Aus der Schatzkammer der Zeugnisse -- Band 1

Kapitel 27

Eltern und Kinder

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Ich erkannte, daß gottesfürchtige Eltern, ehe sie ihren Kindern etwas vorenthalten, versuchen sollten, eingehend deren Neigungen und Veranlagungen kennenzulernen und deren Bedürfnissen gerecht zu werden. Manche Eltern sorgen trefflich für die zeitlichen Bedürfnisse ihrer Kinder. Mit Güte und Ausdauer pflegen sie diese in Krankheitstagen und meinen, damit ihre Aufgabe erfüllt zu haben. Darin irren sie jedoch, denn hier erst beginnt ihre eigentliche Arbeit. Die Bedürfnisse des Herzens müssen in gleicher Weise umhegt und umsorgt werden. Es erfordert viel Geschicklichkeit, um die geeigneten Mittel für die Gesundung eines verwundeten Herzens zu finden.

Kinder haben ebenso schwere und ebenso schmerzlich geartete Prüfungen zu ertragen wie ältere Menschen. Auch die Eltern befinden sich nicht zu jeder Zeit in der gleichen wohlausgewogenen Stimmung. Oftmals wissen sie nicht, wo ihnen der Kopf steht. Sie leiden unter mißverstandenen Ansichten und Empfindungen, werden von Satan bekämpft und erliegen schließlich seinen Versuchungen. Sie sprechen gereizt und in einer Art, die den Unwillen ihrer Kinder hervorruft. Mitunter geben sie sich auch mürrisch und ungehalten. Dieser Geist überträgt sich dann auf die bedauernswerten Kinder. Die Eltern aber sind nicht in der Lage, den Kindern zu helfen, weil sie selbst diese Schwierigkeiten verursachen. Manchmal scheint alles verkehrt zu gehen. Überall begegnet man Verdruß, und alle sind unglücklich und mißgestimmt. Die Eltern machen ihre Kinder dafür verantwortlich und halten sie für sehr ungezogen und widerspenstig, für die ungehorsamsten Kinder der Welt; dabei sind sie selbst die Ursache dieser Widerwärtigkeiten.

Viele Eltern beschwören durch ihre mangelnde Selbstbeherrschung manches Unwetter herauf. Statt ihre Kinder freundlich zu bitten, dies oder jenes zu tun, befehlen sie es ihnen in einem scheltenden Ton, haben aber zur gleichen Zeit auch schon Kritik und Tadel auf ihren Lippen, ohne daß die Kinder derartiges verdient hätten. Eltern, wenn ihr in dieser Weise mit euren Kindern verfahrt, zerstört ihr deren Frohsinn und Schaffensgeist. Sie folgen zwar euren Anordnungen, aber nicht aus Liebe, sondern weil sie nicht wagen, anders zu handeln. Mit dem Herzen sind sie jedoch nicht bei der Sache. Es ist für sie eine Plackerei und kein Vergnügen, und daher kommt es, daß sie oftmals vergessen, allen euren Anweisungen zu folgen. Das erhöht noch eure Erregung, und darum wird es für die Kinder nur noch schlimmer. Ihr tadelt sie von neuem und haltet ihnen ihr schlechtes Benehmen in den grellsten Farben vor Augen, bis sie schließlich entmutigt werden und sich nichts mehr daraus machen, ob sie gefallen oder nicht. Sie lassen sich schließlich nur noch von dem Gedanken leiten: "Es ist mir alles egal!" und suchen außerhalb des Heimes, fern von ihren Eltern, Vergnügungen und Freude, die sie zu Hause nicht finden. Sie mischen sich unter die Gassenjugend und sind bald ebenso verdorben wie die schlechtesten unter diesen.

Voraussetzungen der Kindererziehung

Auf wem ruht die Verantwortung für dieses bedauerliche Verhalten? Hätten die Eltern nur das Heim anziehend gestaltet, ihren Kindern Zuneigung bewiesen, ihnen in freundlicher Weise eine Beschäftigung gegeben und sie liebevoll belehrt, wie sie den Wünschen der Eltern gehorchen können, so würde dies in ihren Herzen ein starkes Echo gefunden haben. Füße, Hände und Herzen würden bereitwilligst gehorchen. Die Eltern vermögen durch Selbstbeherrschung, gütliches Zureden und ein rechtes Lob zu der Zeit, da die Kinder es verdient haben, ihre Kinder in allen Lebenslagen zu ermutigen und sie sehr glücklich zu machen. Über dem Familienkreis läge dann jene innere Ausgewogenheit, die jeden dunklen Schatten vertriebe und heiteren Sonnenschein einließe.

