Wie Alles Begann

Kapitel 21

Josef Und Seine Brüder

[AUDIO]

1. Mose 41,47 bis 50,26.

Mit dem Beginn der fruchtbaren Jahre setzten sofort die Vorbereitungen für die nahende Hungersnot ein. Unter Josefs Leitung wurden an allen wichtigen Orten in ganz Ägypten riesige Vorratshäuser errichtet und umfangreiche Vorkehrungen getroffen, um den Überschuss der erwarteten Ernten unterzubringen. Diese Maßnahmen wurden in den sieben äußerst ertragreichen Jahren fortgesetzt, bis die Menge des eingelagerten Getreides so groß war, dass man sie nicht mehr berechnen konnte.

Dann begannen gemäß Josefs Voraussage die sieben Jahre der Dürre. "Auch in den angrenzenden Ländern herrschte Hungersnot, aber in Ägypten waren die Vorratshäuser gefüllt. Doch auch in Ägypten begannen die Menschen schließlich zu hungern. Sie flehten den Pharao um Nahrung an, und er sagte zu ihnen: ›Geht zu Josef und tut, was er euch sagt‹. Als die Hungersnot immer drückender wurde, ließ Josef die Vorratshäuser öffnen und verkaufte den Ägyptern das Getreide." (1. Mose 41,54-56 NLB)

Die Prüfung Der Brüder Josefs In Ägypten

Die Hungersnot dehnte sich bis nach Kanaan aus. Auch in der Gegend, wo Jakob wohnte, litt man schwer darunter. Als Jakobs Söhne hörten, dass der ägyptische König große Vorräte angelegt habe, machten sich zehn von ihnen dorthin auf den Weg, um Getreide zu kaufen. Bei der Ankunft wurden sie zum Stellvertreter des Pharao gewiesen. Sie meldeten sich mit anderen Bittstellern beim Herrscher des Landes. "So kamen auch seine Brüder zu ihm. Sie verneigten sich tief vor ihm. Seine Brüder erkannten ihn nicht, aber Josef erkannte sie." (1. Mose 42,6.8 NLB) Sein hebräischer Name war gegen jenen ausgetauscht, der ihm vom König verliehen worden war, und es gab wenig Ähnlichkeit zwischen dem Premierminister Ägyptens und dem jugendlichen, den sie an die Ismaeliter verkauft hatten. Als Josef sah, wie sich seine Brüder vor ihm verneigten und ihm huldigten, fielen ihm wieder seine Träume ein. Die früheren Erlebnisse kamen ihm lebendig in den Sinn. Sein scharfes Auge überflog sie, und er bemerkte, dass Benjamin sich nicht unter ihnen befand. War auch er ein Opfer der unmenschlichen Grausamkeit dieser rohen Männer geworden? Er wollte unbedingt die Wahrheit herausfinden. "Ihr seid Kundschafter", sagte er deshalb schroff, "und seid gekommen zu sehen, wo das Land offen ist" (1. Mose 42,9).

Sie antworteten: "Nein, mein Herr! Deine Knechte sind gekommen, Getreide zu kaufen. Wir sind alle eines Mannes Söhne; wir sind redlich, und deine Knechte sind nie Kundschafter gewesen." (1. Mose 42,10.11) Josef wollte wissen, ob sie noch dieselbe hochmütige Haltung einnahmen wie damals, als er noch bei ihnen war. Außerdem wollte er ihnen auch Auskünfte über die Familie entlocken. Aber er wusste nur zu genau, wie sehr sie ihn mit ihren Aussagen auch täuschen konnten. Deshalb wiederholte er seine Anschuldigung. Sie antworteten darauf: "Wir, deine Knechte, sind zwölf Brüder, eines Mannes Söhne im Lande Kanaan, und der jüngste ist noch bei unserm Vater, aber der eine ist nicht mehr vorhanden." (1. Mose 42,13)

Josef tat so, als würde er die Wahrhaftigkeit ihrer Erzählung bezweifeln und sie noch immer für Kundschafter halten. Er erklärte ihnen, er wolle ihre Aussagen überprüfen. Deshalb verlangte er von ihnen, in Ägypten zu bleiben, bis einer von ihnen nach Hause gezogen war und den jüngsten Bruder mitgebracht hatte. Wenn sie dem nicht zustimmten, würden sie als Spione behandelt. Aber auf diese Forderung konnten Jakobs Söhne nicht eingehen. Bis das zeitlich geschafft war, wären ihre Familien längst in Hungersnot geraten. Und wer von ihnen würde die Reise allein antreten und seine Brüder im Gefängnis zurücklassen wollen? Wie hätte der Betreffende unter solchen Umständen vor ihren Vater treten können? Es schien ihnen durchaus möglich, dass sie hingerichtet oder versklavt würden, und wenn Benjamin geholt würde, dann vielleicht nur, um ihr Schicksal zu teilen. Deshalb beschlossen sie, zu bleiben und miteinander zu leiden, statt ihrem Vater durch den Verlust des einzigen Sohnes, der ihm noch geblieben war, weiteres Leid zuzufügen. Also wurden sie ins Gefängnis geworfen, wo sie drei Tage lang blieben.

Während der Jahre, in denen Josef von seinen Brüdern getrennt war, hatten sich die Söhne Jakobs charakterlich verändert. Sie waren neidisch, hinterlistig, grausam und rachsüchtig gewesen, aber als sie nun durch diese Not auf die Probe gestellt wurden, erwiesen sie sich als selbstlos, hielten treu zusammen und waren ihrem Vater ergeben. Obgleich selbst inzwischen Männer mittleren Alters, waren sie doch seiner Autorität untertan.

Die drei Tage im ägyptischen Gefängnis waren für die Brüder eine sehr kummervolle Zeit, als sie über ihre früheren Sünden nachdachten. Würde Benjamin nicht herbeigebracht werden, schien ihre Verurteilung als Spione sicher. Sie hatten wenig Hoffnung, dass der Vater der Reise Benjamins nach Ägypten zustimmen würde.

Am dritten Tag ließ Josef seine Brüder zu sich bringen. Er wagte sie nicht länger in Haft zu behalten, weil ihr Vater und ihre Familien möglicherweise bereits Hunger litten. "Ich bin ein gottesfürchtiger Mann", sagte er, "wenn ihr tut, was ich sage, werdet ihr am Leben bleiben. Wir wollen sehen, ob ihr wirklich ehrliche Leute seid. Nur einer von euch soll hier im Gefängnis bleiben. Die Übrigen können nach Hause gehen und Getreide für ihre hungernden Familien mitnehmen. Aber bringt mir euren jüngsten Bruder her. Dann werde ich wissen, dass ihr mir die Wahrheit gesagt habt, und ich werde euch am Leben lassen." (1. Mose 42,18-20 NLB) Mit diesem Vorschlag erklärten sie sich einverstanden. Allerdings betonten sie, es bestehe nur wenig Hoffnung, dass ihr Vater Benjamin mit ihnen nach Ägypten zurückkehren lassen werde.

