1. Mose 35,4)

Gott ließ Angst über die Einwohner des Landes kommen, sodass sie es nicht wagten, das Blutbad von Sichem zu rächen. Die Reisenden erreichten Bethel unbehelligt. Hier erschien der Herr Jakob ein weiteres Mal und erneuerte ihm die Bundesverheißung. "Jakob aber richtete ein steinernes Mal [einen Gedenkstein] auf an der Stätte, da er mit ihm geredet hatte." (1. Mose 35,14)

In Bethel hatte Jakob den Verlust einer Frau zu beklagen, die lange als geachtetes Mitglied der väterlichen Familie bei ihnen gewesen war, Rebekkas Amme Debora. Sie hatte ihre Herrin von Mesopotamien nach Kanaan begleitet. Ihre Anwesenheit war für Jakob eine ständige Erinnerung an seine frühe Kindheit, insbesondere an seine Mutter, die ihn so innig und zärtlich geliebt hatte. Als man Debora beerdigte, empfanden die Anwesenden eine so große Trauer, dass man die Eiche, unter der sie begraben wurde, fortan "Träneneiche" nannte. Man darf nicht vergessen, dass die Erinnerung an ihren lebenslangen, treuen Dienst und die Trauer über den Verlust dieser Freundin der Familie als wert erachtet wurden, um im Wort Gottes festgehalten zu werden.

Die Geburt Benjamins Und Rahels Tod

Von Bethel bis nach Hebron war es nur eine Zweitagereise. Doch sie brachte für Jakob tiefen Schmerz, weil Rahel starb. 14 Jahre lang hatte er um sie gedient, aber seine Liebe hatte ihm alle Mühe leicht gemacht. Wie tief und beständig diese Liebe gewesen war, zeigte sich noch viel später. Als Josef seinen kranken Vater kurz vor dessen Tod besuchte, sagte der betagte Erzvater im Rückblick auf sein Leben: "Als ich aus Mesopotamien kam, starb mir Rahel im Land Kanaan auf der Reise, als noch eine Strecke Weges war nach Efrata, und ich begrub sie dort an dem Wege nach Efrata, das nun Bethlehem heißt." (1. Mose 48,7) Aus seinem langen, mühseligen Leben erinnerte er sich nur an den Verlust Rahels.

Vor ihrem Tod schenkte sie einem zweiten Sohn das Leben. Als ihr der Atem ausging, nannte sie das Kind "Ben-Oni", Sohn meines Schmerzes. Sein Vater aber nannte es "Ben-Jamin" (1. Mose 35,18), was "Sohn meiner rechten Hand" oder "meiner Stärke" bedeutet. Rahel wurde dort begraben, wo sie gestorben war. Als Erinnerung errichtete man über ihrem Grab ein Denkmal.

Auf dem Weg nach Efrata brachte Ruben durch ein weiteres schweres Verbrechen Jakobs Familie in Verruf. Er "lag bei Bilha, der Nebenfrau seines Vaters" (1. Mose 35,22b Elb.). Dadurch verlor er als der älteste Sohn sein Erstgeburtsrecht.

Schließlich erreichte Jakob das Ziel seiner Reise: Er "kam zu seinem Vater Isaak nach Mamre ... das ist Hebron, wo Abraham und Isaak als Fremdlinge gelebt hatten" (1. Mose 35,27). Dort blieb er und betreute seinen Vater, solange dieser noch lebte. Für den gebrechlichen und blinden Isaak war die herzliche Fürsorge seines lange entbehrten Sohnes ein Trost während dieser Jahre der Einsamkeit und Trauer.

Jakob Und Esau Treffen Sich Bei Isaaks Begräbnis

Am Sterbebett ihres Vaters trafen sich Jakob und Esau wieder. Einst hatte der ältere Bruder auf diesen Augenblick gewartet, um endlich Rache nehmen zu können, aber inzwischen hatten sich seine Gefühle grundlegend gewandelt. Jakob war seinerseits mit dem geistlichen Segen des Erstgeburtsrechts vollauf zufrieden und überließ deshalb dem älteren Bruder den ganzen Reichtum des Vaters - das einzige Erbe, um das es Esau ging und das für ihn Wert besaß. Zwar stand nun nicht mehr Eifersucht oder Hass zwischen ihnen, aber dennoch trennten sie sich. Esau kehrte ins Gebirge Seir zurück. Gott hatte Jakob reich gesegnet - zusätzlich zum höheren Gut, nach dem er sich so sehr gesehnt hatte. Die Besitztümer beider Brüder waren "zu groß, als dass sie beieinander wohnen konnten; das Land, darin sie Fremdlinge waren, vermochte sie nicht zu ernähren wegen der Menge ihres Viehs" (1. Mose 36,7). Ihre Trennung erfolgte in Übereinstimmung mit dem, was Gott mit Jakob vorhatte. Da sich die Brüder in ihrer Glaubenshaltung sehr unterschieden, war es besser für sie, wenn sie voneinander getrennt lebten.

