Aus der Schatzkammer der Zeugnisse -- Band 1

Kapitel 102

Das Verhältnis der Gläubigen zueinander

[AUDIO]

Jeder Mensch, der danach strebt, zu überwinden, wird mit seinen eigenen Schwachheiten zu kämpfen haben. Es ist für Menschen um vieles leichter, die Fehler ihrer Mitgeschwister zu sehen als ihre eigenen, so daß sie viel aufmerksamer und kritischer mit sich selbst als mit anderen Menschen ins Gericht gehen sollten.

Alle Gemeindeglieder müssen sich, wenn sie Gottes Kinder sind, einem Erziehungsprozeß unterwerfen, ehe sie der Welt ein Licht sein können. Gott wird Männer und Frauen nicht zu Lichtträgern machen, solange sie in Finsternis leben, zufrieden darin verharren und sich nicht wesentlich bemühen, mit der Quelle des Lichts in Verbindung zu kommen. Wer seine Bedürftigkeit fühlt und sich zu tiefstem Nachdenken, zu ernstesten, beharrlichem Gebet und ebensolcher Tätigkeit aufschwingt, wird göttliche Hilfe empfangen. Jeder hat im Hinblick auf sich selbst viel zu verlernen. Alte Gewohnheiten und Sitten müssen abgelegt werden. Nur durch ernstes Ringen können diese Schwächen überwunden werden. Um den Sieg zu erringen, müssen wir die Wahrheit völlig annehmen und durch Gottes Gnade ihre Grundsätze durchführen.

Ich wünschte, ich könnte die Worte finden, die uns allen einprägen, daß unsere einzige Hoffnung als Menschen in der Verbindung mit Gott besteht. Wir müssen geläutert und unsere Herzen noch mehr erforscht werden. Viel Widerspenstigkeit und Selbstsucht sind zu überwinden, und dazu ist ernstes Beten nötig.

Gemütsruhe und Selbstbeherrschung

Männer, die hart und streng sind, entschuldigen sich oft oder versuchen ihren Mangel an christlicher Zuvorkommenheit damit zu rechtfertigen, daß auch einige der Reformatoren in einem solchen Geist gewirkt hätten. Sie behaupten, daß das Werk Gottes für diese Zeit den gleichen Geist erfordere; doch das ist nicht der Fall. Ein ruhiger und völlig beherrschter Geist ist in jeder Lage nützlicher, selbst in der rauhesten Gesellschaft. Ungestümer Eifer nützt keinem. Gott erwählte die Reformatoren nicht, weil sie herrische, leidenschaftliche Männer waren, sondern er berief sie trotz dieser Charakterzüge, so wie sie waren. Er würde ihnen jedoch eine zehnmal größere Verantwortung auferlegt haben, wenn sie demütig gewesen wären und ihren Geist der Herrschaft der Vernunft unterworfen hätten. Während Christi Diener Sünde und Gottlosigkeit, Unsittlichkeit und Falschheit anklagen müssen und manchmal dazu berufen sind, ungerechtes Handeln unter Hohen und Niedrigen zu tadeln, indem sie ihnen zeigen, daß Gottes Zorn über die Gesetzesübertreter kommen wird, dürfen sie doch nicht anmaßend und herrschsüchtig sein. Für sie gilt, freundlich und liebevoll zu sein und einen Geist zu offenbaren, der lieber errettet als vernichtet.

Des Herrn Langmut lehrt Prediger und Gemeindeglieder, die danach trachten, Mitarbeiter Christi zu sein, unmißverständlich Geduld und Liebe. Christus zog Judas und den ungestümen Petrus an sich, nicht weil Judas habgierig und Petrus leidenschaftlich war, sondern damit sie von ihm, ihrem großen Lehrer, lernen sollten, gleichwie er selbstlos, demütig und von Herzen sanftmütig zu werden. In beiden Männern sah er bildsames Material. Judas besaß ohne Zweifel kaufmännische Fähigkeiten, und er hätte der Gemeinde nützen können, wäre er den Lehren nachgegangen, die Christus gab, da er alle Selbstsucht, allen Betrug und Geiz tadelte, selbst in den kleinen Dingen des Lebens. Dies waren oft wiederholte Lehren: "Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; und wer im Geringsten unrecht ist, der ist auch im Großen unrecht." Lukas 16,10.

Strikte Rechtschaffenheit

Unser Heiland suchte seinen Hörern einzuprägen, daß ein Mensch, der seinen Nachbarn in geringfügigen Dingen übervorteilt, dies auch in größeren Angelegenheiten täte. Das geringste Abweichen von strengster Redlichkeit reißt die Schranken nieder und veranlaßt das Herz, größere Ungerechtigkeiten zu begehen. Durch Unterweisungen und durch sein beispielhaftes Verhalten lehrte Christus, daß strikteste Lauterkeit für den Umgang mit unseren Mitmenschen kennzeichnend sein muß. "Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch." Matthäus 7,12. Christus schilderte ständig das unvollkommene Leben der Pharisäer und tadelte sie. Angeblich erfüllten sie Gottes Gesetz, doch in ihrem täglichen Handeln verhielten sie sich ungerecht. Viele Witwen und Waisen wurden ihrer geringen Habe beraubt, alles nur, um ihre Habgier zu befriedigen.

Judas hätte aus all diesen Lehren Nutzen ziehen können, wenn er von dem Verlangen beseelt gewesen wäre, rechtschaffenen Herzens zu sein. Seine Habgier überwältigte ihn jedoch, und die Liebe zum Geld wurde zur herrschenden Macht. Er trug den Beutel, der die Mittel zur Förderung des Werkes Christi enthielt. Ab und zu entnahm er kleine Beträge für seinen eigenen Bedarf. Sein selbstsüchtiges Herz grollte über Marias Gabe, als sie das Gefäß mit köstlicher Salbe brachte. Er schalt sie wegen ihrer Unklugheit. Statt Schüler zu sein, erhob er sich auf diese Weise zum Lehrer und wollte unseren Herrn über die Schicklichkeit von Marias Handlungsweise belehren.

