Aus der Schatzkammer der Zeugnisse -- Band 2

Kapitel 36

Liebe zu den Irrenden

[AUDIO]

Christus kam, damit jeder Erlösung finden kann. Am Kreuz von Golgatha bezahlte er den unermeßlichen Preis zur Erlösung einer verlorenen Welt. Seine Selbstverleugnung und Selbsthingabe, sein selbstloses Wirken, seine Demütigung, aber vor allem die Dahingabe seines Lebens bezeugen die Tiefe seiner Liebe zu den gefallenen Menschen. Er kam auf die Erde, um zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. Sein Dienst gilt Sündern -- allen Sündern jeder Sprache und jeden Landes. Für sie alle bezahlte er den Preis, um sie zu erlösen und sie in Gemeinschaft und Übereinstimmung mit sich zu bringen. An denen, die am weitesten abgeirrt waren, die am schwersten sündigten, ging er nicht vorüber; sein Bemühen galt besonders denen, die der Erlösung, die er zu bringen gekommen war, am dringendsten bedurften. Je mehr sie eine Umgestaltung nötig hatten, desto mehr Aufmerksamkeit, Mitgefühl und ernste Arbeit wandte er auf. Sein liebegroßes Herz wurde bis in die Tiefen für Menschen bewegt, deren Zustand am hoffnungslosesten war und die seiner rettenden Gnade am meisten bedurften.

Das Gleichnis vom verlorenen Schaf stellt die wunderbare Liebe Christi für Menschen dar, die vom rechten Wege abgeirrt sind. Er will nicht nur bei denen bleiben, die seine Erlösung annehmen, und auf sie all sein Bemühen verwenden, um ihre Dankbarkeit und Liebe zu ernten. Der wahre Hirte verläßt die Herde, die an ihm hängt, und geht hinaus in die Wüste; er nimmt Mühsal, Gefahr und Tod auf sich, um das Schaf zu suchen und zu retten, das sich von der Herde entfernt hat und umkommen muß, wenn es nicht zurückgebracht wird. Wenn der Hirte das Verlorene nach gründlichem Suchen gefunden hat, überläßt er es trotz Ermüdung, trotz Schmerzen und Hunger nicht dem Schaf, ihm zu folgen; er treibt es auch nicht vor sich her, sondern -- o wunderbare Liebe! -- nimmt es zärtlich in seine Arme, legt es auf seine Schulter und trägt es zur Herde zurück. Dann ruft er seine Nachbarn zusammen, daß sie sich mit ihm freuen, weil das Verlorene gefunden ist.

Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn und vom verlorenen Groschen enthalten dieselbe Lehre. Jede Seele, die in Versuchung fällt und dadurch besonders gefährdet ist, verursacht dem Herzen Christi Schmerzen und weckt sein zärtlichstes Mitgefühl und ernsteste Arbeit. Seine Freude über einen Sünder, der sich bekehrt, ist größer als über neunundneunzig, die der Buße nicht bedürfen.

Diese Lehren sollen uns helfen. Christus machte es seinen Jüngern zur Pflicht, für ihn in seinem Werk zu arbeiten und sich untereinander so zu lieben, wie er sie geliebt hat. Seine Kreuzespein ist ein Beweis für den Wert, den er der menschlichen Seele beimißt. Wer diese umfassende Erlösung annimmt, verpflichtet sich, für ihn zu wirken. Niemand darf sich für einen besonderen Günstling des Himmels halten und sein Interesse und seine Aufmerksamkeit auf sich selbst richten. Wer in den Dienst Christi getreten ist, soll in seinem Sinne wirken und die in Unwissenheit und Sünde lebenden Mitmenschen so lieben, wie Christus sie liebt.