Josef hatte sich bislang durch Dolmetscher mit seinen Brüdern verständigt. Weil sie nicht vermuteten, dass er sie verstehen konnte, sprachen sie in seiner Gegenwart ganz offen miteinander. Sie machten sich schwere Vorwürfe, weil sie Josef so schäbig behandelt hatten: "Das alles ist nur aufgrund dessen geschehen, was wir Josef vor langer Zeit angetan haben. Wir haben seine Angst gesehen, als er uns um Gnade anflehte, aber nicht darauf gehört. Jetzt müssen wir dafür büßen." (1. Mose 42,21 NLB) Ruben, der bei Dotan Josefs Rettung geplant hatte, fügte nun hinzu: "Habe ich euch damals nicht gesagt, ihr solltet ihm nichts tun ... Aber ihr wolltet ja nicht auf mich hören. Und jetzt werden wir sterben, weil wir seinen Tod auf dem Gewissen haben." (1. Mose 42,22 NLB) Als Josef das hörte, konnte er seine Gefühle nicht länger beherrschen. Er ging hinaus und weinte. Nach seiner Rückkehr ließ er Simeon in ihrer Gegenwart fesseln und wieder ins Gefängnis werfen. Simeon war der Anstifter und Haupttäter gewesen, als sie ihren Bruder so grausam behandelt hatten. Darum fiel nun die Wahl auf ihn.

Bevor Josef seinen Brüdern erlaubte aufzubrechen, ordnete er an, sie mit Getreide zu versorgen und jedem sein Geld ohne ihr Wissen oben in den Sack zu legen. Sie erhielten auch Futter für die Tiere. Unterwegs öffnete einer der Brüder seinen Sack und war bestürzt, seinen Beutel mit Silber darin zu finden. Als er das den anderen sagte, fragten sich alle beunruhigt und erschrocken: "Was hat Gott uns angetan?" (1. Mose 42,28 NLB) Sollten sie das als gutes Zeichen von Gott ansehen oder hatte Gott es zugelassen, um sie für ihre Sünden zu bestrafen und sie in noch größere Schwierigkeiten zu stürzen? Sie erkannten, dass Gott ihre Sünden wahrgenommen hatte und sie nun dafür bestrafte.

Sehnsüchtig wartete Jakob auf die Rückkehr seiner Söhne. Als sie endlich ankamen, scharten sich alle Bewohner des Zeltlagers neugierig um sie, und die Brüder berichteten ihrem Vater alles, was sich ereignet hatte. Angst und Schrecken packte sie alle. Das Verhalten des ägyptischen Herrschers schien böse Absichten zu verraten. Ihre Befürchtungen wurden bestätigt, als sie die Säcke öffneten und jeder darin sein Geld wiederfand. In seinem Kummer rief der alte Vater: "Ihr raubt mir meine Kinder! Josef ist verschwunden, Simeon ist fort und jetzt wollt ihr mir auch noch Benjamin wegnehmen. Es bleibt mir auch nichts erspart!" Ruben antwortete darauf: "Wenn ich dir Benjamin nicht zurückbringe, darfst du meine beiden Söhne töten. Vertraue ihn mir an. Ich werde ihn zurückbringen!" (1. Mose 42,36.37 NLB) Aber mit so voreiligen Worten waren Jakobs Sorgen nicht zu vertreiben. Er gab zur Antwort: "Mein Sohn wird nicht mit euch nach Ägypten ziehen, denn sein Bruder Josef ist tot, und er allein ist mir übrig geblieben. Wenn ihm auf der Reise etwas zustoßen sollte, würdet ihr mich vor Kummer ins Grab bringen." (1. Mose 42,38 NLB)

Erneute Reise Nach Ägypten -- Mit Benjamin

Aber die Dürre hielt an. Im Laufe der Zeit war der Vorrat an Getreide, den sie aus Ägypten mitgebracht hatten, nahezu aufgebraucht. Jakobs Söhne wussten nur zu gut, dass es sinnlos wäre, ohne Benjamin nach Ägypten zurückzukehren. Und weil sie wenig Hoffnung hatten, den Entschluss ihres Vaters ändern zu können, verhielten sie sich abwartend und schwiegen zu dem Thema. Immer drückender machte sich die Hungersnot bemerkbar. Aus den sorgenvollen Gesichtern aller Lagerbewohner las der alte Mann ihr Bedürfnis. Schließlich sagte er: "Zieht wieder hin und kauft uns ein wenig Getreide." (1. Mose 43,2)

Juda antwortete ihm: "Der Mann hat uns ausdrücklich gewarnt: ›Kommt nicht mehr ohne euren Bruder zu mir.‹ Wenn du ihn mit uns gehen lässt, werden wir nach Ägypten ziehen und Getreide kaufen. Wenn du Benjamin jedoch nicht gehen lässt, werden wir auch nicht gehen. Denn der Mann hat gesagt: ›Ohne euren Bruder dürft ihr mir nicht mehr unter die Augen treten.‹" (1. Mose 43,3-5 NLB) Als er merkte, dass der Vater in seinem Entschluss unsicher wurde, fügte er hinzu: "Gib mir den Jungen mit, damit wir aufbrechen können und am Leben bleiben. Andernfalls werden wir alle verhungern -- und nicht nur wir, sondern auch du und unsere Kinder." (1. Mose 43,8 NLB) Er bot sich selbst als Bürge für den Bruder an und war bereit, die Schuld für immer zu tragen, falls es ihm nicht gelinge, ihm Benjamin zurückzubringen.

Schließlich konnte Jakob seine Zustimmung nicht länger verweigern und befahl seinen Söhnen, sich für die Reise fertig zu machen. Er wies sie auch an, dem Herrscher ein Geschenk von den Dingen mitzunehmen, die das von der Hungersnot heimgesuchte Land noch aufbrachte, "ein wenig Balsam und Honig, Harz und Myrrhe, Nüsse und Mandeln" (1. Mose 43,11). Auch den doppelten Geldbetrag sollten sie dabei haben. "Dazu nehmt euren Bruder, macht euch auf und geht wieder zu dem Mann." (1. Mose 43,13) Als seine Söhne ihre ungewisse Reise antraten, richtete sich der greise Vater auf, hob seine Hände zum Himmel und betete: "Ich bete zu Gott, dem Gewaltigen, dass der Ägypter Erbarmen mit euch hat und Benjamin und euren anderen Bruder wieder mit euch heimkehren lässt. Muss ich denn alle meine Kinder verlieren?" (1. Mose 43,14 GNB)