Eltern entschuldigen mitunter ihre falsche Handlungsweise damit, daß sie sich nicht wohlfühlten. Sie sind nervös und meinen, sie können nicht geduldig und ruhig bleiben und freundlich sprechen. Darin täuschen sie sich jedoch selbst und tun Satan einen Gefallen, der darüber frohlockt, daß sie die Gnade Gottes nicht für ausreichend erachten, um durch sie die natürlichen Schwächen zu überwinden. Sie können und sollen sich aber jederzeit in der Gewalt haben. Gott fordert es von ihnen. Sie sollten einsehen, daß sie anderen Menschen Leid zufügen, wenn sie ungeduldig und reizbar auftreten, denn ihre Mitmenschen werden von ihrer wenig vorbildlichen Lebenshaltung in Mitleidenschaft gezogen. Wenn diese wiederum in ihren Handlungen den gleichen Geist offenbarten, vergrößerte sich das Übel und schließlich endete alles verkehrt.

Eltern, solltet ihr einmal verärgert sein, dann begeht nicht ein so großes Unrecht, daß ihr die ganze Familie mit eurer gefährlichen Reizbarkeit vergiftet. Bei solchen Gelegenheiten müßt ihr doppelt auf der Hut sein und euch in eurem Herzen vornehmen, mit euren Lippen kein Ärgernis zu geben, sondern nur freundliche und angenehme Worte zu sprechen. Sagt euch selbst: "Ich will die Freude meiner Kinder nicht durch ärgerliche Worte beeinträchtigen." Durch solche Selbstkontrolle gewinnt ihr an Festigkeit. Eure Nerven verlieren ihre Empfindlichkeit, und durch das Beachten der Rechtsgrundsätze werdet ihr gestärkt. Das Bewußtsein, treulich eurer Aufgabe zu genügen, verleiht euch Kraft. Die Engel Gottes blicken wohlgefällig auf eure Bemühungen und helfen euch.

Wenn ihr unwillig seid, sucht ihr die Ursache dafür viel zu oft bei euren Kindern; ihr tadelt sie, obgleich sie es nicht verdienen. Zu anderer Zeit hätten sie vielleicht die gleichen Dinge tun können und alles wäre recht und in Ordnung gewesen. Kinder erkennen und empfinden diese schwankende Haltung der Eltern. Auch ihre Gemütsverfassung ist nicht immer gleichbleibend. Zeitweise sind sie einigermaßen auf diese wechselhaften Stimmungen eingestellt, doch manchmal sind auch sie nervös und ärgerlich und können keinen Tadel vertragen. Ihr Inneres lehnt sich dagegen auf. Die Eltern erwarten, daß ihrer seelischen Verfassung mit der schuldigen Nachsicht begegnet werde. Sie erkennen aber längst nicht immer die Notwendigkeit, ihren bedauernswerten Kindern die gleichen Rücksichten einzuräumen. Was sie an ihren Kindern schärfstens rügten, entschuldigen sie bei sich selbst, ohne zu bedenken, daß ihre Kinder keine jahrelange Erfahrung und Erziehung aufweisen können, wie sie sie hinter sich haben.

Manche Eltern sind nervös veranlagt. Wenn sie schließlich vor Arbeit und Sorge müde und bedrückt sind, verlieren sie die Ruhe und begegnen denen, die ihnen die Liebsten auf Erden sein sollten, verdrießlich und ohne Selbstbeherrschung. Diese Haltung überschattet das ganze Familienleben und mißfällt Gott. Man darf Kinder in ihren Nöten öfter einmal mit schonendem Verstehen besänftigen. Gegenseitige Güte und Rücksichtnahme ziehen heilige Engel in den Familienkreis und lassen das Heim zu einem Hort der Ruhe und des Friedens werden.