Mitfühlendes Bemühen für Irrende

Aber unter uns besteht ein Mangel an tiefer, ernster und herzlicher Teilnahme und Liebe für versuchte und irrende Menschen. Viele haben eine große Kälte und sündhafte Nachlässigkeit an den Tag gelegt; Jesus hat es als Vorübergehen auf der andern Straßenseite bezeichnet, wenn jemand sich von denen, die der Hilfe am meisten bedürfen, möglichst fernhält. Die neubekehrte Seele hat oft schwer gegen eingewurzelte Gewohnheiten oder bestimmte Versuchungen zu kämpfen. Wenn sie einer herrschenden Leidenschaft oder Neigung erliegt, macht sie sich einer Unbesonnenheit oder eines tatsächlichen Unrechts schuldig. Gerade dann sind Tatkraft, Takt und Weisheit seitens ihrer Brüder nötig, um sie wieder geistlich gesunden zu lassen. Auf solche Fälle beziehen sich die Unterweisungen des Wortes Gottes: "Liebe Brüder, so ein Mensch etwa von einem Fehler übereilt würde, so helfet ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist ihr, die ihr geistlich seid und siehe auf dich selbst, daß du nicht auch versucht werdest." Galater 6,1. "Wir aber, die wir stark sind, sollen der Schwachen Gebrechlichkeit tragen und nicht Gefallen an uns selber haben." Römer 15,1.

Aber wie wenig legen Christi angebliche Nachfolger das liebevolle Mitgefühl des Heilandes an den Tag! Fehlt jemand, so nehmen sich andere nur zu oft die Freiheit, den Vorfall so schlimm wie möglich darzustellen. Leute, die vielleicht ebenso großer Sünden auf anderem Gebiet schuldig sind, behandeln ihren Bruder mit grausamer Strenge. Verirrungen, die durch Unwissenheit, Gedankenlosigkeit oder Schwachheit entstanden sind, werden zu absichtlichen und mutwilligen Sünden aufgebauscht. Irrt jemand vom rechten Wege ab, dann schlagen manche die Hände zusammen und sprechen: "Ich habe es ja gesagt! Ich wußte es ja, daß man sich auf sie nicht verlassen konnte!" Sie verhalten sich also wie Satan. Sie frohlocken innerlich, weil sich ihr böser Argwohn als berechtigt erwiesen hat.

Wir müssen damit rechnen, bei jungen und unerfahrenen Gliedern der Gemeinde große Unvollkommenheiten zu finden und sie darin zu tragen. Christus hat uns geboten, ihnen mit demütigem Geist zurechtzuhelfen; er wird uns zur Verantwortung ziehen, wenn wir einen Weg einschlagen, der sie in Entmutigung, Verzweiflung und ins Verderben treibt. Wenn wir nicht täglich die kostbare Pflanze der Liebe pflegen, stehen wir in Gefahr, engherzig, gefühllos und tadelsüchtig zu werden, in Frömmelei zu verfallen und uns selbst für gerecht zu halten, während wir weit davon entfernt sind, Gott zu gefallen. Gar manche sind unhöflich, schroff und barsch. Sie gleichen stacheligen Kastanienschalen und stechen, sobald man sie berührt. Solche Menschen richten unübersehbaren Schaden an, indem sie den liebenden Heiland verzerrt darstellen.

Wir müssen zu einem höheren christlichen Verhalten kommen, sonst sind wir unwürdig, den Namen Christi zu tragen. Wir sollten den Geist pflegen, in dem Christus sich mühte, Irrende zu retten. Sie sind ihm ebenso lieb wie wir. Sie können ebenso Siegeszeichen seiner Gnade und Erben seines Reiches werden. Aber sie sind den Fallstricken eines verschlagenen Feindes, Gefahren und Besudelungen ausgesetzt und gehen ohne die bewahrende Gnade Christi dem sicheren Verderben entgegen. Könnten wir das im rechten Lichte sehen, wie sehr würde dann unser Eifer belebt werden! Mit wieviel mehr Ernst und Aufopferung würden wir uns dann bemühen, all jenen nahezukommen, die unsres Beistandes, unsrer Gebete, unsres Mitgefühls und unsrer Liebe bedürfen!