Wieder zogen sie nach Ägypten und stellten sich Josef vor. Als sein Auge auf Benjamin fiel, den Sohn seiner eigenen Mutter, bewegte ihn das tief. Doch unterdrückte er seine Rührung und befahl, die Männer in sein Haus zu führen. Dort ließ er ein Mahl vorbereiten, das er gemeinsam mit ihnen einnehmen wollte. Als man die Brüder in den Palast des Statthalters geleitete, witterten sie größte Gefahr. Sie fürchteten, wegen des Geldes, das sie in ihren Säcken gefunden hatten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Vermutung lag nahe, man habe es absichtlich dorthin gelegt, um einen Vorwand zu haben, sie zu Sklaven zu machen. In ihrer Angst wandten sie sich an den Verwalter des Hauses. Sie erklärten ihm, unter welchen Umständen sie nach Ägypten gekommen seien. Zum Beweis ihrer Unschuld führten sie an, sie hätten das in den Säcken gefundene Geld wieder mitgebracht und noch weiteres dabei, um damit Nahrung zu kaufen. Sie fügten hinzu: "Wir wissen aber nicht, wer uns unser Geld in unsere Säcke gesteckt hat." Der Mann erwiderte: "Seid guten Mutes, fürchtet euch nicht! Euer Gott und eures Vaters Gott hat euch einen Schatz gegeben in eure Säcke. Euer Geld habe ich erhalten." (1. Mose 43,22.23) Da ließ ihre Angst nach. Als dann Simeon, den man aus dem Gefängnis entlassen hatte, wieder zu ihnen stieß, merkten sie, wie barmherzig Gott zu ihnen gewesen war.

Als der Regent erneut mit ihnen zusammentraf, überreichten sie ihm ihre Geschenke und "fielen vor ihm nieder zur Erde" (1. Mose 43,26). Wieder musste Josef an seine früheren Träume denken. Nachdem er seine Gäste begrüßt hatte, wollte er als Erstes wissen: "Wie geht es eurem alten Vater, von dem ihr mir erzählt habt? Lebt er noch?" Sie antworteten: "Ja, unser Vater ... lebt noch ... und es geht ihm gut." (1. Mose 43,27.28 NLB) Danach verneigten sie sich wieder vor ihm. Als sein Blick auf Benjamin fiel, fragte er: "Ist dies euer jüngster Bruder, von dem ihr mir erzählt habt?" Dann fügte er hinzu: "Gott überschütte dich mit seiner Gnade, mein Sohn!" Von Rührung überwältigt, konnte er nicht weitersprechen. Er eilte hinaus, "lief in sein Privatzimmer und weinte dort" (1. Mose 43,29.30 NLB).

Nachdem er sich wieder gefasst hatte, kehrte er zurück. Für alle begann ein Festmahl. Nach ihrer Kastenordnung durften Ägypter nicht gemeinsam mit Angehörigen eines anderen Volkes essen. Deshalb saßen Jakobs Söhne an einer Tafel für sich, während der Regent mit Rücksicht auf seinen Rang allein aß. Auch die Ägypter hatten besondere Tische. Als die Brüder Platz genommen hatten, stellten sie überrascht fest, dass sie alle genau nach ihrem Alter zu Tisch saßen. "Ihr Essen wurde ihnen von Josefs Tafel serviert. Benjamin ließ Josef am meisten geben - fünfmal so viel wie seinen Brüdern." (1. Mose 43,34 NLB) Durch diese Bevorzugung Benjamins wollte Josef feststellen, ob sie ihren jüngsten Bruder mit ebenso viel Hass und Missgunst behandelten wie ihn damals. Da die Brüder noch immer annahmen, Josef verstehe ihre Sprache nicht, unterhielten sie sich ungezwungen miteinander. Dadurch hatte er gute Gelegenheit, ihr wahres Denken kennenzulernen. Trotzdem wollte er sie noch weiter prüfen und ordnete vor ihrer Abreise an, seinen silbernen Trinkbecher im Sack des Jüngsten zu verstecken.

Der Angeblich Gestohlene Becher

Fröhlich traten die Brüder die Heimreise an. Simeon und Benjamin waren bei ihnen, ihre Tiere waren mit Getreide beladen, und alle meinten, den Gefahren entronnen zu sein, von denen sie zuvor umgeben waren. Aber kaum hatten sie den Stadtrand erreicht, als der Hausverwalter des Regenten sie einholte und ihnen die bissige Frage stellte: "Warum habt ihr Gutes mit Bösem vergolten? Warum habt ihr den silbernen Becher gestohlen? Ist das nicht der, aus dem mein Herr trinkt und aus dem er wahrsagt? Ihr habt übel getan." (1. Mose 44,4.5) Dieser Becher besaß angeblich die Fähigkeit, giftige Substanzen zu entdecken, wenn sich welche darin befanden. In jener Zeit waren solche Becher als Schutz vor Giftmordanschlägen hoch geschätzt.

Auf die Beschuldigung des Hausverwalters antworteten die Reisenden: "Warum beschuldigst du uns so schwer? . Wir würden so etwas nie tun. Haben wir dir nicht das Geld, das wir in unseren Säcken gefunden haben, den langen Weg aus Kanaan zurückgebracht? Warum sollten wir Silber oder Gold aus dem Palast deines Herrn stehlen? Wenn du diesen Becher bei einem von uns findest, dann soll derjenige sterben. Und wir anderen wollen die Sklaven deines Herrn sein." (1. Mose 44,7-9 NLB)

"Gut", sprach der Hausverwalter, "derjenige soll ein Sklave sein, bei dem der Becher gefunden wird. Die anderen sind ohne Schuld" (1. Mose 44,10 NLB). Die Durchsuchung begann unverzüglich. "Rasch lud jeder seinen Sack von seinem Esel." (1. Mose 44,11 NLB) Der Hausverwalter untersuchte alle Säcke. Er fing bei Ruben an und ging der Reihenfolge nach alle durch bis zum Jüngsten. In Benjamins Sack fand er den Becher.

Als Ausdruck ihres völligen Elends zerrissen die Brüder ihre Gewänder. Langsam kehrten sie in die Stadt zurück. Mit ihren eigenen Worten hatten sie Benjamin zum Sklavendasein verurteilt. Sie folgten dem Hausverwalter zum Palast. Als sie den Statthalter dort noch antrafen, warfen sie sich vor ihm nieder. "Wie habt ihr das tun können?", fragte sie dieser. "Wusstet ihr nicht, dass ein Mann wie ich wahrsagen kann?" (1. Mose 44,15) Josef wollte von ihnen ein Schuldbekenntnis hören. Zwar hatte er nie behauptet, die Gabe der Weissagung zu besitzen. Sie sollten aber glauben, dass ihm die Geheimnisse ihres Lebens bekannt waren.