Esau und Jakob waren beide in der Gotteserkenntnis unterwiesen worden. Beiden hatte es freigestanden, nach Gottes Geboten zu leben und seine Gunst zu erlangen. Aber sie hatten sich nicht beide dafür entschieden. Die zwei Brüder waren bisher getrennte Wege gegangen, und in der Zukunft sollten diese immer weiter auseinanderlaufen.

Es Gibt Keine Göttliche Vorherbestimmung

Es war kein Akt göttlicher Willkür, dass Esau von den Segnungen der Erlösung ausgeschlossen wurde. Durch Christus steht Gottes Heilsangebot allen Menschen offen. Es gibt keine vorherbestimmende Erwählung. Die einzige Wahl, durch die man verlorengehen kann, ist die eigene Entscheidung. Gott hat in seinem Wort die Bedingungen dargelegt, unter denen jeder Mensch dazu erwählt ist, das ewige Leben zu erlangen: durch den Glauben an Christus und den Gehorsam gegenüber seinen Geboten. Gott erwählt, wer mit seinem Gesetz übereinstimmt. Jedem, der diesem Maßstab entspricht, wird Eingang in das Reich der Herrlichkeit gewährt. Jesus sagte selbst: "Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen." (Johannes 3,36) "Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr!, in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel." (Matthäus 7,21) Und in der Offenbarung erklärte er: "Selig sind, die ihre Kleider [des Charakters] waschen, dass sie teilhaben an dem Baum des Lebens und zu den Toren hineingehen in die Stadt." (Offenbarung 22,14) In Bezug auf die endgültige Erlösung des Menschen ist dies die einzige Erwählung, von der das Wort Gottes spricht.

Mit den Worten der Apostel ist jeder Mensch erwählt, der auf sein Heil "mit Furcht und Zittern" hinwirkt (Philipper 2,12b), "die Waffenrüstung Gottes" anlegt (Epheser 6,11a) und "den guten Kampf des Glaubens" kämpft (1. Timotheus 6,12a). Erwählt ist, wer "nüchtern zum Gebet" ist (1. Petrus 4,7b), in der Heiligen Schrift forscht (vgl. Apostelgeschichte 17,11b) und vor Versuchungen flieht (vgl. 1. Korinther 10,14). Erwählt ist, wer "den Glauben gehalten" hat (2. Timotheus 4,7b) und "jedem Wort, das durch den Mund Gottes ausgeht" (Matthäus 4,4b Elb.), gehorsam ist. Die Vorkehrungen für die Erlösung stehen allen Menschen offen; die Früchte der Erlösung werden diejenigen genießen, welche die Bedingungen erfüllt haben.

Die Veränderung Von Jakob

Esau hatte die Segnungen des Bundes verachtet. Er hatte die irdischen Güter den geistlichen vorgezogen, und er bekam, wonach er sich sehnte. Seine eigene, bewusste Entscheidung trennte ihn von Gottes Volk. Jakob dagegen hatte das Erbteil des Glaubens gewählt. Er hatte versucht, den Segen durch List, Tücke und Falschheit zu erhalten. Aber Gott hatte seine Sünde zugelassen, um sie zu berichtigen. Trotz der vielen bitteren Erfahrungen, die Jakob in seinem weiteren Leben machen musste, hatte er weder sein Ziel aus den Augen verloren noch seine Entscheidung aufgegeben. Er hatte eingesehen, dass er sich gegen Gott auflehnte, als er sich mit menschlicher Schläue und List den Segen sichern wollte. Das nächtliche Ringen am Ufer des Jabbok hatte aus Jakob einen anderen Menschen gemacht. Sein Selbstvertrauen war zerbrochen; seine frühere Gerissenheit trat nicht wieder auf. Statt Hinterlist und Täuschung zeichneten nun Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit sein Leben aus. Er hatte gelernt, sich einfach auf den allmächtigen Arm zu verlassen. Inmitten von Prüfungen und Anfechtungen beugte er sich demütig unter den Willen Gottes. Die niederträchtigen Züge seines Wesens wurden im Feuer des Schmelzofens verzehrt, bis der Glaube Abrahams und Isaaks ungetrübt in Jakob erschien.