Selbstloses Wirken für andere

Mögen alle, die in diesem Werk nachlässig waren, ihre Pflicht im Lichte des schwerwiegenden Gebotes sehen: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Matthäus 19,19. Diese Verpflichtung ruht auf jedem. Alle sollen arbeiten, um bei ihren Mitmenschen das Böse zu mindern und den Segen zu mehren. Sind wir stark, der Versuchung zu widerstehen, dann ist unsere Pflicht um so größer, denen zu helfen, die schwach sind und der Versuchung erliegen. Haben wir Erkenntnis, dann sollen wir die Unwissenden belehren. Hat Gott uns mit irdischen Gütern gesegnet, dann sollen wir die Armen unterstützen. Wir müssen für das Wohl anderer Menschen wirken. Wer in unserem Einflußbereich lebt, soll an unsern Gütern teilhaben. Wer vom Lebensbrot genießt, sollte es an die austeilen, unter denen er lebt.

Nur der lebt für Christus und ehrt seinen Namen, der seinem Meister gleich das Verlorene zu retten trachtet. Echte Frömmigkeit wird sicher ein starkes Verlangen und ein ernstes Bemühen zeitigen, wie es der gekreuzigte Heiland bewies, um die zu retten, für die er starb. Wenn wir von der Gnade Christi erfüllt sind und milder werden, wenn uns die Güte und Liebe Gottes erwärmen, dann werden ganz natürlich Liebe, Mitgefühl und Milde für andere ausströmen. Die im Leben betätigte Wahrheit wird, dem verborgenen Sauerteig gleich, ihre Macht auf alle ausüben, mit denen sie in Berührung kommt.

Gott hat bestimmt, daß wir, um in der Gnade und Erkenntnis Christi zu wachsen, seinem Beispiel folgen und so wirken sollen, wie er es tat. Es wird oft Mühe kosten, unsere Gefühle zu beherrschen und nicht so zu sprechen, daß wir Menschen, die versucht werden, entmutigen. Ein Leben des täglichen Gebets und des Dankes, ein Leben, das den Pfad anderer erleuchtet, kann nur bei ernstem Bemühen geführt werden. Aber solche Mühewaltung wird kostbare Frucht bringen und nicht nur dem Empfänger, sondern auch dem Geber zum Segen werden.

Der Geist selbstloser Arbeit für andere verleiht unserm Wesen Tiefe, Beständigkeit und eine Freundlichkeit, wie Christus sie besaß; er schenkt seinem Besitzer Friede und Glück. Das Trachten wird veredelt. Es bleibt kein Raum für Trägheit und Selbstsucht. Wer die christlichen Tugenden betätigt, wird wachsen. In geistlicher Hinsicht wird er Sehnen und Muskeln haben und im Wirken für Gott stark sein. Er wird klare geistliche Begriffe, einen standhaften, wachsenden Glauben und überlegene Macht im Gebet besitzen. Wer über Seelen wacht und sich völlig der Rettung von Irrenden widmet, schafft am sichersten für sein eigenes Heil.

Aber wie sehr ist diese Arbeit vernachlässigt worden! Glaubt ihr, daß man, wie es der Fall war, irrende und von Satan versuchte Seelen so leichtfertig und gefühllos hätte fallen lassen, wenn man Denken und Fühlen gänzlich Gott geweiht hätte? Hätte man sich nicht in der Liebe und Demut Christi mehr gemüht, um solche auf den Irrweg Geratenen zu retten? Wer sich in Wahrheit Gott geweiht hat, wird sich mit größtem Eifer an dem Werk beteiligen, für das Christus das meiste getan hat, für das er ein unermeßliches Opfer darbrachte -- am Werk der Seelenrettung. Besonders dieses Werk sollte man pflegen und unterstützen und darin nie nachlassen.