Juda ergriff das Wort: "Was sollen wir sagen, Herr? Womit könnten wir uns rechtfertigen? Gott hat unsere Schuld ans Licht gebracht. Wir alle sind jetzt deine Sklaven, genau wie der, bei dem sich der Becher gefunden hat." (1. Mose 44,16 GNB) "Das sei ferne von mir, solches zu tun!", lautete die Entgegnung. "Der, bei dem der Becher gefunden ist, soll mein Sklave sein; ihr aber zieht hinauf mit Frieden zu eurem Vater." (1. Mose 44,17) In seiner großen Sorge trat Juda näher auf den Regenten zu und rief aus: "Herr, du bist so mächtig wie der Pharao! Erlaube mir, dass ich trotzdem das Wort an dich richte, und zürne mir nicht!" (1. Mose 44,18 GNB) Mit rührender Beredsamkeit schilderte er das Leid ihres Vaters, nachdem er Josef verloren hatte. Er erwähnte dessen Zaudern und Zagen, Benjamin mit ihnen nach Ägypten ziehen zu lassen, weil er der einzig verbliebene Sohn seiner Mutter Rahel war, die Jakob so sehr geliebt hatte. "Wenn ich ohne den Jungen zu meinem Vater zurückkehre und er sieht, dass der Junge nicht bei uns ist, wird er sterben. Wir würden die Verantwortung dafür tragen, ihn vor Kummer ins Grab gebracht zu haben. Mein Herr, ich habe mich bei meinem Vater für den Jungen verbürgt. Ich habe zu ihm gesagt: ›Wenn ich ihn dir nicht zurückbringe, will ich mein Leben lang die Schuld auf mich nehmen.‹ Bitte, mein Herr, ... [lass] mich anstelle des Jungen als Sklaven für meinen Herrn hier bleiben und ... [lass] den Jungen mit seinen Brüdern zusammen heimkehren. Denn wie kann ich zu meinem Vater zurückkehren, wenn der Junge nicht bei mir ist? Ich kann nicht mit ansehen, welchen Schmerz ihm das zufügen würde." (1. Mose 44,30-34 NLB)

Josef Gibt Sich Seinen Brüdern Zu Erkennen

Nun war Josef zufriedengestellt. Er sah bei den Brüdern das Ergebnis tiefer, echter Reue. Als er Judas edlen Vorschlag hörte, befahl er allen Männern außer seinen Brüdern, den Raum zu verlassen. Dann rief er, laut weinend: "Ich bin Josef. Lebt mein Vater noch?" (1. Mose 45,3)

Seine Brüder standen regungslos da, stumm vor Schreck und Staunen. Der Herrscher Ägyptens ihr Bruder Josef, den sie beneidet hatten, den sie töten wollten und schließlich als Sklaven verkauften! All ihre schlechte Behandlung, die sie ihm angetan hatten, fiel ihnen wieder ein. Sie erinnerten sich, wie sie seine Träume verachtet hatten und deren Erfüllung zu verhindern suchten. Und doch hatten sie ihren Teil dazu beigetragen, dass sich diese Träume erfüllten. Nun, da sie völlig in seiner Gewalt waren, würde er sicher das Unrecht rächen, das sie ihm angetan hatten.

Als er ihre Verwirrung bemerkte, sagte er freundlich zu ihnen: "Kommt her zu mir!" Während sie näher traten, fuhr er fort: "Ich bin euer Bruder Josef, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Aber macht euch deswegen keine Vorwürfe. Gott selbst hat mich vor euch her geschickt, um euer Leben zu retten." (1. Mose 45,4.5 NLB) Er spürte, dass sie für ihre Grausamkeit ihm gegenüber genug gelitten hatten, und wollte ihnen edelmütig die Angst nehmen und ihre bitteren Selbstvorwürfe zerstreuen.

"Denn schon seit zwei Jahren herrscht nun die Hungersnot und auch in den nächsten fünf Jahren wird man weder säen noch ernten können. Gott hat mich vor euch her geschickt, damit er euch auf wunderbare Art und Weise am Leben erhält und einige von euch übrig bleiben. Ja, nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern Gott! Und er hat mich zum wichtigsten Berater des Pharao gemacht - zum Herrn über sein ganzes Haus und zum Herrscher über ganz Ägypten. Kehrt schnell zu meinem Vater zurück und sagt ihm: ›Dies lässt dir dein Sohn Josef sagen: Gott hat mich zum Herrn über ganz Ägypten gemacht. Komm schnell herab zu mir! Zögere nicht! Du kannst in der Provinz Goschen wohnen, damit du in meiner Nähe bist, du und deine Kinder und Enkelkinder, deine Schaf- und Rinderherden und dein ganzer Besitz. Ich werde für euch sorgen, damit du und deine Familie nicht verarmen, denn es liegen noch fünf Jahre des Hungers vor uns.‹ ... Ihr seht selbst, und auch mein Bruder Benjamin kann sehen, dass ich wirklich Josef bin, der zu euch redet!" (1. Mose 45,6-12 NLB) Nach diesen Worten "umarmte er [weinend] Benjamin und auch Benjamin begann zu weinen. Dann küsste Josef weinend alle seine Brüder. Danach unterhielten sich seine Brüder mit ihm" (1. Mose 45,14.15 NLB). Demütig bekannten sie ihre Schuld und baten ihn um Vergebung. Sie hatten seinetwegen lange Ängste und Gewissensnöte erlitten und waren nun froh, dass er noch am Leben war.

Die Nachricht von diesen Ereignissen wurde schnell dem König überbracht. Weil ihm sehr daran lag, Josef seine Dankbarkeit zu erweisen, bestätigte er sofort die Einladung seines Stellvertreters an dessen Familie. Er sagte: "Das Beste aus ganz Ägypten soll euch gehören." (1. Mose 45,20 NLB) Man stattete die Brüder mehr als reichlich mit Nahrung, mit Wagen und sonst allem aus, was für ihren Umzug nach Ägypten mitsamt ihren Familien und dem Gesinde nötig war. Dann ließ man sie die Heimreise antreten. Seinen Bruder Benjamin hatte Josef mit mehr Kostbarkeiten beschenkt als die anderen. Weil er aber fürchtete, es könnten sich auf der Heimreise Streitigkeiten erheben, ermahnte er sie beim Aufbruch: "Streitet euch nicht unterwegs!" (1. Mose 45,24 NLB)

Mit der freudigen Nachricht "Josef lebt noch! ... Und er ist Herrscher über ganz Ägypten!" (1. Mose 45,26 NLB) kehrten Jakobs Söhne zu ihrem Vater zurück. Der alte Mann war zunächst überwältigt. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Aber als er den langen Zug der Wagen und die beladenen Tiere sah und auch Benjamin wieder bei sich hatte, ließ er sich überzeugen. Mit übergroßer Freude rief er aus: "Das genügt! Mein Sohn Josef lebt noch! Ich will mich auf den Weg machen und ihn noch einmal sehen, bevor ich sterbe." (1. Mose 45,28 NLB)

Eine weitere Demütigung blieb den zehn Brüdern nicht erspart. Sie gestanden ihrem Vater nun den Betrug und die Grausamkeit, die sein und ihr Leben so viele Jahre lang vergiftet hatten. Eine so gemeine Sünde hätte ihnen Jakob nicht zugetraut, aber er erkannte, dass Gott alles zu einem guten Ende gewendet hatte. Deshalb vergab er seinen fehlerhaften Söhnen und segnete sie.