Diese beiden Männer hatten in gleicher Weise die Gelegenheit und den Vorzug, die ständigen Unterweisungen Christi zu hören und sein beispielhaftes Leben vor Augen zu haben, um ihre sündhaften Charakterzüge zu bessern. Während sie seine scharfen Tadel und öffentlichen Anklagen gegen Heuchelei und Verderbtheit hörten, erkannten sie, daß gerade denen, die in so furchtbarer Weise angeklagt waren, sein besorgtes und unermüdliches Wirken zu ihrer Besserung galt. Der Heiland weinte über ihre Unwissenheit und Irrtümer. Er klagte in grenzenloser Liebe und in unendlichem Erbarmen über sie und rief aus, Jerusalem zugewandt: "Wie oft habe ich wollen deine Kinder versammeln, ... und ihr habt nicht gewollt!" Lukas 13,34.

Die Langmut Jesu

Petrus war behende und eifrig in seinem Tun, unerschrocken und unnachgiebig. Christus sah in ihm Eigenschaften von großem Wert für die Gemeinde. Aus diesem Grunde nahm er Petrus zu sich, damit alles, was gut und wertvoll war, bewahrt werde. Christus wollte durch seine Lehren und sein Beispiel alles Harte im Wesen des Petrus dämpfen und alles Schroffe in seinem Verhalten mildern. Wenn das Herz wirklich durch göttliche Gnade umgestaltet wird, muß man das an echter Freundlichkeit, Teilnahme und Höflichkeit auch nach außen hin feststellen können. Jesus war niemals kalt und unnahbar. Die Betrübten unterbrachen oft seine Einsamkeit, wenn er der Erholung und Ruhe bedurfte; aber er fand für alle einen freundlichen Blick und ein ermutigendes Wort. Er war ein Vorbild wirklicher Zuvorkommenheit. Petrus verleugnete seinen Herrn, bereute es später und wurde wegen seiner schweren Sünde zutiefst gedemütigt. Christus aber vergab seinem irrenden Jünger, indem er nach seiner Auferstehung seinen Namen besonders erwähnte.

Judas ergab sich den Versuchungen Satans und verriet seinen besten Freund. Petrus lernte und zog Nutzen aus den Lehren Christi und führte das Werk der Erneuerung weiter, das Christus bei seiner Himmelfahrt seinen Jüngern hinterlassen hatte. Diese beiden Männer stellen die zwei Klassen dar, die Christus mit sich verbindet, denen er den Nutzen seiner Lehren und das Beispiel seines selbstlosen Lebens gewährt, damit sie von ihm lernen.

Je mehr ein Mensch auf seinen Heiland blickt und mit ihm vertraut wird, desto mehr wird er seinem Bilde ähnlich werden und die Werke Christi wirken. Die Zeit, in der wir leben, erfordert umgestaltende Taten. Das Licht der Wahrheit, das uns leuchtet, erfordert Männer von entschiedener Tatkraft und echter sittlicher Würde, Männer, die fleißig und beharrlich an der Rettung aller Menschen arbeiten, die die Einladung des Geistes Gottes vernehmen werden.

Die Liebe, die in der Gemeinde herrschen sollte, weicht häufig der Kritik und Tadelsucht. Diese machen sich sogar in Gemeindestunden bemerkbar und treten in lieblosen Bemerkungen und ernsten persönlichen Angriffen zutage. Solche Auswüchse sollten weder von Predigern und Ältesten noch von Gemeindegliedern begünstigt werden. Bei allen Zusammenkünften haben wir das Augenmerk allein auf die Ehre Gottes zu richten. Kommen Menschen mit ihren verschiedenartigen Charakterzügen in der Gemeinde zusammen, so wird der Gemeinde geschadet und ihr Friede und ihre Harmonie der Nachsicht gegenüber diesen selbstsüchtigen, ungeheiligten Charakterzügen geopfert, wenn nicht die göttliche Wahrheit die scharfen Kanten des Charakters glättet und dämpft. Viele versäumen über ihrem gespannten Lauern, Fehler ihrer Mitgeschwister zu entdecken, ihr eigenes Herz zu erforschen und ihr eigenes Leben zu läutern. Diese Handlungsweise erregt Gottes Mißfallen. Die einzelnen Geschwister sollten sich selbst eifersüchtig beobachten und ihre eigenen Handlungen kritisch beleuchten, damit sie nicht aus selbstsüchtigen Gründen handeln und so für ihre schwachen Geschwister zum Stein des Anstoßes werden.

Gott nimmt die Menschen wie sie sind, in ihrer ganzen menschlichen Eigenart, und dann schult er sie für seinen Dienst, wenn sie bereit sind, sich formen zu lassen und von ihm zu lernen. Das Gefühl der Bitterkeit, des Neides und Mißtrauens, des Argwohns und selbst des Hasses, das in den Herzen einiger Gläubiger wurzelt, ist ein Werk Satans. Solche Elemente beeinflussen die Gemeinde in verderblicher Weise. "Wisset ihr nicht, daß ein wenig Sauerteig den ganzen Teig versäuert?" 1.Korinther 5,6. Religiöser Eifer, der sich in Angriffen auf seine Mitgeschwister Luft macht, ist ein Eifern mit Unverstand. Mit einem solchen Zeugnis hat Christus nichts zu tun.