Eine Mutter kann und muß viel für die Beherrschung ihrer Nerven und ihrer Launen tun, wenn sie in gedrückter Stimmung ist. Selbst im Krankheitsfall kann sie, wenn sie auf sich achtet, freundlich und heiter sein und mehr Lärm vertragen, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Sie darf den Kindern keinen Anlaß bieten, daß diese unter ihren menschlichen Schwächen leiden und deren junge empfindsame Seelen durch ihre gedrückte Stimmung getrübt werden. In diesem Fall erreichte sie nur, daß die Kinder das Haus wie ein Grab und Mutters Zimmer wie den unheimlichsten Ort auf Erden empfinden. Durch Willensübung gewinnen Nerven und Gemüt neue Stärke und Spannkraft. In vielen Fällen ist Willenskraft ein wirksames Linderungsmittel für reizbare Nerven.

Eine bedeutsame Zeit für Kinder

Zeigt euren Kindern kein finsteres Gesicht. Wenn sie einer Versuchung erliegen, darauf aber ihren Fehler einsehen und bereuen, dann vergebt ihnen ebenso bereitwillig, wie ihr von eurem himmlischen Vater Vergebung zu erlangen hofft. Unterweist sie freundlich und zieht sie an euer Herz; denn sie durchleben eine kritische Zeit. Sie werden Einflüssen ausgesetzt, die sie euch entfremden und denen ihr darum entgegenwirken müßt. Zeigt ihnen, daß sie euch vertrauen, daß sie ihre Leiden und Freuden euch bereitwillig mitteilen können. Wenn ihr sie dazu ermutigt, werdet ihr sie vor manch einer Schlinge Satans bewahren können, die er ihren unerfahrenen Füßen gelegt hat. Behandelt eure Kinder nicht nur mit Strenge, als hättet ihr eure eigene Kindheit vergessen und auch übersehen, daß sie ja noch Kinder sind. Erwartet von ihnen nicht, daß sie vollkommen seien, und versucht auch nicht, hinsichtlich ihres Verhaltens gleich Männer und Frauen aus ihnen zu machen. Auf diese Weise verschließt ihr den Zugang, den ihr andernfalls zu ihnen hättet, und treibt sie dazu, schädlichen Einflüssen Tür und Tor zu öffnen und anderen Gelegenheit zu geben, ihre jungen Herzen zu vergiften, noch ehe ihr die Gefahr erkennt, in der sie sich befinden.

Satan und seine Heerscharen unternehmen die größten Anstrengungen, um die Herzen der Kinder zu beherrschen. Kinder müssen mit Offenheit, Liebe und christlichem Zartgefühl behandelt werden. Dadurch gewinnt ihr auf sie starken Einfluß, und sie werden spüren, daß sie zu euch unbegrenztes Vertrauen haben können. Umgebt eure Kinder mit der Geborgenheit eines wirklichen Heimes und leistet ihnen Gesellschaft. Wenn ihr dies tut, werden sie auch nicht mehr so sehr nach der Gesellschaft ihrer Altersgenossen verlangen. Satan wirkt durch diese und verleitet sie dazu, sich gegenseitig zu beeinflussen und zu verderben. Auf diese Weise kann er am wirkungsvollsten arbeiten. Die Jugend übt aufeinander einen mächtigen Einfluß aus. Die Themen ihrer Unterhaltungen sind nicht immer sehr gewählt und erhebend. Man flüstert sich üble Dinge zu, die sich im Herzen festsetzen, Wurzeln schlagen, aufgehen und Frucht bringen und dadurch die guten Sitten verderben, wenn sie nicht entschieden zurückgewiesen werden. Infolge der Übel, die in der Welt herrschen, und der Beschränkung, die den Kindern notwendigerweise auferlegt werden muß, sollten die Eltern mit doppelter Sorgfalt darauf bedacht sein, die Kinder an ihr Herz zu nehmen und sie spüren zu lassen, daß sie sie glücklich machen wollen.

Verständnisvolle Eltern

Eltern sollten nicht ihre eigenen Kinderjahre vergessen, in denen sie sich nach Mitempfinden und Liebe gesehnt haben und in denen sie unglücklich waren, wenn sie getadelt und ärgerlich gescholten wurden. Ihre Herzen sollten wieder jung werden und sich ihrer Kinder annehmen, damit sie den Wünschen der Kinder verständnisvoll begegnen können. Mit liebevoller Bestimmtheit müssen sie von ihren Kindern Gehorsam verlangen. Den Anordnungen der Eltern müssen die Kinder unbedingt nachkommen.