Jakob Übersiedelt Mit Seiner Ganzen Sippe Nach Ägypten

Bald waren Vater und Söhne mit ihren Familien, ihren Herden und der zahlreichen Dienerschaft auf dem Weg nach Ägypten. Freudigen Herzens machten sie sich auf den Weg. Als sie nach Beerscheba kamen, brachte der Patriarch dankbar seine Opfer dar. Er bat den Herrn um eine Zusicherung, dass er auf ihrem Weg mit ihnen sei. In einer nächtlichen Vision kam Gottes Wort zu ihm: "Hab keine Angst, nach Ägypten zu gehen, denn ich werde deine Nachkommen dort zu einem großen Volk machen. Ich gehe mit dir nach Ägypten und ich werde deine Nachkommen wieder hierher zurückbringen." (1. Mose 46,3.4 NLB)

Die Zusicherung, ihn in Ägypten zu einer großen Nation zu machen, war bedeutungsvoll. Gott hatte bereits Abraham versprochen, dass seine Nachkommenschaft zahllos wie die Sterne sein sollte, aber bislang hatte sich das auserwählte Volk nur langsam vermehrt. Und das Land Kanaan bot derzeit keinen Raum für die Entwicklung einer Nation, wie sie vorausgesagt war, denn es war im Besitz mächtiger heidnischer Stämme, die erst nach "vier Generationen" (1. Mose 15,16 NLB) vertrieben wurden. Wenn hier Jakobs Nachkommen zu einem großen Volk werden sollten, müssten sie die Einwohner des Landes vertreiben oder sich mit ihnen vermischen. Das Erste konnten sie wegen der göttlichen Vorkehrung nicht tun; und wenn sie sich mit den Kanaanitern vermischt hätten, wären sie in der Gefahr gestanden, zur Abgötterei verführt zu werden. In Ägypten hingegen waren die notwendigen Bedingungen zur Erfüllung des Planes Gottes gegeben: Ein gut bewässerter, fruchtbarer Teil des Landes stand ihnen offen, der ihnen jeden Vorteil für ein schnelles Wachstum bot. Und die Verachtung, mit der sie wegen ihrer Erwerbstätigkeit seitens der Ägypter rechnen mussten - denn alle Hirten waren "den Ägyptern ein Gräuel" (1. Mose 46,34) - würde ihnen die Gelegenheit verschaffen, ein besonderes und eigenständiges Volk zu bleiben, und dazu dienen, sie von der Teilnahme an der Götzenanbetung der Ägypter fernzuhalten.

Als sie Ägypten erreichten, zogen sie sofort in die Landschaft Goschen. Dorthin kam Josef in seinem Staatswagen, von fürstlichem Gefolge begleitet. Dennoch waren der Prunk seiner Umgebung und die Würde seiner Stellung schnell vergessen, denn nur ein einziger Gedanke ging ihm durch den Kopf; nur ein einziges Verlangen bewegte sein Herz. Als er die Reisenden herankommen sah, konnte er seine sehnsüchtige Liebe, die er so viele Jahre hatte unterdrücken müssen, nicht mehr beherrschen. Er sprang vom Wagen und lief seinem Vater entgegen, um ihn zu begrüßen. "Als Josef seinen Vater sah, fiel er ihm um den Hals und weinte lange. Dann sagte Jakob zu Josef: ›Nun kann ich sterben, denn ich habe dich gesehen und weiß, dass du noch am Leben bist.‹" (1. Mose 46,29.30 NLB)

Josef nahm fünf seiner Brüder, um sie dem Pharao vorzustellen. Dieser überreichte ihnen dabei die Siedlungsgenehmigung für das Land, das ihre neue Heimat werden sollte. Aus Dankbarkeit zu seinem Premierminister hätte der Monarch sie gern zu Staatsbeamten ernannt. Aber Josef, der treue Diener Jahwes, wollte seine Brüder vor den Versuchungen bewahren, denen sie am heidnischen Hof ausgesetzt gewesen wären. Deshalb riet er ihnen, dem König offen ihre Beschäftigung zu nennen, wenn er danach fragen sollte. Jakobs Söhne folgten diesem Rat und erklärten dabei auch, dass sie nur als Gäste im Land weilen und keine ständigen Bewohner werden möchten. Damit behielten sie sich das Recht vor wegzuziehen, wann sie wollten. Der König wies ihnen eine neue Heimstatt zu: Wie angeboten gab er ihnen das Land Goschen, "im besten Teil Ägyptens" (1. Mose 47,6 NLB).

Nicht lange nach ihrer Ankunft stellte Josef dem König auch seinen Vater vor. Der Patriarch war wohl ein Fremdling an Königshöfen. Aber inmitten großartiger Landschaften hatte er mit einem mächtigeren Monarchen, mit Gott, Umgang gehabt. Und so erhob er jetzt im Bewusstsein seiner Überlegenheit die Hände und segnete den Pharao.

Bei seiner ersten Begrüßung hatte Jakob gegenüber Josef geäußert, dass er nun bereit sei zu sterben - hatte doch die lange sorgen- und leidvolle Zeit ein glückliches Ende gefunden! Aber ihm wurden noch 17 Jahre in der friedlichen Zurückgezogenheit des Landes Goschen gewährt. Diese Jahre standen im glücklichen Gegensatz zu den vorangegangenen. Er erlebte an seinen Söhnen die Beweise wahrer Reue und sah, dass hier für seine Familie die besten Bedingungen bestanden, die für die Entwicklung zu einem großen Volk notwendig waren. Und sein Glaube erfasste die sichere Zusage, dass seine Nachkommen in der Zukunft das Land Kanaan besiedeln würden. Er war umgeben von allerlei Beweisen der Liebe und Gunst, die ihm der Premierminister Ägyptens geben konnte. Er verbrachte noch glückliche Jahre in der Gesellschaft seines lange verlorenen Sohnes. Ruhig und in Frieden schied er schließlich aus dem Leben.

Als er den Tod nahen fühlte, ließ er Josef zu sich rufen. Noch immer hielt er sich an Gottes Versprechen, dass seine Nachkommen Kanaan besitzen sollten. Darum sagte er zu ihm: "Wenn du mir wohlgesinnt bist, dann leg deine Hand unter meine Hüfte. Schwöre mir, dass du treu an mir handelst und mir den Gefallen tust, mich nicht in Ägypten zu begraben. Ich möchte bei meinen Vorfahren begraben werden. Wenn ich gestorben bin, dann bring mich aus Ägypten fort und begrabe mich in ihrem Grab." (1. Mose 47,29.30 NLB) Josef versprach es, aber Jakob gab sich damit noch nicht zufrieden. Er verlangte einen feierlichen Eid, ihn an der Seite seiner Vorfahren in der Höhle von Machpela beizusetzen.

