Aus der Schatzkammer der Zeugnisse -- Band 2

Kapitel 46

Das Wort ward Fleisch

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Die Vereinigung der göttlichen mit der menschlichen Natur ist eine der köstlichsten und geheimnisvollsten Wahrheiten des Erlösungsplanes. Davon spricht Paulus mit folgenden Worten: "Kündlich groß ist das gottselige Geheimnis: Gott ist offenbart im Fleisch." 1.Timotheus 3,16.

Diese Wahrheit ist für viele eine Ursache zum Zweifel und zum Unglauben geworden. Als Christus, der Sohn Gottes und zugleich der Menschensohn, in die Welt kam, wurde er von dem Volk seiner Zeit nicht verstanden. Christus erniedrigte sich so weit, daß er die menschliche Natur annahm, um gefallene Menschen zu erreichen und emporzuziehen. Doch die Sinne der Menschen waren durch die Sünde verfinstert, ihre Fähigkeiten gelähmt und ihr Auffassungsvermögen abgestumpft, so daß sie unter dem Gewand der Menschlichkeit sein göttliches Wesen nicht erkennen konnten. Dieser ihnen anhaftende Mangel an Verständnis hinderte das Werk, das er für sie vollbringen wollte; und um seinen Lehren Nachdruck zu verleihen, sah er sich oftmals gezwungen, seine Stellung zu erklären und zu verteidigen. Dadurch, daß er auf das Geheimnisvolle und Göttliche seines Wesens hinwies, suchte er ihre Gedanken in eine Bahn zu leiten, die der umgestaltenden Kraft der Wahrheit dienlich war.

Um göttliche Wahrheiten zu veranschaulichen, benutzte er Bilder aus der Natur, mit denen sie vertraut waren. So wurde der Herzensboden vorbereitet, guten Samen zu empfangen. Jesus ließ seine Zuhörer fühlen, daß seine Bedürfnisse dieselben waren wie die ihren und daß er ihre Freuden und ihren Kummer mitempfand. Zur gleichen Zeit sahen sie ihn eine Hoheit und Kraft offenbaren, die die ihrer geachtetsten Rabbiner weit übertraf. Die Lehren Christi zeichneten sich durch eine Einfachheit, Würde und Kraft aus, die ihnen bis dahin unbekannt war. Unwillkürlich riefen sie aus: "Es hat nie ein Mensch also geredet wie dieser Mensch." Johannes 7,46. Das Volk lauschte ihm gern. Aber die Priester und Machthaber, die ihrem Amt als Hüter der Wahrheit untreu waren, haßten Christus um der von ihm geoffenbarten Gnade willen, die die Menge von ihnen abzog und sie dem Licht des Lebens folgen ließ. Ihr Einfluß hinderte die jüdische Nation daran, den göttlichen Charakter des Erlösers zu erkennen, so daß sie ihn verwarf.

Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem

Die Vereinigung des Göttlichen mit dem Menschlichen, die sich in Christus offenbart, findet sich auch in der Bibel. Die in ihr offenbarten Wahrheiten sind alle "von Gott eingegeben". 2.Timotheus 3,16. Und doch sind sie in menschliche Worte gekleidet und menschlichen Bedürfnissen angeglichen. So kann vom Buche Gottes dasselbe gesagt werden wie von Christus: "Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns." Johannes 1,14. Diese Tatsache ist weit davon entfernt, ein Beweis gegen die Bibel zu sein. Sie sollte vielmehr unseren Glauben an die Bibel als das Wort Gottes stärken. Wer sich über die Eingebung der Schrift so äußert, daß er einige Teile als göttlich annimmt und andere als menschlich zurückweist, übersieht, daß Christus, der Göttliche, unsere menschliche Natur annahm, um die Menschheit zu erreichen. In Gottes Wirken zur Erlösung des Menschen verbindet sich Göttliches mit dem Menschlichen.

Es gibt viele Schriftabschnitte, die von zweifelnden Kritikern als nicht von Gott eingegeben bezeichnet wurden, die aber in Wirklichkeit, dem Bedürfnis des Menschen fein angepaßt, Gottesbotschaften zum Trost seiner auf ihn trauenden Kinder sind. Eine gute Veranschaulichung hierzu findet sich in der Geschichte des Apostels Petrus. Er lag im Gefängnis und erwartete, am nächsten Tage hingerichtet zu werden. "In derselben Nacht schlief Petrus zwischen zwei Kriegsknechten, gebunden mit zwei Ketten, und die Hüter vor der Tür hüteten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam daher. Und ein Licht schien in dem Gemach; und er schlug Petrus an die Seite und weckte ihn und sprach: Stehe behende auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen." Apostelgeschichte 12,6.7. Der so plötzlich erwachende Petrus war erstaunt über die Lichtfülle, die sein Kerkerverlies durchflutete, und über die himmlische Schönheit des Gottesboten. Er verstand nicht, was das bedeuten sollte, aber er wußte, daß er nun frei war. In seiner Bestürzung und Freude wäre er ohne Schutz gegen die kalte Nachtluft aus dem Gefängnis fortgeeilt. Der Engel Gottes sah das alles und sprach voller Sorge um das Wohl des Apostels: "Gürte dich und tu deine Schuhe an!" Vers 8. Petrus gehorchte mechanisch, war jedoch von der Offenbarung der himmlischen Herrlichkeit so benommen, daß er nicht daran dachte, seinen Mantel zu nehmen. Darauf gebot der Engel ihm: "Wirf deinen Mantel um dich und folge mir nach! Und er ging hinaus und folgte ihm und wußte nicht, daß ihm wahrhaftig solches geschähe durch den Engel; sondern es deuchte ihn, er sähe ein Gesicht. Sie gingen aber durch die erste und andere Hut und kamen zu der eisernen Tür, welche zur Stadt führt; die tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen hin eine Gasse lang; und alsobald schied der Engel von ihm." Verse 8-10. Nun befand sich der Apostel allein in den Straßen Jerusalems. "Da Petrus zu sich selber kam, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig" -- es war kein Traum oder Gesicht, sondern Wirklichkeit --, "daß der Herr seinen Engel gesandt und mich errettet aus der Hand des Herodes und von allem Warten des jüdischen Volkes." Vers 11.

Zweifler mögen bei dem Gedanken lächeln, daß ein herrlicher Engel Gottes auf so alltägliche Dinge wie diese einfachen menschlichen Bedürfnisse achthaben sollte, und darum die göttliche Eingebung dieser Erzählung in Frage stellen. Aber durch die Weisheit Gottes ist dies in der Heiligen Schrift aufgezeichnet, nicht zum Wohle von Engeln, sondern zum Wohle von Menschen, damit sie in der Gewißheit, daß der Herr alles weiß, Trost finden mögen, wenn sie in eine schwierige Lage kommen sollten.

Jesus erklärte seinen Jüngern, daß nicht ein Sperling zur Erde fällt, ohne daß unser himmlischer Vater es wahrnimmt; wenn Gott auf die Bedürfnisse aller kleinen Vögel in der Luft achthat, wieviel mehr wird er für die sorgen, die Untertanen seines Reiches und durch den Glauben an ihn Erben des ewigen Lebens werden können! O wenn doch der menschliche Geist den Erlösungsplan verstehen wollte -- soweit begrenztes Denken ihn zu fassen vermag --, daß Jesus die menschliche Natur annahm und was er durch diese wunderbare Selbsterniedrigung für uns bewirken wollte, dann würden die Herzen der Menschen von Dankbarkeit für Gottes große Liebe überfließen und in Demut die Weisheit Gottes anbeten, der das Geheimnis der Gnade ersann!