Atmet Himmelsluft

Gott fordert sein Volk auf, sich aufzumachen und die kalte, frostige Atmosphäre, in der es lebt, zu verlassen; es soll die Eindrücke und Vorstellungen abschütteln, die den Trieb zur Liebe erstarren ließen und es in selbstsüchtiger Untätigkeit gefangenhielten. Gott gebietet seinen Kindern, sich über das Niedrige und Irdische zu erheben und die klare, sonnige Luft des Himmels zu atmen.

Unsere Gottesdienste sollten heilige und köstliche Stunden sein. Die Gebetsversammlung sollte nicht dazu dienen, daß Brüder sich gegenseitig tadeln und verdammen oder daß unfreundliche Gefühle geäußert und harte Worte gesprochen werden. Wo ein solcher Geist herrscht, wird Christus aus der Versammlung getrieben, und Satan tritt ein und reißt die Führung an sich. Nichts, was einen unchristlichen und lieblosen Geist verrät, darf dort Eingang finden; versammeln wir uns denn nicht, um Gnade und Vergebung bei dem Herrn zu suchen? Der Heiland hat deutlich gesagt: "Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden." Matthäus 7,2. Wer kann vor Gott stehen und sich auf einen fehlerfreien Charakter und ein makelloses Leben berufen? Wie kann dann jemand es wagen, seine Brüder zu kritisieren und zu verurteilen? Wer für sich selbst nur durch das Verdienst Christi auf Erlösung hoffen kann und selbst kraft des Blutes Christi um Vergebung bitten muß, steht unter der stärksten Verpflichtung, seinen Mitschuldigen Liebe, Barmherzigkeit und Vergebung zu erweisen.

Liebe Brüder, wenn ihr euch nicht dazu erzieht, den Ort der Anbetung zu achten, werdet ihr keinen Segen von Gott empfangen. Der Form nach mögt ihr ihn anbeten, dennoch wird es kein Gottesdienst sein. Jesus sagt: "Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." Matthäus 18,20. Jeder sollte fühlen, daß er sich in der Gegenwart Gottes befindet; anstatt sich mit den Fehlern und Irrtümern anderer zu beschäftigen, sollte er mit Fleiß sein eigenes Herz erforschen. Wenn ihr eigene Sünden zu bekennen habt, dann tut eure Pflicht, und überlaßt es anderen, die ihre zu tun.

Frönt ihr der Härte eures eigenen Charakters und offenbart ihr einen strengen, mitleidlosen Geist, so stoßt ihr gerade die zurück, die ihr gewinnen solltet. Eure Härte vernichtet ihre Liebe zur Teilnahme an Versammlungen und hat nur allzuoft zur Folge, daß sie sich von der Wahrheit abwenden. Ihr solltet erkennen, daß ihr selbst unter dem Mißfallen Gottes steht. Während ihr andere verurteilt, spricht Gott euch schuldig. Es obliegt euch, euren eigenen unchristlichen Wandel zu bekennen. Möge der Herr die Herzen der einzelnen Gemeindeglieder bewegen, bis sich seine umgestaltende Gnade in deren Leben und Wesen offenbart. Wenn ihr dann zu den Versammlungen kommt, werdet ihr nicht mehr Kritik aneinander üben, sondern von Jesus und seiner Liebe sprechen.

Unsere Versammlungen sollten so gestaltet werden, daß sie jeden fesseln. Der Geist des Himmels sollte sie durchwehen. Haltet keine langen, trockenen Reden und sprecht keine förmlichen Gebete, nur um die Zeit zu füllen. Alle sollten das ihrige pünktlich verrichten; wenn ihre Pflicht erfüllt ist, sollte man die Versammlung schließen. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit bis zum letzten Augenblick wachgehalten. So bringt man Gott einen angenehmen Gottesdienst dar. Der Gottesdienst sollte interessant und anziehend gestaltet werden und nicht in einer trockenen Form erstarren. Wir müssen Minute für Minute, Stunde für Stunde und Tag für Tag für Christus leben; dann wird er in uns wohnen, und wenn wir uns versammeln, wird seine Liebe unsere Herzen erfüllen und wie eine Quelle in der Wüste hervorbrechen, die alle erquickt und die in allen, die am Verschmachten sind, das Verlangen weckt, vom Wasser des Lebens zu trinken.