Jakobs Segen Über Die Stämme Israels

Noch eine weitere wichtige Angelegenheit musste geregelt werden: Josefs Söhne sollten formell in die Nachkommenschaft Jakobs aufgenommen werden. Als Josef seinen Vater zum letzten Mal besuchte, brachte er Ephraim und Manasse mit. Die beiden jungen Männer waren durch ihre Mutter mit der höchsten Ordnung der ägyptischen Priesterschaft verbunden. Die Stellung ihres Vaters hätte ihnen den Weg zu Reichtum und Würden geöffnet, wenn sie sich entschieden hätten, zu den Ägyptern zu gehören. Josef wünschte aber, dass sie sich ihrem eigenen Volk anschlossen. Er bekundete seinen Glauben an die Bundesverheißung und schlug im Namen seiner Söhne alle Ehrentitel aus, die ihnen der ägyptische Hof anbot. Ihr Platz sollte bei den verachteten Hirtenstämmen sein, denen Gottes Offenbarung anvertraut war.

Da sagte Jakob: "Heute nehme ich deine beiden Söhne, Ephraim und Ma- nasse, die dir vor meiner Ankunft hier in Ägypten geboren wurden, als meine eigenen Söhne an. Sie sollen Ruben und Simeon gleichgestellt sein." (1. Mose 48,5 NLB). Sie sollten als seine eigenen Söhne angenommen und die Häupter eigener Stämme werden. Damit fiel eines der Vorrechte des Erstgeborenen, die Ruben verwirkt hatte, Josef zu: ein doppelter Anteil in Israel.

Jakobs Augen waren im Alter schwach geworden. Deshalb hatte er die beiden jungen Männer nicht bemerkt. Als er aber jetzt ihre Umrisse wahrnahm, fragte er: "Wer sind sie?" Nachdem man es ihm gesagt hatte, fügte er hinzu: "Bring sie her zu mir, ich will sie segnen." (1. Mose 48,8.9 NLB) Als sie näher traten, umarmte sie der Patriarch, küsste sie und legte ihnen mit feierlichem Ernst segnend seine Hände auf den Kopf. Dann betete er: "Der Gott, vor dem meine Väter Abraham und Isaak gewandelt sind, der Gott, der mein Hirte gewesen ist mein Leben lang bis auf diesen Tag, der Engel, der mich erlöst hat von allem Übel, der segne die Knaben." (1. Mose 48,15.16) Daraus sprach keine Haltung des Verlassens auf sich selbst, kein Vertrauen auf menschliche Kraft oder Schläue. Gott war sein Beschützer und Helfer gewesen. Jakob klagte nicht über die bösen Tage der Vergangenheit. Deren Anfechtungen und Sorgen waren für ihn keine Ereignisse mehr, die gegen ihn gerichtet waren. Sein Gedächtnis erinnerte ihn nur an Gottes Barmherzigkeit und Liebe, die ihn auf seiner Pilgerschaft begleitet hatten.

Nachdem er den Segen erteilt hatte, versicherte Jakob seinem Sohn: "Siehe, ich sterbe; aber Gott wird mit euch sein und wird euch zurückbringen in das Land eurer Väter." (1. Mose 48,21) Damit hinterließ er den künftigen Generationen seiner Nachkommen für ihre langen Jahre der Knechtschaft und des Leidens sein Glaubenszeugnis.

Zuletzt wurden alle Söhne an Jakobs Sterbebett gerufen. Er wandte sich an sie und sagte: "Kommt her! Ich will euch sagen, was euch die Zukunft bringen wird. Kommt zusammen und hört, ihr Söhne Jakobs; hört auf Israel, euren Vater." (1. Mose 49,1.2 NLB) Oft genug hatte er voller Sorge an ihre Zukunft gedacht und sich die Geschichte der verschiedenen Stämme auszumalen versucht. Als seine Kinder jetzt den letzten Segen von ihm erwarteten, ruhte der Geist der Weissagung auf ihm. In einer prophetischen Schau enthüllte sich ihm die Zukunft seiner Nachkommen. Nacheinander nannte er die Namen seiner Söhne, beschrieb den Charakter eines jeden und sagte in Kürze die künftige Geschichte des Stammes voraus.

"Ruben, mein erster Sohn bist du, meine Kraft und der Erstling meiner Stärke, der Oberste in der Würde und der Oberste in der Macht." (1. Mose 49,3)

Mit diesen Worten schilderte der Vater, wie der Sohn in seiner Stellung als Erstgeborener hätte sein sollen. Aber durch seine schwere Sünde mit Jakobs Nebenfrau (vgl. 1. Mose 35,22) hatte er den Erstgeburtssegen für sich verloren. Jakob fuhr fort: "Weil du aufwalltest wie Wasser, sollst du nicht der Oberste sein." (1. Mose 49,4)

Das Priestertum fiel später Levi zu. Das Königtum und die messianische Verheißung erhielt Juda, und den doppelten Anteil des Erbes empfing Josef. Der Stamm Ruben brachte es nie zu irgendwelcher Bedeutung in Israel. Er war nicht so zahlreich wie Juda, Josef oder Dan und gehörte zu den Ersten, die [über tausend Jahre später] in Gefangenschaft geführt wurden.

Dem Alter nach folgten auf Ruben Simeon und Levi. Sie hatten zusammen die Grausamkeit an den Einwohnern von Sichem begangen (vgl. 1. Mose 34,25.26) und trugen auch die meiste Schuld am Verkauf von Josef. Über sie sagte Jakob: "Ich will sie versprengen in Jakob und zerstreuen in Israel." (1. Mose 49,7)

Bei der Zählung des Volkes Israel kurz vor dem Einzug ins Land Kanaan war Simeon der kleinste Stamm. Mose erwähnte Simeon in seinem letzten Segen überhaupt nicht. Bei der Besiedlung Kanaans erhielt dieser Stamm nur einen kleinen Bereich von Judas Anteil. Familien dieses Stammes, die später mächtig wurden, zogen aus und bildeten verschiedene Kolonien außerhalb des Heiligen Landes. Auch Levi erhielt kein Erbe, ausgenommen 48 Städte, die über das ganze Land verstreut waren. In diesem Fall wurde allerdings der Fluch in Segen verwandelt. Als nämlich alle anderen Stämme von Gott abfielen, hielt der Stamm Levi Jahwe die Treue (vgl. 2. Mose 32,25-29). Deshalb wurde den Leviten später der Dienst am Heiligtum übertragen.