Engel Gottes beobachten mit größtem Interesse die Charakterentwicklung der Kinder. Wenn Christus uns so behandelte, wie wir oft miteinander und mit unseren Kindern umgehen, strauchelten und fielen wir vor äußerster Mutlosigkeit. Im Geist schaute ich, daß Jesus unsere Schwächen kennt und außer der Sünde alle unsere Erfahrungen geteilt hat. Darum hat er für uns einen Weg bereitet, der unserer Kraft und unserer Fähigkeit angemessen ist. Gleichwie Jakob mit den Kindern bedachtsam und gelassen dahinschritt, so wie sie es ertragen konnten, so möchte uns auch Jesus durch seine immerwährende Gegenwart voranbringen und uns ein beständiger Führer sein. Er verachtet und vernachlässigt nicht die Kinder der Herde und läßt sie auch nicht zurück. Er hat uns nicht geheißen, vorwärts zu eilen und sie im Stich zu lassen. Er pilgerte nicht so rasch, daß wir mit unseren Kindern nicht hätten folgen können. O nein, er hat den Weg zum Leben geebnet, sogar für Kinder. In seinem Namen werden die Eltern aufgefordert, ihre Kinder diesen schmalen Weg zu führen. Gott hat für uns einen Weg bestimmt, der auch den Kräften und Fähigkeiten der Kinder angepaßt ist.

Es lohnt sich, im Umgang mit euren Kindern liebevoll zu sein. Stoßt sie nicht durch Interesselosigkeit an ihren kindlichen Spielen, Freuden und Kümmernissen zurück. Niemals solltet ihr mit gerunzelter Stirn finster dreinblicken. Laßt nie barsche Worte euren Lippen entschlüpfen! Gott bewahrt alle eure Gespräche. Harte Worte verbittern den Charakter und verwunden die Herzen der Kinder. In manchen Fällen sind diese Wunden nur schwer wieder heilbar, denn Kinder sind gegenüber der leisesten Ungerechtigkeit sehr empfindlich. Manche werden dadurch so entmutigt, daß sie weder auf laute, zornige Befehle achten noch sich um Strafandrohungen kümmern. Durch falsche Erziehungsmethoden der Eltern wird in den Herzen der Kinder nur zu häufig Auflehnung heraufbeschworen. Wenn sie jedoch einen geeigneten Weg einschlügen, entwickelten die Kinder gute und ausgeglichene Charaktere. Eine Mutter, die sich selbst nicht vollkommen beherrschen kann, ist für die Erziehung der Kinder ungeeignet. Testimonies for the Church III, 532.533 (1875).

Überwindet eure Neigung, mit eurem Sohn zu streng zu verfahren, damit ihm nicht etwa durch oftmaligen Tadel eure Anwesenheit unerträglich und eure Ratschläge verhaßt werden. Zieht ihn nicht durch falsche Nachgiebigkeit an euer Herz, sondern durch die zarten Bande der Liebe. Tretet ihm freundlich aber bestimmt gegenüber. Christus muß euer Beistand sein. Die Liebe ist das Mittel, um andere Herzen zu gewinnen. Euer Einfluß kann eure Kinder auf dem rechten Weg bestärken.

Ich habe euch vor Tadelsucht gewarnt und möchte euch wiederum vor diesem Fehler warnen. Christus tadelte zuweilen mit Strenge, und in manchen Fällen mag es auch für uns notwendig erscheinen, das gleiche zu tun. Wir sollten aber berücksichtigen, daß Christus die seelische Verfassung jener Zurechtgewiesenen genau kannte, und nicht nur das Maß des Tadels wußte, das sie vertragen konnten, sondern auch das, was erforderlich war, um ihre falsche Lebenshaltung zu berichtigen. Er hatte die rechte Art, sich der Irrenden zu erbarmen, die Unglücklichen zu trösten und die Schwachen zu ermutigen. Er kannte den Weg, um Menschen vor Verzagtheit zu schützen und sie mit Hoffnung zu erfüllen, weil er mit den wirklichen Antriebskräften und den besonderen Anfechtungen jedes Menschen vertraut war. Ihm konnte kein Fehler unterlaufen. Testimonies for the Church IV, 66 (1876).