Der Charakter Der Söhne Von Jakob

Die Sünde Jakobs und die Kette der Ereignisse, die sich daraus ergab, übten unweigerlich einen Einfluss zum Bösen aus - einen Einfluss, der seine bitteren Früchte im Charakter und im Leben seiner Söhne offenbarte. Als sie erwachsen wurden, traten bei ihnen bedenkliche Fehler zutage. In der Familie zeigten sich nur allzu deutlich die Folgen der Vielehe. Dieses schreckliche Übel führt dazu, dass die Quellen der Liebe versiegen; und sein Einfluss schwächt die heiligsten Bande. Die Eifersucht der vier verschiedenen Mütter vergiftete das ganze Familienleben. Die Kinder wurden streitsüchtig und wehrten sich gegen jede Aufsicht. Das verursachte dem Vater Kummer und Sorgen und verdüsterte sein Leben.

Einer aber war so ganz anders: Josef, Rahels älterer Sohn. Seine außergewöhnliche körperliche Schönheit schien ein Spiegelbild der Schönheit seines Herzens und Verstandes zu sein. Der Junge war unverdorben, tatkräftig und fröhlich und bewies schon früh sittliche Ernsthaftigkeit und Stärke. Er hörte den Unterweisungen seines Vaters gut zu und hatte Freude daran, Gott zu gehorchen. Die Eigenschaften, die ihn später in Ägypten auszeichneten, Sanftmut, Treue und Wahrhaftigkeit, zeigten sich schon jetzt im täglichen Leben. Weil seine Mutter gestorben war, hing er umso inniger an seinem Vater; und Jakob war diesem "Sohn seines Alters" besonders zugetan. Er "hatte Josef lieber als alle seine Söhne" (1. Mose 37,3).

Doch selbst diese gegenseitige Zuneigung verursachte Schwierigkeiten und Leid. Unklugerweise zeigte Jakob seine Vorliebe für Josef, was die Eifersucht der anderen Söhne erregte. Wenn Josef das schlechte Betragen seiner Brüder wahrnahm, beunruhigte ihn das sehr. Sachte wagte er es, ihnen Vorhaltungen zu machen. Aber dadurch steigerte er nur ihren Hass und ihre Verbitterung. Er konnte es nicht ertragen, wenn sie gegen Gott sündigten. Deshalb sprach er mit dem Vater darüber, weil er hoffte, dass dessen Autorität sie zur Besinnung bringen würde.

Jakob vermied es sorgfältig, ihren Ärger durch Strenge oder Härte anzustacheln. Tief bewegt äußerte er seine Besorgnis um seine Kinder und bat sie inständig, doch auf sein Alter Rücksicht zu nehmen und seinem Namen keine Schande zu bereiten, aber vor allem Gott nicht durch Missachtung seiner Gebote zu entehren. Beschämt darüber, dass der Vater von ihrer Bosheit wusste, gaben sich die jungen Männer reumütig, verbargen jedoch ihre wahren Gefühle. Wegen dieser Bloßstellung wurden sie umso verbitterter.

Die Träume Josefs

Dass der Vater Josef noch ein kostbares Obergewand, eine Tunika, schenkte, wie sie eigentlich nur Leute von Rang trugen, war ebenso unklug. In den Augen der anderen war das ein weiterer Beweis seiner einseitigen Bevorzugung und erweckte bei ihnen den Verdacht, ihr Vater wolle die älteren Kinder übergehen und das Erstgeburtsrecht auf den Sohn Rahels übertragen. Ihr Groll steigerte sich noch, als ihnen Josef eines Tages erzählte, was er geträumt hatte: "Wir banden Garben auf dem Feld, und meine Garbe richtete sich auf und stand, aber eure Garben stellten sich ringsumher und neigten sich vor meiner Garbe."

"Willst du unser König werden und über uns herrschen?", riefen seine Brüder in neidischem Ärger (1. Mose 37,7.8a).