Den krönenden Segen des Erstgeburtsrechts aber erhielt Juda. Die Bedeutung dieses Namens, der von "preisen" abgeleitet ist (vgl. 1. Mose 29,35), kommt in der geweissagten Geschichte dieses Stammes zum Ausdruck: "Juda, du bist es! Dich werden deine Brüder preisen. Deine Hand wird deinen Feinden auf dem Nacken sein, vor dir werden deines Vaters Söhne sich verneigen. Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, vom Raub. Wie ein Löwe hat er sich hingestreckt und wie eine Löwin sich gelagert. Wer will ihn aufstören? Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der Held [Schilo] komme, und ihm werden die Völker anhangen." (1. Mose 49,8-10)

Der Löwe, der König der Tiere, ist ein passendes Sinnbild für diesen Stamm. Aus ihm gingen hervor König David, aber auch der Sohn Davids, Schilo15, der wahre "Löwe aus dem Stamm Juda" (Offenbarung 5,5), vor dem sich letztendlich alle Mächtigen verbeugen und dem alle Völker huldigen werden.

Den meisten seiner Kinder sagte Jakob eine blühende Zukunft voraus. Zuletzt war Josef an der Reihe. Das Herz des Vaters floss über, als er den Segen auf den herabflehte, der von seinen Brüdern getrennt war: "Josef wird wachsen, er wird wachsen wie ein Baum an der Quelle, dass die Zweige emporsteigen über die Mauer. Und wiewohl ihn die Schützen erzürnen und gegen ihn kämpfen und ihn verfolgen, so bleibt doch sein Bogen fest und seine Arme und Hände stark durch die Hände des Mächtigen in Jakob, durch ihn, den Hirten und Fels Israels. Von deines Vaters Gott werde dir geholfen, und von dem Allmächtigen seist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Flut, die drunten liegt, mit Segen der Brüste und des Mutterleibes. Die Segnungen deines Vaters waren stärker als die Segnungen der ewigen Berge, die köstlichen Güter der ewigen Hügel. Mögen sie kommen auf das Haupt Josefs und auf den Scheitel des Geweihten unter seinen Brüdern!" (1. Mose 49,22-26)

Jakob hatten schon immer starke Gefühlsäußerungen ausgezeichnet. Er hatte eine tiefe, innige Liebe zu allen seinen Söhnen. Deshalb war auch sein Vermächtnis als Sterbender kein Ausdruck von Parteinahme oder Groll. Er hatte allen vergeben, und er liebte sie bis zu seinem letzten Augenblick. Seine väterlichen Gefühle hätten nur Worte der Hoffnung und Ermutigung für sie gefunden. Aber die Macht Gottes ruhte auf ihm. Unter dem Einfluss göttlicher Eingebung musste er die Wahrheit sagen, auch wenn sie schmerzlich war.

Nachdem die letzten Segnungen ausgesprochen waren, wiederholte Jakob seine Weisung, wo er begraben sein wollte. "Ich werde versammelt zu meinem Volk; begrabt mich bei meinen Vätern ... in der Höhle auf dem Feld von Machpela ... Da haben sie Abraham begraben und Sara, seine Frau. Da haben sie auch Isaak begraben und Rebekka, seine Frau. Da habe ich auch Lea begraben." (1. Mose 49,29-31) Somit brachte auch die letzte Handlung seines Lebens den Glauben an Gottes Zusagen zum Ausdruck.

Jakobs Lebensabend

Seine letzten Jahre beschieden Jakob nach der leidvollen, mühseligen Zeit einen ruhigen, beschaulichen Lebensabend. Dunkle Wolken hatten sich über seinem Leben zusammengezogen, aber seine Sonne ging leuchtend unter. Die Heilige Schrift sagt: "Um den Abend wird es licht sein." (Sacharja 14,7) "Bleibe fromm und halte dich recht; denn einem solchen wird es zuletzt gut gehen." (Psalm 37,37)

Jakob hatte gesündigt und schwer darunter gelitten. Viele Jahre mühseliger Arbeit voller Sorge und Kummer musste er durchleben, seitdem er wegen seines großen Betruges aus dem Zeltlager seines Vaters fliehen musste. Immer wieder hatte er die Folgen dieser Unrechtstat geerntet: ein heimatloser Flüchtling, getrennt von seiner Mutter, die er nie wieder sah; sieben Jahre Arbeit für die Frau, die er liebte, um dann gemein betrogen zu werden; 20 Jahre im Dienst eines habsüchtigen und neidischen Verwandten. Zwar sah er seinen Wohlstand zunehmen und seine Söhne heranwachsen, aber er erlebte wenig Freude in seiner uneinigen, streitsüchtigen Familie. Er war bekümmert über die Schandtat an seiner Tochter, über die Rache ihrer Brüder, den Tod Rahels, über Rubens Frevel, Judas Sünde und darüber, wie Josef hinterlistig getäuscht und bösartig behandelt worden war. Wie lang und düster ist diese Liste von Verfehlungen, wenn man sie vor Augen sieht! Immer wieder erlebte er, wie sich bei seinen Söhnen die Sünden wiederholten, deren er sich selbst schuldig gemacht hatte. Aber so bitter die Erziehungsmaßnahme auch gewesen war - er hatte sein Ziel erreicht. Die Züchtigung hatte, wenn sie auch schmerzhaft war, eine "friedsame Frucht der Gerechtigkeit" gebracht (Hebräer 12,11 Elb.).

Die Bibel Berichtet Gewissenhaft Auch Über Menschliche Schwächen

Das inspirierte Wort berichtet gewissenhaft über die Mängel der Männer, die Gottes Gunst in besonderem Maß erlebt haben. Tatsächlich wird über ihre Fehler ausführlicher berichtet als über ihre Tugenden. Darüber haben sich viele gewundert, und Ungläubige hat es dazu veranlasst, über die Bibel zu spotten. Aber es ist gerade einer der stärksten Beweise für die Wahrheit der Heiligen Schrift, dass Tatsachen nicht beschönigt und die Sünden wichtiger Personen nicht verheimlicht werden. Der menschliche Verstand ist dermaßen dem Vorurteil unterworfen, dass unsere Berichterstattung nicht völlig unparteiisch sein kann. Wäre die Bibel nicht von inspirierten Menschen geschrieben worden, wären die Wesenszüge ihrer geachteten Männer sicher in einem schmeichelhafteren Licht dargestellt worden. So aber haben wir einen verlässlichen Bericht ihrer Erfahrungen.