Wir dürfen uns nicht auf zwei oder drei Glieder verlassen, damit sie die Arbeit für die ganze Gemeinde leisten. Ein jeder muß für sich selbst einen starken und tätigen Glauben haben und in dem Werk, das Gott uns übertragen hat, mitarbeiten. Mit inniger, lebendiger Anteilnahme sollen wir Gott fragen: "Was willst du, daß ich tun soll? Wie soll ich meine Arbeit für Zeit und Ewigkeit verrichten?" Ein jeder muß für sich alle Kräfte einsetzen, nach der Wahrheit zu suchen, und alle erreichbaren Möglichkeiten ausnützen, die ihm beim fleißigen und andächtigen Studium der Schrift helfen können. Und dann müssen wir durch die Wahrheit geheiligt werden, um Seelen retten zu können.

Vermeidet üble Nachrede

In jeder Gemeinde sollte man ernst darauf bedacht sein, üble Nachrede und den Geist der Tadelsucht abzulegen. Sie gehören zu den Sünden, aus denen die größten Übel in der Gemeinde entstehen. Härte und Tadelsucht müssen als das Werk Satans gerügt werden. Die Glieder der Gemeinde müssen zu gegenseitiger Liebe und zu gegenseitigem Vertrauen ermutigt und gestärkt werden. Mögen doch alle in der Furcht Gottes und aus Liebe zu ihren Brüdern ihre Ohren vor Klatscherei und Kritik verschließen! Verweist den Zuträger auf die Lehren des Wortes Gottes. Gebietet ihm, der Schrift zu gehorchen und mit seinen Klagen direkt zu dem zu gehen, den er im Irrtum glaubt. Ein gemeinsames Handeln solcher Art würde eine Fülle des Lichts in die Gemeinde bringen und einer Flut des Bösen die Tür verschließen. Dies würde Gott verherrlichen und viele Seelen retten.

Die Mahnung des treuen Zeugen an die Gemeinde zu Sardes lautet: "Du hast den Namen, daß du lebest, und bist tot. Werde wach und stärke das andere, das sterben will; denn ich habe deine Werke nicht völlig erfunden vor Gott. So gedenke nun, wie du empfangen und gehört hast, und halte es und tue Buße." Offenbarung 3,1-3. Die Sünde, die dieser Gemeinde insbesondere zur Last gelegt wird, ist, daß sie das andere, das sterben will, nicht stärkt. Gilt diese Warnung auch uns? Möge jeder sein Herz im Lichte des Wortes Gottes prüfen. Möge es unser Hauptanliegen sein, mit dem Beistande Christi in unseren eigenen Herzen Ordnung zu schaffen.