Bald darauf hatte er einen weiteren Traum von ähnlicher Bedeutung, den er ihnen ebenfalls erzählte: "Die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir." (1. Mose 37,9) Dieser Traum ließ sich wie der erste mit Leichtigkeit auslegen. Auch der Vater, der anwesend war, wies ihn zurecht: "Was ist das für ein Traum, den du geträumt hast? Sollen ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen?" (1. Mose 37,10) Doch trotz der scheinbaren Strenge seiner Worte war Jakob davon überzeugt, dass Gott Josef die Zukunft offenbart hatte.

Als der Junge vor seinen Brüdern stand, lag ein Leuchten auf seinem schönen Angesicht, weil ihn der Geist Gottes erfüllte. Da konnten selbst sie ihre Bewunderung nicht verbergen. Aber sie wollten ihre gottlose Lebensweise nicht aufgeben. Sie hassten diese reine Gesinnung, die ihre Sünden rügte. Dieselbe Einstellung, die Kain antrieb, beherrschte auch sie.

Die Rache Der Neidischen Brüder

Um Weideland für ihre Herden zu finden, mussten die Brüder von Ort zu Ort ziehen. Deshalb waren sie oft monatelang von zu Hause fort. Nach den Vorfällen, von denen gerade die Rede war, kamen sie in die Nähe von Sichem, wo ihr Vater Land gekauft hatte. Als aber nach geraumer Zeit kein Lebenszeichen von ihnen eintraf, fing Jakob an, um ihre Sicherheit zu bangen. Er dachte an die Grausamkeit, mit der sie damals gegen die Einwohner von Sichem vorgegangen waren. Deshalb schickte er Josef los, um sie zu suchen und mit einer Nachricht über ihr Befinden zurückzukommen. Hätte Jakob gewusst, was für Gefühle seine Söhne gegen Josef hegten, hätte er ihn niemals allein zu ihnen geschickt. Aber diese hatten sie wohlweislich vor ihm verheimlicht.

Fröhlich verabschiedete sich Josef von seinem Vater. Weder der alte noch der junge Mann hätten sich träumen lassen, was bis zu ihrem Wiedersehen alles geschehen würde. Als Josef nach langer, einsamer Wanderung nach Si- chem kam, war von seinen Brüdern und ihren Herden nichts zu sehen. Auf seine Erkundigungen hin wies man ihn nach Dotan. Über 80 Kilometer hatte er bereits zurückgelegt, und jetzt lagen noch einmal 25 Kilometer vor ihm. Aber der Gedanke an die Sorgen des Vaters und an das Wiedersehen mit seinen Brüdern ließ ihn seine Müdigkeit vergessen, denn er hatte sie noch immer lieb, obwohl sie so unfreundlich zu ihm waren. Und darum beeilte er sich voranzukommen.

Seine Brüder sahen Josef herankommen, aber kein Gedanke an den langen Weg, den er auf sich genommen hatte, um sie zu treffen, an seine Müdigkeit, seinen Hunger, sein Recht auf ihre Gastfreundschaft und brüderliche Liebe milderte ihren bitteren Hass. Der Anblick seines schönen Gewandes - das Zeichen der väterlichen Liebe - machte sie rasend. "Seht, der Träumer kommt daher!" (1. Mose 37,19), höhnten sie. Nun ließen sie sich von Neid und Rachegefühlen beherrschen, die sie insgeheim lange genährt hatten. "So kommt nun und lasst uns ihn töten", sagten sie, "und in eine Grube werfen und sagen, ein böses Tier habe ihn gefressen; so wird man sehen, was seine Träume sind" (1. Mose 37,20).

Wäre Ruben nicht gewesen, hätten sie ihren Plan auch ausgeführt. Er jedoch schreckte davor zurück, sich an der Ermordung seines Bruders zu beteiligen, und schlug ihnen vor, ihn lebend in eine Grube zu werfen und darin umkommen zu lassen. Insgeheim aber hatte er die Absicht, ihn zu befreien und seinem Vater zurückzubringen. Nachdem Ruben alle von seinem Plan überzeugt hatte, entfernte er sich von ihnen, denn er befürchtete, seine Gefühle nicht in der Gewalt zu haben und ihnen damit sein wirkliches Vorhaben zu verraten.

Ohne die drohende Gefahr zu ahnen, ging Josef auf seine Brüder zu. Er war froh, das Ziel seiner langen Suche endlich erreicht zu haben. Aber statt des erwarteten Grußes ließen ihm die zornigen und rachsüchtigen Blicke seiner Brüder das Blut in den Adern stocken. Sie packten ihn und rissen ihm das schöne Gewand vom Leib. Spott und Drohungen verrieten ihre mörderische Absicht. Sein Flehen blieb unbeachtet. Er war völlig in der Gewalt dieser von allen Sinnen verlassenen Männer. Sie schleppten ihn grob zu einer tiefen Grube und warfen ihn hinein. Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass es daraus kein Entkommen gab, überließen sie ihn dem Hungertod. Dann "setzten [sie] sich nieder, um zu essen" (1. Mose 37,25).