Auch Menschen in der Gunst Gottes, denen er große Verantwortung übertragen hat, haben manchmal in der Versuchung versagt und Sünden begangen - so wie wir heute uns bemühen, wanken und oft dem Irrtum verfallen. Das Leben der biblischen Gestalten liegt mit allen Fehlern und Torheiten offen vor uns - sowohl zur Ermutigung als auch zur Warnung. Wäre es ohne Schwächen dargestellt worden, müssten wir mit unserer sündigen Natur wegen unseren Fehlern und unserem Versagen verzweifeln. Aber wenn wir erfahren, wie sich andere durch Schwierigkeiten kämpften, die den unseren ähneln, und wenn wir sehen, wo sie in Versuchung nachgaben, wie uns das auch widerfährt, und wenn sie doch wieder Mut fassten und durch Gottes Gnade zu Überwindern wurden, dann ermutigt uns das in unserem Ringen um Rechtschaffenheit. So wie sie nach Rückschlägen doch wieder Boden unter ihren Füßen gewannen und von Gott gesegnet wurden, können auch wir in der Stärke von Jesus Überwinder werden. Andererseits kann uns ihre Lebensgeschichte zur Warnung dienen. Sie zeigt, dass Gott Sünde nicht "ungestraft lässt" (2. Mose 34,7). Er bemerkt die Sünde auch bei denen, die besonders bevorzugt wurden, und verfährt mit ihnen noch strenger als mit denen, die weniger Licht und Verantwortung erhielten.

Die Schuld Der Brüder Wird Vergeben

Nachdem Jakob begraben worden war, begannen sich Josefs Brüder erneut zu fürchten. Obwohl Josef freundlich zu ihnen war, machte sie ihr Schuldbewusstsein argwöhnisch und misstrauisch. Es konnte ja sein, dass er seine Rache aus Rücksicht auf den Vater nur aufgeschoben hatte und nun die lange zurückgehaltene Strafe für ihr Verbrechen vollziehen würde. Sie wagten nicht, persönlich vor ihm zu erscheinen, sondern sandten ihm eine Botschaft: "Bevor dein Vater starb, wies er uns an, dir zu sagen: ›Deine Brüder haben dir übel mitgespielt. Vergib ihnen doch das große Unrecht von damals.‹ Deshalb bitten wir dich, uns zu vergeben. Wir dienen doch demselben Gott wie unser Vater." (1. Mose 50,16.17 NLB) Diese Botschaft rührte Josef zu Tränen. Dadurch ermutigt, gingen die Brüder zu ihm und fielen vor ihm nieder mit den Worten: "Wir sind deine Diener." (1. Mose 50,18 NLB) Josef empfand eine tiefe und selbstlose Liebe zu seinen Brüdern. Der Gedanke, dass sie in ihm Rachsucht vermuteten, schmerzte ihn. "Bin ich etwa an Gottes Stelle? Was mich betrifft, hat Gott alles Böse, das ihr geplant habt, zum Guten gewendet. Auf diese Weise wollte er das Leben vieler Menschen retten. Habt also keine Angst. Ich selbst will für euch und eure Familien sorgen." (1. Mose 50,19-21 NLB)

Josefs Leben Als Vorschau Auf Jesus

Josefs Leben ist eine Vorschau auf Christus. Aus Neid verkauften ihn seine Brüder als Sklaven. Dadurch wollten sie verhindern, dass er größer würde als sie. Als er dann nach Ägypten verschleppt war, bildeten sie sich ein, er könne sie mit seinen Träumen nun nicht mehr beunruhigen. Sie meinten, alles getan zu haben, damit sich diese niemals erfüllen. Aber Gott durchkreuzte ihre Pläne und ließ genau das, was sie verhindern wollten, Wirklichkeit werden. In ähnlicher Weise waren die jüdischen Priester und Ältesten auf Christus eifersüchtig, weil sie befürchteten, er werde das Volk von ihnen abwenden und auf seine Seite ziehen. Sie verurteilten ihn zum Tod, um zu verhindern, dass er König wurde. Aber genau das haben sie damit erreicht!

Durch sein Sklavendasein in Ägypten wurde Josef zum Retter der Familie seines Vaters. Doch das verringerte keineswegs die Schuld seiner Brüder. In ähnlicher Weise machte die Tatsache, dass Christus von seinen Feinden gekreuzigt wurde, ihn zum Erlöser der in Sünde gefallenen Menschheit und zum Herrscher über die ganze Welt. Dennoch blieb das Verbrechen seiner Mörder verabscheuungswürdig, auch wenn Gottes Vorsehung die Ereignisse zu seinem Ruhm und zum Heil der Menschen gelenkt hatte.

Wie die eigenen Brüder Josef an Heiden verkauften, verkaufte einer der Jünger Christus an seine bittersten Feinde. Wie Josef fälschlicherweise angeklagt und wegen seiner Tugendhaftigkeit ins Gefängnis geworfen wurde, verachtete und verwarf man Christus, weil dessen rechtschaffenes, selbstloses Leben die Sünden anprangerte. Obschon er nichts Böses getan hatte, wurde er verurteilt, weil falsche Zeugen gegen ihn ausgesagt hatten. Josefs Geduld und Sanftmut, auch wenn er ungerecht behandelt und unterdrückt wurde, seine Vergebungsbereitschaft und edle Großzügigkeit gegenüber dem unmenschlichen Verhalten seiner Brüder stellen dar, wie der Erlöser die Bosheit und Misshandlungen gottloser Menschen ohne zu klagen erduldete. Er vergab nicht nur seinen Mördern, sondern auch allen, die ihm ihre Sünden bekannt und um Vergebung gebeten hatten.

Josefs Lebensende

Josef überlebte seinen Vater um 54 Jahre. "Er erlebte noch die Enkel seines Sohnes Ephraim und die Kinder von Manasses Sohn Machir, die er behandelte, als wären sie seine eigenen." (1. Mose 50,23 NLB) Er erlebte das Wachstum und den Wohlstand seines Volkes. Und in all den Jahren hielt er an seinem Glauben fest, dass Gott Israel in das Land zurückführen werde, das er seinen Vorfahren versprochen hatte.

Als er spürte, dass sich sein Ende nahte, ließ er seine Angehörigen zu sich rufen. So sehr er auch im Land der Pharaonen geehrt worden war, war Ägypten für ihn doch nur das Land seiner Verbannung. Deshalb sollte seine letzte Handlung bezeugen, dass er zu Israel gehörte. Er sagte: "Gott wird euch ganz bestimmt aus diesem Land führen. Er wird euch in das Land zurückbringen, das er Abraham, Isaak und Jakob mit einem Eid versprochen hat." (1. Mose 50,24 NLB) Dann nahm er den Kindern Israel einen feierlichen Eid ab, dass sie seine Gebeine ins Land Kanaan überführen werden. "Josef starb im Alter von 110 Jahren. Er wurde einbalsamiert und in Ägypten in einen Sarg gelegt." (1. Mose 50,26 NLB) In den folgenden Jahrhunderten mühevoller Arbeit war dieser Sarg für sie eine Erinnerung an Josefs letzte Worte. Er machte ihnen immer wieder bewusst, dass sie nur Gäste in Ägypten waren, und richtete ihre Hoffnung auf das verheißene Land, denn die Zeit der Befreiung würde gewiss kommen.