Mitarbeit der Gemeindeglieder

In dem Werk zur Rettung von Menschen hat Gott sein Teil getan; jetzt ruft er die Gemeinde zur Mitarbeit auf. Das Blut Christi, das Wort der Wahrheit und der Heilige Geist stehen auf der einen Seite, dem Verderben geweihte Seelen auf der andern. Jeder Nachfolger Christi hat seinen Teil zu tun, Menschen zu bewegen, daß sie die Segnungen des Himmels annehmen. Möge ein jeder sich prüfen und sehen, ob er diese Arbeit getan hat. Laßt uns unsere Beweggründe und jede Tat unseres Lebens prüfen. Hängen nicht viele unerfreuliche Bilder in den Hallen des Gedächtnisses? Oft bedurftet ihr der Vergebung Jesu. Immerwährend wart ihr auf sein Erbarmen und auf seine Liebe angewiesen. Habt ihr es nicht trotzdem versäumt, anderen gegenüber den Geist an den Tag zu legen, den Christus euch gegenüber walten ließ? Habt ihr für den, der sich auf verbotene Wege wagte, eine Last gefühlt? Habt ihr ihn in Freundlichkeit ermahnt? Habt ihr seinetwegen geweint und mit ihm, aber auch für ihn gebetet? Habt ihr ihm durch milde Worte und freundliches Handeln gezeigt, daß ihr ihn liebt und ihn retten möchtet? Wenn ihr mit Menschen zusammenkamt, die unter der Last einer willensschwachen Veranlagung oder einer verkehrten Gewohnheit schwankten und strauchelten, habt ihr sie dann allein kämpfen lassen, wenn ihr ihnen hättet beistehen können? Habt ihr nicht um solche schwer Versuchte einen Bogen gemacht, während die Welt bereit war, sich ihrer anzunehmen und sie in Satans Garn zu locken? Seid ihr nicht gleich Kain bereit gewesen zu sagen: "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" 1.Mose 4,9. Wie muß das hohe Haupt der Gemeinde dein Lebenswerk beurteilen? Wie wird er, dem jede durch sein Blut erkaufte Seele kostbar ist, deine Gleichgültigkeit gegenüber Menschen ansehen, die vom rechten Wege abirren? Fürchtest du nicht, daß er dich ebenso verlassen könnte, wie du jene? Du kannst sicher sein, daß er, der der treue Wächter über das Haus des Herrn ist, jedes Versäumnis aufgezeichnet hat.

Hast du nicht Christus und seine Liebe aus deinem Leben ausgeschlossen, bis ein bloßer Mechanismus an die Stelle des von Herzen kommenden Gottesdienstes getreten ist? Wo ist die Ergriffenheit deiner Seele, die du einst spürtest, wenn der Name Jesu genannt wurde? Wie innig war deine Liebe zu Seelen, als du dich ihm gerade geweiht hattest! Wie ernstlich warst du darauf bedacht, ihnen die Liebe des Heilandes darzustellen! Das Fehlen dieser Liebe ließ dich kalt, kritisch und übergenau werden. Suche sie wiederzufinden, und dann arbeite, um Seelen zu Christus zu führen. Weigerst du dich, dies zu tun, dann werden andere, die weniger Erkenntnis, weniger Erfahrung und weniger Gelegenheiten gehabt haben, kommen und deinen Platz einnehmen und das tun, was du versäumtest; das Werk zur Rettung der Versuchten, der Geprüften und der Umkommenden muß getan werden. Christus bietet der Gemeinde diesen Dienst an; wer ist bereit, ihn zu verrichten?

Gott hat die guten Taten der Gemeinde und ihre früheren Werke der Selbstverleugnung nicht vergessen. Sie alle sind oben eingetragen. Aber sie reichen nicht aus. Sie werden die Gemeinde nicht retten, wenn sie aufhört, ihren Auftrag zu erfüllen. Wenn die in der Vergangenheit gezeigte grobe Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit nicht aufhört, wird die Gemeinde weiter in den Zustand der Schwäche und des Formwesens absinken, statt an Kraft zuzunehmen. Dürfen wir dies zulassen? Soll die trostlose Erstarrung und das beklagenswerte Nachlassen in der Liebe und im geistlichen Eifer weiter bestehenbleiben? Soll Christus seine Gemeinde in einem solchen Zustande vorfinden?

Liebe Geschwister, eure eigenen Lampen werden mit Sicherheit flackern und dunkel werden, bis sie in der Finsternis ganz verlöschen, wenn ihr euch nicht mit Entschiedenheit zu bessern trachtet. "Gedenke, wovon du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke." Es kann sein, daß die jetzt gebotene Gelegenheit nur kurz ist. Wer diese Zeit der Gnade und Buße ungenutzt läßt, dem gilt die Warnung: "Wo aber nicht, werde ich dir bald kommen und deinen Leuchter wegstoßen von seiner Stätte." Offenbarung 2,5. Diese Worte kommen von den Lippen dessen, der langmütig und geduldig ist. Sie enthalten eine ernste Mahnung an Gemeinden und an Einzelglieder, daß der Wächter der weder schläft noch schlummert, ihr Handeln beobachtet. Nur seine unbegreifliche Geduld hat sie davor bewahrt, abgehauen zu werden, weil sie das Land hindern. Aber sein Geist wird sich nicht immer mühen. Seine Geduld währt nur noch kurze Zeit.