Doch einigen von ihnen war unbehaglich zumute. Sie spürten nichts von der Genugtuung, die sie sich von ihrer Rache versprochen hatten. Wenig später sahen sie eine Gruppe Reisender näher kommen. Es war eine Karawane von Ismaelitern aus der Gegend jenseits des Jordan, die sich mit Gewürzen und anderen Handelswaren auf dem Weg nach Ägypten befand. Nun schlug Juda vor, Josef diesen heidnischen Händlern zu verkaufen, statt ihn dem Hungertod zu überlassen. Somit hätten sie ihn endgültig aus dem Weg geräumt, ohne sich an seinem Blut schuldig zu machen. Mit Nachdruck sagte er: "Denn er ist unser Bruder, unser Fleisch und Blut." (1. Mose 37,27) Diesem Vorschlag stimmten alle zu, und schnell zogen sie Josef aus der Grube.

Josef Als Sklave Verkauft

Als Josef die Kaufleute sah, wurde ihm seine schreckliche Lage blitzartig klar. Versklavt zu werden war ein Schicksal, das man mehr fürchten musste als den Tod. Voller Entsetzen flehte er erst den einen, dann den anderen seiner Brüder um Hilfe an, aber vergebens. Einigen tat er wohl leid, aber aus Angst vor dem Spott der anderen hielten sie den Mund. Alle hatten das Gefühl, schon zu weit gegangen zu sein, um jetzt noch den Rückzug antreten zu können. Würde Josef jetzt verschont werden, würde er dem Vater zweifelsohne alles über sie berichten. Dieser aber würde über ihr grausames Verhalten gegenüber seinem Lieblingssohn sicher nicht hinwegsehen. Sie verhärteten ihr Herz gegenüber seinem Flehen und übergaben ihn den heidnischen Händlern. Die Karawane zog weiter und war bald aus ihrem Blickfeld verschwunden.

Als Ruben zurückkam und sich heimlich zur Grube begab, fand er Josef nicht mehr vor. Bestürzt und von Selbstvorwürfen gepeinigt, zerriss er seine Kleider, rannte zu seinen Brüdern und rief verzweifelt: "Der Knabe ist nicht da! Wo soll ich hin?" (1. Mose 37,30) Als er von Josefs Schicksal erfuhr, begriff er, dass sein Bruder nicht mehr zurückzuholen war. Da ließ er sich von den anderen überreden und stimmte dem Versuch zu, ihre Schuld zu verheimlichen. Sie töteten eine junge Ziege, tauchten Josefs Gewand in das Blut und brachten es zu ihrem Vater. Sie erzählten ihm, sie hätten die Tunika auf einem Feld gefunden und befürchteten, sie gehöre ihrem Bruder. "Wir haben das hier gefunden", logen sie. "Sieh es dir genau an. Das ist doch Josefs Gewand, oder nicht?" (1. Mose 37,32 NLB) Mit Schaudern hatten sie diesem Augenblick entgegengesehen, aber auf einen so herzzerreißenden seelischen Schmerz, auf einen so heftigen Ausbruch seiner Verzweiflung, wie sie ihn nun miterleben mussten, waren sie nicht gefasst. Jakob rief: "Ja, es ist das Gewand meines Sohnes. Ein wildes Tier muss ihn gefressen haben. In Stücke gerissen wurde Josef, in Stücke gerissen!" (1. Mose 37,33 NLB). Vergeblich versuchten seine Söhne und Töchter, ihn zu trösten. "Jakob zerriss seine Kleider und wickelte ein grobes Tuch um seine Hüften. Lange Zeit trauerte er um seinen Sohn." Doch die Zeit schien seine Trauer nicht zu mindern. "Ich werde vor Trauer um meinen Sohn sterben!", rief er verzweifelt aus (1. Mose 37,34.35 NLB). Nun waren die jungen Männer über ihre Tat entsetzt. Aber aus Angst vor den Vorwürfen ihres Vaters behielten sie das Wissen um ihr Vergehen für sich. Doch selbst ihnen erschien ihre Schuld riesengroß.