Erneuerung der ersten Liebe

Euer Glaube muß mehr als bisher wachsen, sonst werdet ihr gewogen und zu leicht erfunden. Am Jüngsten Tage wird die letzte Entscheidung des Richters über die ganze Erde von unserer Sorge für die Bedürftigen, die Unterdrückten und Versuchten sowie von unserer Arbeit für sie abhängen. Ihr könnt nicht immerfort an ihnen vorübergehen und selbst als erlöste Sünder Einlaß in die Stadt Gottes finden. Christus spricht: "Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan." Matthäus 25,45.

Noch ist es nicht zu spät, die Versäumnisse der Vergangenheit gutzumachen. Möchte es doch zu einer Neubelebung der ersten Liebe und des ersten Eifers kommen! Sucht die zu finden, die ihr fortgetrieben habt, verbindet durch freimütiges Bekenntnis die Wunden, die ihr geschlagen habt. Naht euch dem allumfassenden Herzen der erbarmenden Liebe und laßt den Strom jenes göttlichen Mitleids in euer Herz und von euch in die Herzen anderer fließen. Laßt die Milde und die Barmherzigkeit, die Christus in seinem wunderbaren Leben offenbarte, uns als Vorbild dafür dienen, wie wir unsere Mitmenschen und besonders solche, die unsere Geschwister in Christus geworden sind, behandeln sollen. Vielen, die in dem schweren Lebenskampf zusammengebrochen und mutlos geworden sind, hätte ein freundliches Wort der Ermutigung Kraft zum Überwinden gegeben. Nie und nimmer dürft ihr herzlos, kalt, gefühllos und tadelsüchtig werden. Versäumt niemals eine Gelegenheit, ein Wort zur Ermutigung zu sprechen und Hoffnung einzuflößen. Wir können nicht sagen, wieweit ein freundliches Wort oder unser von der Gesinnung Christi getragenes Bemühen, Lasten zu erleichtern, reichen mag. Irrende können auf keine andere Weise zurückgeführt werden als durch den Geist der Sanftmut, der Milde und der feinfühligen Liebe.

Gott hat in seiner Gemeinde wertvolle Menschen; es gibt dort aber auch Männer und Frauen, die nur Unkraut unter dem Weizen sind. Doch gibt der Herr weder dir noch sonst jemand den Auftrag zu sagen, wer nun zum Unkraut und wer zum Weizen gehört. Wir sehen und verurteilen vielleicht die Fehler anderer und haben dabei selbst noch größere Fehler, über die wir uns nie klargeworden sind, die aber von anderen sehr deutlich wahrgenommen werden. Testimonies for the Church V, 333.334 (1885).

Gott sieht nicht alle Sünden als gleich schwer an; wie im begrenzten Urteil von Menschen, so gibt es auch in Gottes Urteil Abstufungen der Schuld. Aber wie unbedeutend irgendein Unrecht Menschen auch vorkommen mag, in den Augen Gottes ist keine Sünde gering. Sünden, die der Mensch als gering anzusehen geneigt ist, können gerade zu denen gehören, die Gott zu den schweren Vergehen rechnet. Einen Trinker verachtet man. Es heißt, daß seine Sünde ihn aus dem Himmel ausschließt. Aber Stolz, Selbstsucht und Geiz rügt man nicht. Und doch beleidigen gerade diese Sünden Gott in besonderer Weise. Er "widersteht den Hoffärtigen", und Paulus sagt uns, daß Geiz Abgötterei ist. Wer mit den Drohungen des Wortes Gottes gegen die Abgötterei vertraut ist, wird auf einmal erkennen, eine wie schwere Sünde dies ist. Testimonies for the Church V, 337 (1885).